Im Volltext: Vatikan-Rundschreiben über Missbrauch
Rundschreiben
um den Bischofskonferenzen zu helfen, Leitlinien für
die Behandlung von Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker zu erstellen Zu
den wichtigen Verantwortlichkeiten des Diözesanbischofs im Hinblick auf die Sicherung
des Gemeinwohls der Gläubigen und insbesondere auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen
gehört es, auf eventuelle Fälle sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker
in seiner Diözese angemessen zu reagieren. Dies beinhaltet sowohl die Festsetzung
von geeigneten Verfahren, um den Opfern derartiger Missbräuche beizustehen, als auch
die Bewusstseinsbildung der kirchlichen Gemeinschaft im Blick auf den Schutz Minderjähriger.
Dabei ist für die rechte Anwendung des einschlägigen kanonischen Rechts zu sorgen;
zugleich sind die entsprechenden staatlichen Rechtsvorschriften zu beachten.
I.
Allgemeine Aspekte
Die Opfer sexuellen Missbrauchs
Die
Kirche muss, in der Person des Bischofs oder eines von ihm Beauftragten, die Bereitschaft
zeigen, die Opfer und ihre Angehörigen anzuhören und für deren seelsorgerlichen und
psychologischen Beistand zu sorgen. Im Verlauf seiner Apostolischen Reisen hat Papst
Benedikt XVI. durch seine Bereitschaft, Opfer sexuellen Missbrauchs zu treffen und
anzuhören, ein besonders wichtiges Beispiel gegeben. Anlässlich dieser Begegnungen
hat sich der Heilige Vater mit einfühlsamen und aufbauenden Worten an die Opfer gewandt,
so auch in seinem Hirtenbrief an die Katholiken in Irland (Nr. 6): „Ihr habt schrecklich
gelitten, und das tut mir aufrichtig leid. Ich weiß, dass nichts das von Euch Erlittene
ungeschehen machen kann. Euer Vertrauen wurde missbraucht und Eure Würde wurde verletzt.“
Der Schutz Minderjähriger
In einigen Ländern
wurden im kirchlichen Bereich Erziehungsprogramme zur Prävention gestartet, die „geschützte
Räume“ für Minderjährige gewährleisten sollen. Diese Programme versuchen sowohl den
Eltern als auch den in Pastoral und Schule Tätigen zu helfen, Anzeichen sexuellen
Missbrauchs zu erkennen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Oftmals haben die genannten
Programme Anerkennung gefunden als Modelle dafür, wie der sexuelle Missbrauch Minderjähriger
in der heutigen Gesellschaft wirkungsvoll eingegrenzt werden kann.
Die Ausbildung zukünftiger Priester und Ordensleute
Im
Jahr 2002 sagte Papst Johannes Paul II.: „Im Priestertum und Ordensleben ist kein
Platz für jemanden, der jungen Menschen Böses tun könnte.“ Diese Worte erinnern an
die spezifische Verantwortung der Bischöfe, der höheren Oberen und derer, die für
die Ausbildung der zukünftigen Priester und Ordensleute Sorge tragen. Die einschlägigen
Hinweise im Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Pastores dabo vobis sowie
die Instruktionen der zuständigen Dikasterien des Heiligen Stuhls lenken in zunehmendem
Maß den Blick auf die Wichtigkeit einer korrekten Berufungsklärung und einer gesunden
menschlichen und spirituellen Ausbildung der Kandidaten. Dabei geht es insbesondere
darum, dass die Kandidaten die Keuschheit und den Zölibat der Kleriker sowie deren
Verantwortung in der geistlichen Vaterschaft wertschätzen und ihr Wissen um die diesbezügliche
Ordnung der Kirche vertiefen können. Genauere Angaben können in die Ausbildungsprogramme
der Seminare und der Ausbildungshäuser in jedem Land, jedem Institut des geweihten
Lebens und jeder Gesellschaft des apostolischen Lebens mittels der jeweiligen Ratio
institutionis sacerdotalis eingefügt werden. Darüber hinaus muss besondere
Aufmerksamkeit auf den gebotenen Informationsaustausch gerichtet werden, vor allem
im Zusammenhang mit Priesteramts- oder Ordenskandidaten, die von einem Seminar zu
einem anderen, zwischen verschiedenen Diözesen oder zwischen Ordensgemeinschaften
und Diözesen wechseln.
