Nicht der Euro steckt
in der Krise, sondern die europäische Politik. Der Euro fällt nicht in ein Schuldenloch,
sondern in ein Loch der politischen Verantwortungslosigkeit. So resümiert der Wirtschaftsethiker
Wolf-Gero Reichert die aktuelle Lage in der Eurozone. Es fehle am politischen Willen,
den Euro als Teil der Vision eines geeinten Europas zu erhalten. Reichert ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik der Jesuiten-Hochschule
St. Georgen. Birgit Pottler hat mit ihm gesprochen.
Vision nicht
mehr im Blick
„Die Situation, die wir im Moment in Europa erleben,
ist die, dass wir nicht genug politischen Willen aufbringen, den Euro als politisches
Projekt zu retten.“
Die Vision eines geeinten und friedlichen Europa stehe
nicht mehr im Mittelpunkt der politischen Debatte. Vielmehr ginge es um technische
und wirtschaftspolitische Fragen, die im Detail ihre Berechtigung hätten, meint Reichert.
„Aber
von Anfang an war die Europäische Union, waren der europäische Einigungsprozess und
auch der Euro als Währungsraum politische Projekte, wo oft gegen wirtschaftswissenschaftliche
Ratschläge der Wille da war, es zu versuchen und den Weg gemeinsam in eine gemeinsame
Zukunft zu gehen. Wir müssen uns nur erinnern: Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die
Herausforderungen mit Sicherheit sehr viel größer, als sie derzeit erscheinen, und
trotzdem war der politische Wille da, diesen Weg zu gehen. Der fehlt derzeit in Europa.“
„Mentalität
der schwäbischen Hausfrau“
Strenge Sparpakete für einzelne Länder retteten
weder den Euro noch die europäische Gemeinschaft. In den Augen des Wirtschaftsethikers
sind das „kurzfristig gedachte Schnellschüsse“.
„Das ist die Logik einer
schwäbischen Hausfrau, die schaut, dass ihr Budget für den Moment ausgeglichen ist.
Das kann ein einzelnes Unternehmen machen, das kann ein Haushalt machen, aber nicht
ein Staat.“
Ständige Kürzungsrunden schadeten vielmehr zusätzlich. In Griechenland
etwa breche die volkswirtschaftliche Nachfrage weg. Reichert:
„Das ist
für das Wachstum einer Volkswirtschaft fatal, weil die Unternehmen nicht mehr die
Aussicht haben, dass sie ihre Produkte dauerhaft absetzen werden können. Sie werden
sich davor hüten zu investieren, Personal einzustellen und so weiter. Das verstärkt
die Tendenz, dass es langfristig weniger Steuereinnahmen gibt. Das verstärkt die Tendenz,
dass Griechenland immer weitere Defizite aufhäuft. Meines Erachtens ist dieser Weg
der direkte Weg in eine dauerhafte Schuldenkrise, die weiter ausgreift auf andere
Länder.“
Abwärtsspirale für alle
Die Rezession und
der Zahlungsausfall in Griechenland bedeuteten noch nicht das große Problem für die
starken Volkswirtschaften in Europa. Anders im Fall Italien: Wenn auch die drittgrößte
unter Europas Volkswirtschaften in den Schuldensog geraten würde, die Nachfrage und
damit der Import ausfallen würden, wären andere Länder – auch Deutschland als ehemals
Welt-, derzeit immerhin noch Europa-Exportmeister – unmittelbar betroffen.
„Wir
könnten uns, wenn wir Pech haben, alle gemeinsam in eine Abwärtsspirale hineinmanövrieren.“
Der
Wirtschaftsethiker ist weit entfernt von Panikmache. Er erinnert lediglich an das
– wie er es nennt – „politische Verantwortungsloch“ und an die europäische Solidarität.
