Benedikt XVI.: „Ich bewunderte seine spirituelle Tiefe“
Die Predigt von Papst Benedikt XVI. zur Seligsprechung von Johannes Paul II.
Liebe
Brüder und Schwestern!
Vor nunmehr sechs Jahren befanden wir uns auf diesem
Platz zur Begräbnisfeier von Papst Johannes Paul II. Groß war der Schmerz über den
Verlust, aber noch größer war die Erfahrung einer unendlichen Gnade, die Rom und die
ganze Welt umfing: die Gnade, die wie die Frucht des ganzen Lebens meines geliebten
Vorgängers und besonders seines Zeugnisses im Leiden war. Schon an jenem Tag spürten
wir den Duft seiner Heiligkeit ausströmen, und das Volk Gottes hat auf viele Weisen
seine Verehrung für ihn zum Ausdruck gebracht. Daher wollte ich, daß sein Seligsprechungsprozeß
unter entsprechender Beachtung der Vorschriften der Kirche ziemlich rasch vorangehen
konnte. Und heute ist der erwartete Tag gekommen; er ist schnell gekommen, weil es
dem Herrn so gefallen hat: Johannes Paul II. ist selig!
Herzlich möchte ich
euch alle grüßen, die ihr zu diesem freudigen Anlaß so zahlreich aus allen Teilen
der Welt nach Rom gekommen seid: Kardinäle, Patriarchen der katholischen Ostkirchen,
Mitbrüder im Bischofs- und Priesteramt, die offiziellen Delegationen, Botschafter
und Vertreter des öffentlichen Lebens, Gottgeweihte und gläubige Laien. Mein Gruß
gilt ebenso allen, die über Radio und Fernsehen mit uns verbunden sind.
Dieser
Sonntag ist der Zweite Sonntag der Osterzeit, den der selige Johannes Paul II. nach
der Göttlichen Barmherzigkeit benannt hat. Daher wurde dieses Datum für die heutige
Feier gewählt, weil nach dem Plan der Vorsehung mein Vorgänger genau am Vorabend dieses
Festtages Gott seinen Geist befohlen hat. Heute ist außerdem der erste Tag des Marienmonats
Mai; und es ist auch der Gedenktag des heiligen Josef des Arbeiters. Diese Elemente
treffen zusammen und bereichern so unser Gebet; sie helfen uns, die wir noch Pilger
in Raum und Zeit sind. Im Himmel hingegen ist die Feier unter den Engeln und Heiligen
ganz anders! Und doch ist Gott einer, und einer ist Christus, der Herr, der wie eine
Brücke Erde und Himmel verbindet. Und in diesem Augenblick fühlen wir uns mehr denn
je nahe, als nähmen wir gleichsam teil an der himmlischen Liturgie.
„Selig
sind, die nicht sehen und doch glauben!“ (Joh 20,29). Im heutigen Evangelium
spricht Jesus diese Seligpreisung aus, die Seligpreisung des Glaubens. Sie berührt
uns auf besondere Weise, da wir versammelt sind, um eben eine Seligsprechung zu feiern,
und noch mehr, da heute ein Papst seliggesprochen wird, ein Nachfolger Petri, der
dazu berufen war, die Brüder im Glauben zu stärken. Johannes Paul II. ist selig durch
seinen starken und großherzigen, seinen apostolischen Glauben. Und sogleich denken
wir an jene andere Seligpreisung: „Selig bist du, Simon Barjona; denn nicht Fleisch
und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel“ (Mt 16,17).
Was hat der himmlische Vater dem Simon offenbart? Daß Jesus der Christus ist, der
Sohn des lebendigen Gottes. Durch diesen Glauben wird Simon zu „Petrus“, zum Fels,
auf den Jesus seine Kirche bauen kann. Die ewige Seligkeit Johannes Pauls II., die
die Kirche heute freudig verkündet, besteht ganz in diesen Worten Christi: „Selig
bist du, Simon“, und „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ Es ist die Seligpreisung
des Glaubens, den auch Johannes Paul II. als Gabe von Gott Vater für den Aufbau der
Kirche Christi erhalten hat.
