2011-07-21 13:18:08

Zwischenruf zur Eurokrise: „Strukturen der Sünde“


RealAudioMP3 Nicht der Euro steckt in der Krise, sondern die europäische Politik. Der Euro fällt nicht in ein Schuldenloch, sondern in ein Loch der politischen Verantwortungslosigkeit. So resümiert der Wirtschaftsethiker Wolf-Gero Reichert die aktuelle Lage in der Eurozone. Es fehle am politischen Willen, den Euro als Teil der Vision eines geeinten Europas zu erhalten. Reichert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik der Jesuiten-Hochschule St. Georgen. Birgit Pottler hat mit ihm gesprochen.


Vision nicht mehr im Blick

„Die Situation, die wir im Moment in Europa erleben, ist die, dass wir nicht genug politischen Willen aufbringen, den Euro als politisches Projekt zu retten.“

Die Vision eines geeinten und friedlichen Europa stehe nicht mehr im Mittelpunkt der politischen Debatte. Vielmehr ginge es um technische und wirtschaftspolitische Fragen, die im Detail ihre Berechtigung hätten, meint Reichert.

„Aber von Anfang an war die Europäische Union, waren der europäische Einigungsprozess und auch der Euro als Währungsraum politische Projekte, wo oft gegen wirtschaftswissenschaftliche Ratschläge der Wille da war, es zu versuchen und den Weg gemeinsam in eine gemeinsame Zukunft zu gehen. Wir müssen uns nur erinnern: Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Herausforderungen mit Sicherheit sehr viel größer, als sie derzeit erscheinen, und trotzdem war der politische Wille da, diesen Weg zu gehen. Der fehlt derzeit in Europa.“

„Mentalität der schwäbischen Hausfrau“

Strenge Sparpakete für einzelne Länder retteten weder den Euro noch die europäische Gemeinschaft. In den Augen des Wirtschaftsethikers sind das „kurzfristig gedachte Schnellschüsse“.

„Das ist die Logik einer schwäbischen Hausfrau, die schaut, dass ihr Budget für den Moment ausgeglichen ist. Das kann ein einzelnes Unternehmen machen, das kann ein Haushalt machen, aber nicht ein Staat.“

Ständige Kürzungsrunden schadeten vielmehr zusätzlich. In Griechenland etwa breche die volkswirtschaftliche Nachfrage weg. Reichert:

„Das ist für das Wachstum einer Volkswirtschaft fatal, weil die Unternehmen nicht mehr die Aussicht haben, dass sie ihre Produkte dauerhaft absetzen werden können. Sie werden sich davor hüten zu investieren, Personal einzustellen und so weiter. Das verstärkt die Tendenz, dass es langfristig weniger Steuereinnahmen gibt. Das verstärkt die Tendenz, dass Griechenland immer weitere Defizite aufhäuft. Meines Erachtens ist dieser Weg der direkte Weg in eine dauerhafte Schuldenkrise, die weiter ausgreift auf andere Länder.“

Abwärtsspirale für alle

Die Rezession und der Zahlungsausfall in Griechenland bedeuteten noch nicht das große Problem für die starken Volkswirtschaften in Europa. Anders im Fall Italien: Wenn auch die drittgrößte unter Europas Volkswirtschaften in den Schuldensog geraten würde, die Nachfrage und damit der Import ausfallen würden, wären andere Länder – auch Deutschland als ehemals Welt-, derzeit immerhin noch Europa-Exportmeister – unmittelbar betroffen.

„Wir könnten uns, wenn wir Pech haben, alle gemeinsam in eine Abwärtsspirale hineinmanövrieren.“

Der Wirtschaftsethiker ist weit entfernt von Panikmache. Er erinnert lediglich an das – wie er es nennt – „politische Verantwortungsloch“ und an die europäische Solidarität.

