„Rerum Novarum“ von
Leo XIII. war das folgenreichste päpstliche Lehrschreiben des ausgehenden 19. Jahrhunderts
und prägt Einsatz und Auftrag der katholischen Kirche bis heute. „Rerum Novarum“ bedeutet
„die neuen Dinge“, und das wiederum meint die brennende soziale Frage der Arbeiter.
Gleichzeitig umriss die Enzyklika erstmals das, was wir heute als „katholische Soziallehre“
kennen. Am 15. Mai jährt sich die Veröffentlichung von „Rerum Novarum“ zum 120. Mal.
Wir sprachen mit Martin Schlag, der an der päpstlichen Universität Santa Croce in
Rom Sozialethik lehrt, über die Enzyklika.
„Die Tatsache, dass ein Papst
sich überhaupt mit der Arbeiterfrage beschäftigt hat, war etwas Neues. Es gab Bischöfe,
die sich damit beschäftigt hatten, aber ein Papst nicht. Das für heute Wichtige ist,
dass hier ein Papst die Aufgabe der Sozialgestaltung den Laien übertragen hat. Es
war ein Auftrag von ihm, die Kräfte in der Gesellschaft zu mobilisieren.“
„Rerum
Novarum“ behandelt im ersten Teil sozialistische Gesellschaftstheorien, im zweiten
Teil die Arbeiterfrage im engeren Sinn. Eingangs weist Leo XIII. bestimmte Vorstellungen
des Marxismus kategorisch zurück.
„Der Papst lehnt den Marxismus ab, genauer
gesagt, den Klassenkampf. Er möchte dem Prinzip Gerechtigkeit und Liebe in der Gesellschaft
zum Durchbruch verhelfen und kann daher eine Theorie, die das Privateigentum, die
Freiheit, den Gottesglauben ablehnt, wie das der Marxismus tut, nicht annehmen. Er
ist aber sehr offen für soziale Anliegen, deshalb schreibt er auch die Enzyklika.“
Die
Arbeiterfrage ist die Herausforderung schlechthin des späten 19. Jahrhunderts. Breite
Bevölkerungsschichten Europas waren im Zug der industriellen Revolution ins Elend
abgesunken, wurden ausgebeutet und hatten keinerlei Perspektiven. Der Marxismus reagierte
zuerst - und erheblich früher als die Kirche - auf die Arbeiterfrage. Leo XIII. schöpfte
aus völlig anderen Traditionen und kommt infolgedessen zu völlig anderen Schlüssen
als die sozialistischen Theoretiker.
„Leo betont sehr stark, dass die Arbeiter
das Recht haben sollten, selber Privateigentum zu erwerben, dass sie aus ihrem Elend
herausgeführt werden müssen. Man kann sprechen von der Entproletarisierung des Proletariats.
Es geht ihm um eine gesamtheitliche Entwicklung des Menschen, nicht bloß um eine wirtschaftliche
Entwicklung, sondern auch die moralische und spirituelle Dimension des einzelnen Arbeiters,
das sind Dinge, die er sehr stark betont.“
Nicht alles aus dem marxistischen
Gedankengut zur Arbeiterfrage indes ist aus Sicht Leos XIII. verwerflich. Die Vorstellung
etwa, dass der Staat Pflichten gegenüber dem Proletariat hat, erhält die ausdrückliche
Zustimmung des Papstes.
„Leo sagt, es genügt nicht Almosen zu geben, sondern
auch der Staat muss sozial tätig werden. es muss also eine gesellschaftliche und staatliche
Bemühung geben, das Elend der Arbeiter und die Ungerechtigkeit, dies es in der Gesellschaft
gibt, zu beseitigen und zu lindern.“
1891 markierte also einen echten
Wendepunkt im Auftrag der Kirche in der Welt. „Rerum Novarum“ war, wie Martin Schlag
sagt, ein „Großereignis“ in der Kirche, das eine breite Palette von Initiativen hervorbrachte.
„Man denke daran, dass „Rerum Novarum“ die erste päpstliche Gutheißung
der Gewerkschaften war. Man hat damals noch gestritten, ist eine Gewerkschaft, die
allein für Arbeiter geschaffen wird, rechtmäßig. Leo XIII. sagt ja, obwohl er eigentlich
lieber hätte, dass Arbeiter und Eigentümer in einer Gemeinschaft zusammen sind, aber
er lässt die Gewerkschaften zu. Das hat dann zur Gründung vieler Gewerkschaften geführt
und die Gewerkschaftsbewegung gestärkt.“
Leo XIII. war von 1878 bis 1903
Papst und ein außerordentlich fleißiger Schreiber von Enzykliken. Mehr als 80 hat
er im Lauf seines Pontifikates verfasst. „Rerum Novarum“ ist, obwohl sprachlich und
in einzelnen Punkten auch inhaltlich überholt, das einzige Lehrschreiben dieses Papstes,
das die Zeiten überdauerte und bis heute in praktisch allen Texten über katholische
Soziallehre zitiert wird – zuletzt wieder in Papst Benedikts Globalisierungsenzyklika
„Caritas in veritate“ von 2009.
„Was aber sicher nicht überholt ist, ist
der moderne Ansatz des Papstes, dass er ausgeht von den individuellen Rechten des
einzelnen und vom Anliegen, dass der einzelne Christ und der Laie in der Gesellschaft
den Freiraum nützt, den die Gesellschaft öffnet.“