Die Begleitung der Priester
1.
Der Bischof hat die Pflicht, alle seine Priester wie ein Vater und Bruder zu behandeln.
Auch soll der Bischof sich mit besonderer Aufmerksamkeit um die ständige Weiterbildung
des Klerus sorgen, vor allem in den ersten Jahren nach der Priesterweihe, und dabei
auf die Wichtigkeit des Gebets und der gegenseitigen Unterstützung in der priesterlichen
Gemeinschaft hinweisen. Die Priester sollen über den Schaden, den ein Kleriker bei
Opfern sexuellen Missbrauchs anrichtet, und über die eigene Verantwortung vor dem
kirchlichen und staatlichen Recht informiert werden. Auch sollte ihnen geholfen werden,
Anzeichen für einen eventuellen Missbrauch Minderjähriger erkennen zu können, von
wem auch immer dieser begangen wurde. 2. Die Bischöfe müssen in der Behandlung
von möglichen Fällen sexuellen Missbrauchs, die ihnen gemeldet wurden, jeden erdenklichen
Einsatz, unter Beachtung der kanonischen und staatlichen Vorschriften und unter Wahrung
der Rechte aller Parteien, zeigen. 3. Bis zum Erweis des Gegenteils steht der angeklagte
Kleriker unter Unschuldsvermutung. Als Vorsichtsmaßnahme kann der Bischof aber die
Ausübung des Weiheamtes bis zur Klärung der Anschuldigungen einschränken. Für den
Fall, dass ein Kleriker zu Unrecht beschuldigt wurde, soll man alles unternehmen,
um seinen guten Ruf wieder herzustellen.
Die Zusammenarbeit
mit den staatlichen Behörden
Der sexuelle Missbrauch Minderjähriger
ist nicht nur eine Straftat nach kanonischem Recht, sondern stellt auch ein Verbrechen
dar, das staatlicherseits verfolgt wird. Wenngleich sich die Beziehungen zu staatlichen
Behörden in den einzelnen Ländern unterschiedlich gestalten, ist es doch wichtig,
mit den zuständigen Stellen unter Beachtung der jeweiligen Kompetenzen zusammenzuarbeiten.
Insbesondere sind die staatlichen Rechtsvorschriften bezüglich einer Anzeigepflicht
für solche Verbrechen immer zu beachten, freilich ohne das Forum internum des
Bußsakraments zu verletzten. Selbstverständlich beschränkt sich diese Zusammenarbeit
nicht nur auf die von Klerikern begangenen Missbrauchstaten, sondern erfolgt auch
bei Delikten, die Ordensleute oder in kirchlichen Einrichtungen tätige Laien betreffen.
II. Eine kurze Zusammenfassung zur geltenden kirchlichen Gesetzgebung bezüglich
der Straftat des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker Am 30.
April 2001 hat Papst Johannes Paul II. das Motu proprio Sacramentorum
sanctitatis tutela [SST] promulgiert, durch das der von einem Kleriker
begangene sexuelle Missbrauch eines Minderjährigen unter 18 Jahren in die Liste der
delicta graviora aufgenommen wurde, die der Kongregation für die Glaubenslehre
vorbehalten sind. Die Verjährungsfrist für dieses Delikt wurde auf 10 Jahre festgesetzt,
beginnend mit der Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers. Die Bestimmungen des
Motu proprio gelten für Kleriker der Lateinischen Kirche wie auch für jene
der Orientalischen Kirchen, für den Weltklerus wie auch für den Ordensklerus. Im
Jahr 2003 erteilte Papst Johannes Paul II. dem damalige Präfekten der Glaubenskongregation,
Kardinal Joseph Ratzinger, einige Sondervollmachten, um eine größere Flexibilität
in der Durchführung von Strafprozessen bei diesen delicta graviora zu ermöglichen.
So wurde etwa die Möglichkeit geschaffen, Verwaltungsstrafverfahren durchzuführen,
oder in besonders schweren Fällen um Entlassung aus dem Klerikerstand ex officio
zu ersuchen. Diese Vollmachten wurden in die von Papst Benedikt XVI. am 21. Mai 2010
approbierte überarbeitete Fassung des Motu proprio aufgenommen. In den neuen
Normen wurde im Fall des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger die Verjährungsfrist,
die mit der Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers zu laufen beginnt, auf 20 Jahre
festgesetzt. In besonderen Fällen kann die Glaubenskongregation gegebenenfalls von
der Verjährung derogieren. In der revidierten Fassung des Motu proprio wurde
auch ausdrücklich Kauf, Besitz und Verbreitung kinderpornografischen Materials als
Straftatbestand des kanonischen Rechts spezifiziert.
