Ägypten: Erziehung und Bildung als Chance gegen den Fundamentalismus
Die Zeichen in Ägypten stehen auf Wahlkampf. Nach der Revolution und der unsicheren
politischen Lage bringen sich jetzt die unterschiedlichen politischen Parteien in
Stellung. Darunter das große islamische Netzwerk der Muslimbrüder, die zu Zeiten der
Ära Mubarak im Untergrund gearbeitet hat. Aber auch radikale, fundamentalistische
Muslime wie die Salafisten wollen die Gunst der Stunde nutzen, um politisches Kapital
zu schlagen und den Islam stärker in der Verfassung zu verankern. Die koptischen Christen,
die rund zehn Prozent der Bevölkerung stellen, befürchten dadurch neue Anfeindungen
und Ausgrenzungen. Wir haben mit Nagwa Farag gesprochen, die seit vielen Jahren als
Entwicklungshelferin in Oberägypten tätig ist. Sie sieht in der Gründung einer eigenen
Partei der Salafisten einen Machtkampf zwischen den beiden großen muslimischen Lagern:
„Das
ist die erste entscheidende Spaltung zwischen den Salafisten und den Mulsimbruderschaft.
Trotz ihrer ursprünglichen Überzeugung, nicht an der Politik teilzunehmen, gründen
die Salafisten jetzt eine eigene politische Partei und treten zu den Wahlen an. In
gewisser Weise handelt es sich um einen Machtkampf zwischen den beiden Lagern, zwischen
Salafisten und der Muslimbruderschaft. Natürlich sind die Muslimbrüder die besser
organisierte Gruppe. Vor der Revolution waren sie verbannt, bereits zu Zeiten von
Präsident Nasser haben sie im Untergrund gearbeitet. Jeder wusste, dass es sie gab.
Sie sind gut finanziert, da sie viel Geld aus dem Ausland bekommen, vor allem Petrodollars
aus arabischen und islamischen Ländern."
Nach der Revolution hat es immer
wieder die Forderung nach einem bürgerlichen oder säkularen Ägypten gegeben. Es wäre
ein Missverständnis, darunter die Trennung von Staat und Religion zu sehen, so Farag.
Denn die meisten Ägypter verstünden darunter einen Staat, der nicht mehr vom Militär
regiert wird. Nach wie vor würden Christen in Ägypten als Menschen zweiter Klasse
behandelt, so Farag:
„Wir wissen, dass es die Meinung gibt, das Regime unter
Mubarak hätte die Christen geschützt. In Wirklichkeit hat das alte Regime gar nichts
unternommen, um Diskriminierung von Christen in der Gesellschaft zu verhindern. Sie
haben einfach geleugnet, dass es Unterdrückung gibt. Man konnte zu Zeiten Mubaraks
nicht sagen, dass es Ausgrenzung und Verfremdung gibt. Jetzt können wir das sagen.
Generell kann man sagen, dass die Salafisten aus niederen, armen sozialen Schichten
kommen. Sie haben weniger Perspektiven, sie sind schlechter ausgebildet und bilden
jene Masse, die einfach zu mobilisieren ist."
Neben den radikalen sowie
den gemäßigten islamischen Gruppen gebe es aber auch politische Alternativen, so Farag.
„Auf
der anderen Seite gibt es einige neue, kleine, liberale Parteien in Ägypten. Sie sind
noch in der Aufbau- und Gesprächsphase. Wir haben ein neues Wahlgesetz, bei den Parlamentswahlen
können auch Bürgerlisten einen Platz in der Liste bekommen. Das kann ein Vorteil für
die kleineren Parteien sein, vor allem, wenn sie Koalitionen bilden. Trotz allem:
Es schaut so aus, als ob die Muslimbruderschaft die meisten Stimmen bekommen wird,
und nicht die Salafisten. Das ist unsere Einschätzung der ägyptischen Gesellschaft."
Der
oberste Militärrat hat für September demokratische Parlamentswahlen angekündigt. Radikale
islamistische Gruppen hätten derzeit regen Zulauf, weil die Menschen in dieser Unsicherheit
keine anderen Perspektiven mehr sehen.
„Wir brauchen beides: Bildung und
Arbeit. Wenn wir mehr Arbeitsplätze und mehr Tourismus hätten, wenn der Alltag wieder
funktionieren würde, dann hätten die Leute keine Zeit und Lust mehr, diesen extremistischen
Gruppen hinterher zu laufen. Denn die meisten Menschen hier sind arm und haben einfach
nichts anderes zu tun. Und davon profitieren wiederum einige wenige, die Macchiavellisten."
Als
großes Problem hinter dieser religiösen Radikalisierung sieht Farag die schlechte
Bildung der Ägypter. Fast die Hälfte aller Einwohner kann nicht lesen und schreiben,
bei Frauen betrifft das sogar die Mehrheit.
„Wir haben eine hohe Anzahl
von Analphabeten. Viele religiöse Gruppen nutzen das aus, denn es ist sehr einfach,
schlecht gebildete Menschen unter dem Vorwand der Religion zu mobilisieren: Das ist
gut für den Islam, das ist schlecht für den Islam, und so weiter. Diese Menschen gehen
dann im Zeichen des Islam auf die Straßen. Die Salafisten sind dafür bekannt, den
Islam sehr fundamentalistisch auszulegen und daher intolerant zu sein. Vieles davon
ist der Einfluss der Wahabiten aus Saudi-Arabien. Jetzt bricht dieser Extremismus
in Form von Gewalt aus. Wir leben in schwierigen Zeiten, denn die Extremisten können
machen, was sie wollen, weil Gesetze nur selten zur Anwendung kommen. Die politische
Lage ist sehr unsicher, es gibt viele unterschiedliche Auffassungen über Begriffe
wie Säkularisierung und Kultfreiheit."
Nagwa Farag arbeitet selbst für
eine Organisation, die in Oberägypten Schulen für Kinder betreibt. Insgesamt werden
dort mehr als 10.000 christliche und muslimische Kinder unterrichtet. Neben dem Unterricht
sollen damit auch die Beziehungen zwischen christlichen und muslimischen Familien
gestärkt werden.
„Wir sind an der Front und sehen, wie sich die Dinge entwickeln.
Wir zählen auf die Unterstützung der internationalen öffentlichen Meinung, so wie
sie uns während der achtzehn Tage der Revolution unterstützt hat. Wir brauchen NGO’s,
die mit uns vor Ort in Ägypten im Bildungsbereich zusammen arbeiten. Damit der Radikalismus
in den Köpfen der Leute durch Bildung, Entwicklung und dem Konzept des Humanismus
langsam geändert werden kann, immer in vollstem Respekt der Religion des anderen gegenüber.
Wir legen viel Hoffnung in diese Art der brüderlichen Unterstützung."
Seit
mehr als 30 Jahren arbeitet die Organisation, in der Nagwa Farag tätig ist, mit der
österreichischen Dreikönigsaktion zusammen. Die Spenden, die die Sternsinger jedes
Jahr in Österreich sammeln, kommen damit dem Schulunterricht ägyptischer Kinder zugute.