London hat zwei Nächte
mit Ausschreitungen hinter sich, 40 Polizisten sind verletzt, über 100 Menschen festgenommen,
Häuser in den Stadtteilen Tottenham, Walthamstow und Brixton brannten ab und unzählige
Geschäfte wurden geplündert. Politiker und Beobachter zeigen sich geschockt von der
Plötzlichkeit und Heftigkeit der Ausschreitungen. Unser Redaktionsleiter Pater Bernd
Hagenkord befindet sich zur Zeit in London. Frage an Pater Hagenkord: Was ist genau
passiert?
„Daran arbeiten sich die Kommentatoren und Analisten im Augenblick
ab. Was sicher ist, dass es mit einem friedlichen Protest begonnen hat. Freunde und
Verwandte eines Mannes, der bei einer Routinekontrolle getötet worden war, wollten
durch ihre Proteste erreichen, dass die Polizei ihnen sagt, was genau passiert ist. Augenzeugen
berichten, dass diese Proteste in der Nacht zum Sonntag plötzlich umgeschlagen sind,
aus Protest wurde Ausschreitung. Geschäfte wurden angezündet, Vermummte haben Steine
und mit Benzin gefüllte Flaschen geworfen und wohl auch gezielt Polizisten attackiert,
jedenfalls wird das berichtet. So traurig das ist: Die zweite Nacht waren
es überhaupt keine Proteste mehr, sondern nur noch Randalierer, und wie auch schon
gegen Ende der ersten Nacht ging es denen wohl mindestens so sehr um das Plündern
von Geschäften wie um ihre Wut gegen die Polizei. Allein wenn man sich den Stadtplan
von London anschaut, fällt auf, wie weit gestreut das alles war: Man verabredete sich
über das Internet und nahm die Proteste zum Anlass, Gewalt auszuüben.“
Das alles kam völlig überraschend, mindestens für die Beobachter von außen. Gibt
es denn in Großbritannien so viel Unzufriedenheit und soziale Unruhe, dass solche
Ausschreitungen so plötzlich entstehen können?
„Man spricht hier viel
von einer Parallele zu den Unruhen der 80er Jahre. Damals gab es schon einmal solche
Unruhen, auch Ausschreitungen, damals auch schon in Brixton und Tottenham. Seitdem
ist viel getan worden, um das Verhältnis des Staates zu den Menschen in diesen Stadtteilen
zu verbessern. Aber offensichtlich lagen unter der Oberfläche die Nerven immer noch
blank. Alle Kommentatoren hier sind entsetzt, wie schnell die Gewaltbereitschaft plötzlich
wieder da war. Natürlich haben auch Trittbrettfahrer davon profitiert. Aber man läge
völlig falsch, das alles jetzt als rein kriminelle Akte abzutun. Darin zeigen sich
eben auch Risse in der Gesellschaft.“
Also kann man es doch auch als
soziale Unruhen sehen, jedenfalls was die Auslöser oder das Fundament angeht?
„Das ist kaum zu trennen, auch nicht in den Menschen selbst. Mir kommen beim
Blick auf die Straßen von Brixton, wo ich mich im Augenblick befinde und wo etwa 200
Jugendliche sich in der vergangenen Nacht Straßenschlachten mit der Polizei lieferten,
vor allem wieder Bilder von Paris hoch, von brennenden Autos in der Banlieu 2008.
Auch das war eine gefährliche Mischung von allen möglichen Motiven, sozialen, ökonomischen,
psychologischen, und so weiter. Hier kann man auch am Tag danach noch die
Wut spüren, die hier zur Gewalt wurde und mit der sich einige abreagieren. Hier in
London drücken es viele Beobachter so aus: Die Menschen fühlen sich entrechtet, die
Polizei wird nicht als an ihrer Seite stehend wahrgenommen, ihre sozialen Einrichtungen
werden weggekürzt und in den Entscheidungsprozessen der Politik sehen sie sich nicht
repräsentiert. Der Wiederaufbau von Tottenham, Brixton und Walthamstow wird länger
dauern als das Aufräumen nach den Unruhen, so viel ist sicher.“