Für die Behandlung von
Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger sind an erster Stelle die Bischöfe und
höheren Oberen verantwortlich. Sofern eine Anzeige nicht völlig abwegig erscheint,
muss der Bischof, der höhere Obere oder ein von ihnen Beauftragter eine kanonische
Voruntersuchung gemäß can. 1717 CIC bzw. can. 1468 CCEO sowie Art. 16
SST durchführen.
Wenn sich die Anschuldigung als glaubwürdig erweist,
muss der Fall an die Glaubenskongregation übermittelt werden. Nach Studium der Angelegenheit
wird die Glaubenskongregation den Bischof oder höheren Oberen anweisen, wie weiter
zu verfahren ist. Zugleich wird sie Hilfestellung leisten, um zu gewährleisten, dass
geeignete Maßnahmen ergriffen werden. Dabei wird sowohl für ein gerechtes Verfahren
für die beschuldigten Kleriker gesorgt, in dem ihr fundamentales Verteidigungsrecht
gewahrt wird, als auch das Wohl der Kirche, einschließlich des Wohls der Opfer, sichergestellt.
In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Verhängung einer unbefristeten
Strafe, wie etwa die Entlassung aus dem Klerikerstand, normalerweise ein gerichtliches
Strafverfahren erfordert. Nach kanonischem Recht (vgl. can. 1342 CIC) können
die Ordinarien unbefristete Strafen nicht durch außergerichtliches Dekret verhängen.
Zu diesem Zweck müssen sie sich an die Glaubenskongregation wenden, der es zukommt,
ein endgültiges Urteil über die Schuld und über eine eventuelle Ungeeignetheit des
Klerikers für den pastoralen Dienst zu fällen und die entsprechende unbefristete Strafe
zu verhängen (SST Art. 21 § 2).
Die kanonischen Maßnahmen, die gegenüber
einem Kleriker Anwendung finden, der des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger schuldig
befunden wurde, sind grundsätzlich zweifacher Art: 1.) Auflagen, die die öffentliche
Ausübung des geistlichen Amtes vollständig oder zumindest insoweit einschränken, dass
ein Kontakt mit Minderjährigen ausgeschlossen wird. Diese Auflagen können mit einem
Strafgebot (praeceptum poenale) versehen werden. 2.) Kirchliche Strafen,
unter denen die schwerste die Entlassung aus dem Klerikerstand ist. In einigen Fällen
kann auf Antrag des Klerikers selbst die Dispens von den Verpflichtungen des klerikalen
Standes, einschließlich der Zölibatspflicht, pro bono Ecclesiae gewährt werden.
Die
Voruntersuchung und das gesamte Verfahren müssen so durchgeführt werden, dass die
Privatsphäre der beteiligten Personen geschützt und ihrem guten Ruf die gebotene Aufmerksamkeit
zuteil wird.
Sofern nicht gewichtige Gründe entgegenstehen, muss ein beschuldigter
Kleriker über die gegen ihn erhobene Anklage informiert werden, um ihm die Möglichkeit
zu einer Stellungnahme zu geben, ehe der Fall der Glaubenskongregation gemeldet wird.
Der Klugheit des Bischofs oder des höheren Oberen obliegt es, zu entscheiden, welche
Informationen während der Voruntersuchung an den Beschuldigten weitergegeben werden.
Es
kommt dem Bischof oder dem höheren Oberen zu, für das Gemeinwohl zu sorgen und festzulegen,
welche der in can. 1722 CIC bzw. can. 1473 CCEO genannten Vorsichtsmaßnahmen
ergriffen werden müssen. Nach Art. 19 SST kann dies geschehen, sobald die Voruntersuchung
begonnen wurde.
Schließlich ist festzuhalten: Wenn eine Bischofskonferenz beabsichtigt,
Spezialnormen zu erlassen, müssen diese Partikularnormen, unbeschadet der notwendigen
Approbation durch den Heiligen Stuhl, stets als Ergänzung, nicht jedoch als Ersatz
der universalkirchlichen Gesetzgebung verstanden werden. Deshalb müssen Partikularnormen
sowohl mit dem CIC bzw. CCEO als auch mit dem Motu proprio Sacramentorum sanctitatis
tutela (30. April 2001) in seiner überarbeiteten Fassung vom 21. Mai 2010 übereinstimmen.