„Derzeit suchen wir nicht gemeinsam nach Lösungen, sondern schieben die
Probleme auf die einzelnen Staaten ab, und lassen die strukturellen Hintergründe dieser
Krise außer Acht.“
Griechenland: „Strukturen der Sünde“
Wer
hat also Schuld an der derzeitigen Situation? Die Europapolitiker? Die Schuldenmacher
selbst? Haben die Staaten über ihre Verhältnisse gelebt? Wolf-Gero Reichert antwortet
ganz auf der Linie des Namensgebers des Instituts in St. Georgen: Oswald von Nell-Breuning,
Ökonom und Nestor der katholischen Soziallehre:
„In der deutschen Öffentlichkeit
überwiegen ganz klar diese individualisierenden Deutungsmuster: Die faulen Griechen
und deren lasche Finanzpolitiker tragen Schuld an dieser Krise. Aber es gibt manchmal
Situationen, wo volkswirtschaftliche Wechselwirkungen so stark sind, dass sich auch
Politiker schwer dagegen stemmen können, v.a. wenn sie aus kleineren Ländern kommen
wie Griechenland.“
…und das Märchen von den „faulen Griechen“
Reicherts
Zwischenruf: Volkswirtschaftlich betrachtet ist Griechenland kleiner als manches deutsche
Bundesland.
„Da kann man mit Johannes Paul II. schon von ,Strukturen der
Sünde‘ sprechen. Wir hatten mit der Einführung des Euro einen Doppeleffekt für diese
Länder: Die Aufnahme von Schulden war plötzlich unheimlich billig, und zugleich konnten
sie wettbewerbstechnisch nicht mehr mit den großen Volkswirtschaften mithalten. Länder
wie Griechenland oder auch Portugal wurden strukturell in eine Situation gedrängt,
wo sie Leistungsbilanzdefizite in Kauf nehmen mussten. Da ist wenig dran an dieser
großen Geschichte, dass es die faulen Griechen wären.“
Ein weiterer scheinbarer
Sündenbock: die Ratingagenturen, private, gewinnorientierte Unternehmen, die die Kreditwürdigkeit
von Unternehmen und Staaten prüfen. Für Reichert spielen sie „in der Tat“ eine sehr
unglückliche Rolle in der derzeitigen Krise:
„Zuerst veröffentlichen sie
falsche Einschätzungen, Bonitätsbewertungen. Und dann, wenn es viel zu spät ist, korrigieren
sie diese überhastet, oder viel zu schnell, oder viel zu drastisch. Meines Erachtens
sieht Kompetenz ganz anders aus.“
Ratingagenturen: mehr Schein als
Sein
Doch der Vorschlag, die großen US-amerikanischen Ratingagenturen
zu zerschlagen, oder eine eigene europäische zu gründen, setze falsch an.
„Auch
hier haben wir letztlich einen politischen Konstruktionsfehler.“
Die Politik
habe die privaten Ratingagenturen ja erst zu halböffentlichen Institutionen aufgewertet
und ihnen so diese große Bedeutung verschafft.
„Eigentlich alle Banken,
alle Versicherungen, alle Investmentfonds, müssen die Bewertungen von Ratingagenturen
bei ihren Anlageentscheidungen gesetzlich beachten. Dadurch kommt diesen Bewertungen
ein viel größeres Gewicht zu, als sie als reine Informationsdienstleistung für den
Kapitalmarkt haben müssten. Die Regierungen haben ihre Verantwortung auf die Ratingagenturen
abgewälzt, aber diese sind strukturell überhaupt nicht in der Lage, dieser Verantwortung
gerecht zu werden. Mein Plädoyer wäre deswegen, nicht die Ratingagenturen zu zerschlagen,
sondern aus allen Reglements den Verweis auf die Ratingagenturen herauszustreichen.
Das ist einfach machbar, aber es braucht wiederum den politischen Willen dazu.“
„Zahlmeister
Deutschland?“ Weit gefehlt.
Reichert ist Ethiker. Keiner, der Allgemeinplätze
hinnimmt ohne sie zu hinterfragen.