„Derzeit suchen wir nicht gemeinsam nach Lösungen, sondern schieben die Probleme auf die einzelnen Staaten ab, und lassen die strukturellen Hintergründe dieser Krise außer Acht.“

Griechenland: „Strukturen der Sünde“

Wer hat also Schuld an der derzeitigen Situation? Die Europapolitiker? Die Schuldenmacher selbst? Haben die Staaten über ihre Verhältnisse gelebt? Wolf-Gero Reichert antwortet ganz auf der Linie des Namensgebers des Instituts in St. Georgen: Oswald von Nell-Breuning, Ökonom und Nestor der katholischen Soziallehre:

„In der deutschen Öffentlichkeit überwiegen ganz klar diese individualisierenden Deutungsmuster: Die faulen Griechen und deren lasche Finanzpolitiker tragen Schuld an dieser Krise. Aber es gibt manchmal Situationen, wo volkswirtschaftliche Wechselwirkungen so stark sind, dass sich auch Politiker schwer dagegen stemmen können, v.a. wenn sie aus kleineren Ländern kommen wie Griechenland.“

…und das Märchen von den „faulen Griechen“

Reicherts Zwischenruf: Volkswirtschaftlich betrachtet ist Griechenland kleiner als manches deutsche Bundesland.

„Da kann man mit Johannes Paul II. schon von ,Strukturen der Sünde‘ sprechen. Wir hatten mit der Einführung des Euro einen Doppeleffekt für diese Länder: Die Aufnahme von Schulden war plötzlich unheimlich billig, und zugleich konnten sie wettbewerbstechnisch nicht mehr mit den großen Volkswirtschaften mithalten. Länder wie Griechenland oder auch Portugal wurden strukturell in eine Situation gedrängt, wo sie Leistungsbilanzdefizite in Kauf nehmen mussten. Da ist wenig dran an dieser großen Geschichte, dass es die faulen Griechen wären.“

Ein weiterer scheinbarer Sündenbock: die Ratingagenturen, private, gewinnorientierte Unternehmen, die die Kreditwürdigkeit von Unternehmen und Staaten prüfen. Für Reichert spielen sie „in der Tat“ eine sehr unglückliche Rolle in der derzeitigen Krise:

„Zuerst veröffentlichen sie falsche Einschätzungen, Bonitätsbewertungen. Und dann, wenn es viel zu spät ist, korrigieren sie diese überhastet, oder viel zu schnell, oder viel zu drastisch. Meines Erachtens sieht Kompetenz ganz anders aus.“

Ratingagenturen: mehr Schein als Sein

Doch der Vorschlag, die großen US-amerikanischen Ratingagenturen zu zerschlagen, oder eine eigene europäische zu gründen, setze falsch an.

„Auch hier haben wir letztlich einen politischen Konstruktionsfehler.“

Die Politik habe die privaten Ratingagenturen ja erst zu halböffentlichen Institutionen aufgewertet und ihnen so diese große Bedeutung verschafft.

„Eigentlich alle Banken, alle Versicherungen, alle Investmentfonds, müssen die Bewertungen von Ratingagenturen bei ihren Anlageentscheidungen gesetzlich beachten. Dadurch kommt diesen Bewertungen ein viel größeres Gewicht zu, als sie als reine Informationsdienstleistung für den Kapitalmarkt haben müssten. Die Regierungen haben ihre Verantwortung auf die Ratingagenturen abgewälzt, aber diese sind strukturell überhaupt nicht in der Lage, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Mein Plädoyer wäre deswegen, nicht die Ratingagenturen zu zerschlagen, sondern aus allen Reglements den Verweis auf die Ratingagenturen herauszustreichen. Das ist einfach machbar, aber es braucht wiederum den politischen Willen dazu.“

„Zahlmeister Deutschland?“ Weit gefehlt.

Reichert ist Ethiker. Keiner, der Allgemeinplätze hinnimmt ohne sie zu hinterfragen.