Im Fall, dass eine Bischofskonferenz sich entscheiden sollte, verbindliche Normen
zu erlassen, ist es notwendig, bei den zuständigen Dikasterien der Römischen Kurie
um die recognitio anzusuchen.
III. Hinweise für die Ordinarien
zum Verfahrensablauf
Die von der Bischofskonferenz erarbeiteten Leitlinien
sollten den Diözesanbischöfen und höheren Oberen Orientierungshilfen bieten für den
Fall, dass diese von möglichen Taten sexuellen Missbrauchs Minderjähriger Kenntnis
erlangen, die von Klerikern auf dem Gebiet ihrer Jurisdiktion begangen wurden. Solche
Leitlinien sollten daher folgende Gesichtspunkte berücksichtigen: Der
Gebrauch des Begriffs „sexueller Missbrauch Minderjähriger“ muss mit der Definition
in Art. 6 SST („Die von einem Kleriker begangene Straftat gegen das sechste
Gebot mit einem Minderjährigen unter achtzehn Jahren“) und mit der Auslegungspraxis
und der Rechtsprechung der Kongregation für die Glaubenslehre übereinstimmen und auch
die gesetzlichen Regelungen des jeweiligen Landes berücksichtigen. Die Person,
die eine Straftat anzeigt, muss mit Respekt behandelt werden. In den Fällen, bei denen
sexueller Missbrauch mit einer Straftat gegen die Heiligkeit des Bußsakramentes (Art.
4 SST) verbunden ist, hat diese Person das Recht zu fordern, dass ihr Name
nicht dem beschuldigten Priester mitgeteilt wird (Art. 24 SST). Die kirchlichen
Autoritäten sollten sich dazu verpflichten, den Opfern seelsorgerliche und psychologische
Hilfe anzubieten. Die Ermittlungen zu den Beschuldigungen sind unter gebührender
Wahrung des Grundsatzes der Vertraulichkeit und des guten Rufs der beteiligten Personen
durchzuführen. Sofern nicht schwerwiegende Gründe dem entgegenstehen, sollte der
beschuldigte Kleriker schon in der Phase der Voruntersuchung über die Anschuldigungen
informiert werden und ihm dabei auch die Gelegenheit gegeben werden, dazu Stellung
zu nehmen. Die mancherorts vorgesehenen Beratungsorgane und -kommissionen zur Überprüfung
und Bewertung einzelner Fälle dürfen nicht das Urteil und die potestas regiminis
der einzelnen Bischöfe ersetzen. Die Leitlinien müssen die staatliche Gesetzgebung
im Konferenzgebiet beachten, insbesondere was eine eventuelle Unterrichtungspflicht
staatlicher Behörden anbelangt. In jedem Moment des Disziplinar- oder Strafverfahrens
ist für den beschuldigten Kleriker ein gerechter und ausreichender Unterhalt sicher
zu stellen. Die Rückkehr eines Klerikers in den öffentlichen Seelsorgsdienst ist
auszuschließen, wenn dieser Dienst eine Gefahr für Minderjährige darstellt oder ein
Ärgernis in der Gemeinde hervorruft.
Schluss
Die
von den Bischofskonferenzen erarbeiteten Leitlinien haben zum Ziel, Minderjährige
zu schützen und den Opfern zu helfen, Unterstützung und Versöhnung zu finden. Sie
müssen darüber hinaus deutlich machen, dass in erster Linie der zuständige Diözesanbischof
bzw. höhere Obere für die Behandlung von Straftaten sexuellen Missbrauchs Minderjähriger
durch Kleriker zuständig ist. Schließlich werden die Leitlinien innerhalb einer Bischofskonferenz
zu einem einheitlichen Vorgehen führen, das dazu beiträgt, die Bemühungen der einzelnen
Bischöfe zum Schutz Minderjähriger besser aufeinander abzustimmen.
Rom,
am Sitz der Kongregation für die Glaubenslehre am 3. Mai 2011.
William
Kardinal Levada Präfekt
X Luis F. Ladaria, S.I. Titularerzbischof
von Thibica Sekretär