„Es kursiert ja in Deutschland zumindest
immer wieder das Vorurteil, dass Deutschland zum Zahlmeister Europas wird. Dass wir
sämtliche Volkswirtschaften, sämtliche Länder mit den deutschen Steuergeldern stützen
müssten.“
Falsch. Eine „komplett verzerrte Wahrnehmung“. Deutschland zahlt
nicht, sondern garantiert.
„Wir verdienen letztlich Geld an der derzeitigen
Lösung. Deutschland nimmt über seine günstigen Kreditbedingungen für rund zweieinhalb
Prozent Geld auf den Kapitalmärkten auf und leiht es für vier, sechs Prozent an Länder
wie Portugal und Griechenland. Wir verdienen daran, dass die Griechen sich über den
Europäischen Rettungsfonds finanzieren. Wir verdienen daran, dass sie massive Sparmaßnahmen
fahren, um überhaupt diese Zahlungen aufrechterhalten zu können.“
Anders,
wenn alle Euroländer gemeinsam sich in die Abwärtsspirale manövrieren. Wie der Euro
nicht in ein Schuldenloch, sondern in ein Loch der politischen Verantwortungslosigkeit
fallen. Deutschland und Frankreich profitieren als Exportnationen am meisten vom Euro-Währungsraum.
Sie leben von hoher Nachfrage, von einer hohen Kaufkraft der Bevölkerungen, von starken
Volkswirtschaften. Sie müssen daran interessiert sein, die derzeitige Krise strukturell
anzugehen. Reichert:
„Letztlich zahlen wir mehr, wenn wir die derzeitige
rigide Sparpolitik fortsetzen. Eine Lösung geht nur in einer solidarischen Weise,
wenn sich die Regierungen gemeinsam entscheiden, eine Art europäischen Marshall-Plan
auf den Weg zu bringen. Wenn sie eine langfristige Lösung dieser Schuldenkrise suchen
und einen Weg finden, in dem wirtschaftliches Wachstum auch für die kleineren Länder
eine gangbare Alternative darstellt.“
Wieder Herr im eigenen Land
Griechenland,
Portugal, oder wer alles zu den vermeintlichen schwarzen Schafen gehört – die Länder
müssten am Ende von selbst wieder auf den Wachstumspfad einschwenken können, die Regierungen
wieder handlungsfähig sein.
„Es geht darum, dass wir demokratisch gewählte
Regierungen wieder in die Lage versetzen, die Handlungs- und Deutungshoheit über das
Geschehen in ihrem eigenen Land wieder zu erlangen.“
Ein Blick über den
großen Teich zeigt in den Augen des Wirtschaftsethikers zweierlei: Schulden gibt es
nicht nur in Europa. Doch Europa geht es nicht so schlecht, wie seine Politiker meinen.
Die US-amerikanische Debatte um die Zahlungsfähigkeit dort, die Lage einzelner Eurostaaten
hier sorge insgesamt für Verunsicherung auf den Kapitalmärkten.
„Die Investoren,
die Ratingagenturen, sämtliche Kapitalmarktakteure sind derzeit höchst verunsichert,
weil ihre Wertanker, der Euro und der Dollar, beide am Schwanken sind. Das verunsichert
und das lähmt langfristige Investitionstätigkeit.“
Beispiel USA:
einer für alle
Reichert glaubt an eine Lösung in den USA und sieht
keine Auswirkungen auf Europa. Aber er mahnt zum Vergleich. Fast klingt es wie die
Volksweisheit „einer für alle, alle für einen“, oder einfach wie: „11 Freunde müsst
ihr sein“. Oder 17. Oder 27:
„Die USA zahlen ungefähr so viele Zinsen wie
die Bundesrepublik Deutschland, sie haben selten so wenig Zinsen gezahlt wie derzeit,
obwohl sie von den Daten her höher verschuldet sind, als die Eurozone insgesamt. Aber
sie gelten trotz allem nicht als zahlungsausfallgefährdet, einzelne Bundesstaaten
schon, aber das belastet nicht die ganzen USA. Das zeigt, wie möglich doch eine Lösung
für den Euroraum wäre, wenn man sich politisch koordiniert.“