„Es kursiert ja in Deutschland zumindest immer wieder das Vorurteil, dass Deutschland zum Zahlmeister Europas wird. Dass wir sämtliche Volkswirtschaften, sämtliche Länder mit den deutschen Steuergeldern stützen müssten.“

Falsch. Eine „komplett verzerrte Wahrnehmung“. Deutschland zahlt nicht, sondern garantiert.

„Wir verdienen letztlich Geld an der derzeitigen Lösung. Deutschland nimmt über seine günstigen Kreditbedingungen für rund zweieinhalb Prozent Geld auf den Kapitalmärkten auf und leiht es für vier, sechs Prozent an Länder wie Portugal und Griechenland. Wir verdienen daran, dass die Griechen sich über den Europäischen Rettungsfonds finanzieren. Wir verdienen daran, dass sie massive Sparmaßnahmen fahren, um überhaupt diese Zahlungen aufrechterhalten zu können.“

Anders, wenn alle Euroländer gemeinsam sich in die Abwärtsspirale manövrieren. Wie der Euro nicht in ein Schuldenloch, sondern in ein Loch der politischen Verantwortungslosigkeit fallen. Deutschland und Frankreich profitieren als Exportnationen am meisten vom Euro-Währungsraum. Sie leben von hoher Nachfrage, von einer hohen Kaufkraft der Bevölkerungen, von starken Volkswirtschaften. Sie müssen daran interessiert sein, die derzeitige Krise strukturell anzugehen. Reichert:

„Letztlich zahlen wir mehr, wenn wir die derzeitige rigide Sparpolitik fortsetzen. Eine Lösung geht nur in einer solidarischen Weise, wenn sich die Regierungen gemeinsam entscheiden, eine Art europäischen Marshall-Plan auf den Weg zu bringen. Wenn sie eine langfristige Lösung dieser Schuldenkrise suchen und einen Weg finden, in dem wirtschaftliches Wachstum auch für die kleineren Länder eine gangbare Alternative darstellt.“

Wieder Herr im eigenen Land

Griechenland, Portugal, oder wer alles zu den vermeintlichen schwarzen Schafen gehört – die Länder müssten am Ende von selbst wieder auf den Wachstumspfad einschwenken können, die Regierungen wieder handlungsfähig sein.

„Es geht darum, dass wir demokratisch gewählte Regierungen wieder in die Lage versetzen, die Handlungs- und Deutungshoheit über das Geschehen in ihrem eigenen Land wieder zu erlangen.“

Ein Blick über den großen Teich zeigt in den Augen des Wirtschaftsethikers zweierlei: Schulden gibt es nicht nur in Europa. Doch Europa geht es nicht so schlecht, wie seine Politiker meinen. Die US-amerikanische Debatte um die Zahlungsfähigkeit dort, die Lage einzelner Eurostaaten hier sorge insgesamt für Verunsicherung auf den Kapitalmärkten.

„Die Investoren, die Ratingagenturen, sämtliche Kapitalmarktakteure sind derzeit höchst verunsichert, weil ihre Wertanker, der Euro und der Dollar, beide am Schwanken sind. Das verunsichert und das lähmt langfristige Investitionstätigkeit.“

Beispiel USA: einer für alle

Reichert glaubt an eine Lösung in den USA und sieht keine Auswirkungen auf Europa. Aber er mahnt zum Vergleich. Fast klingt es wie die Volksweisheit „einer für alle, alle für einen“, oder einfach wie: „11 Freunde müsst ihr sein“. Oder 17. Oder 27:

„Die USA zahlen ungefähr so viele Zinsen wie die Bundesrepublik Deutschland, sie haben selten so wenig Zinsen gezahlt wie derzeit, obwohl sie von den Daten her höher verschuldet sind, als die Eurozone insgesamt. Aber sie gelten trotz allem nicht als zahlungsausfallgefährdet, einzelne Bundesstaaten schon, aber das belastet nicht die ganzen USA. Das zeigt, wie möglich doch eine Lösung für den Euroraum wäre, wenn man sich politisch koordiniert.“

(rv 21.07.2011 bp)








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