Aber unsere Gedanken gehen zu einer anderen Seligpreisung,
die im Evangelium allen anderen vorausgeht. Es ist jene der Jungfrau Maria, der Mutter
des Erlösers. Ihr, die soeben Jesus in ihrem Schoß empfangen hat, sagt die heilige
Elisabeth: „Selig ist die, die geglaubt hat, daß sich erfüllt, was der Herr ihr sagen
ließ“ (Lk 1,45). Die Seligpreisung des Glaubens hat ihr Vorbild in Maria. Wir
alle freuen uns, daß die Seligsprechung von Johannes Paul II. am ersten Tag des Marienmonats
stattfindet, unter dem mütterlichen Blick Marias, die durch ihren Glauben den Glauben
der Apostel gestützt hat und fortwährend den Glauben ihrer Nachfolger stützt, besonders
jener, die auf den Stuhl Petri berufen sind. Maria kommt in den Erzählungen der Auferstehung
Christi nicht vor, aber ihre Anwesenheit ist gleichsam überall verborgen: Sie ist
die Mutter, der Jesus jeden einzelnen der Jünger und die ganze Gemeinschaft anvertraut
hat. Im besonderen stellen wir fest, daß der heilige Johannes und der heilige Lukas
Marias wirkliche und mütterliche Gegenwart an jenen Stellen anführen, die dem heutigen
Evangelium und der ersten Lesung vorausgehen: im Bericht über den Tod Jesu, wo Maria
zu Füßen des Kreuzes erwähnt wird (Joh 19,25); und am Beginn der Apostelgeschichte,
die sie in der Mitte der zum Gebet im Abendmahlssaal versammelten Jünger zeigt (Apg
1,14).
Auch die heutige zweite Lesung spricht uns vom Glauben, und es ist genau
Petrus, der voller geistlichem Enthusiasmus schreibt und den Neugetauften den Grund
ihrer Hoffnung und ihrer Freude angibt. Gerne möchte ich anmerken, daß Petrus in diesem
Abschnitt zu Beginn seines ersten Briefes nicht in der Aufforderung, sondern
im Indikativ spricht. Er schreibt nämlich: „Ihr seid voll Freude“ – und er
fügt hinzu: „Ihn habt ihr nicht gesehen, und dennoch liebt ihr ihn; ihr seht
ihn auch jetzt nicht; aber ihr glaubt an ihn und jubelt in unsagbarer,
von himmlischer Herrlichkeit verklärter Freude, da ihr das Ziel des Glaubens erreichen
werdet: euer Heil“ (1 Petr 1,6.8-9). Alles steht im Indikativ, weil es
eine neue Wirklichkeit gibt, die durch die Auferstehung Christi bewirkt ist, eine
Wirklichkeit, die dem Glauben zugänglich ist. „Das hat der Herr vollbracht“ – wie
es im Psalm heißt –, „vor unseren Augen geschah dieses Wunder“ (Ps 118,23),
vor den Augen des Glaubens.
Liebe Brüder und Schwestern, heute erstrahlt vor
unseren Augen im vollen geistlichen Licht des auferstandenen Christus die Gestalt
des geliebten und verehrten Johannes Paul II. Heute wird sein Name der Schar der Heiligen
und Seligen hinzugefügt, die er während der fast 27 Jahre seines Pontifikates heilig-
und seliggesprochen hatte. Dabei hatte er nachdrücklich an die allgemeine Berufung
zum hohen Maß des christlichen Lebens – zur Heiligkeit – erinnert, wie sie die Konzilskonstitution
Lumen gentium über die Kirche bekräftigt hatte. Alle Glieder des Volkes Gottes
– Bischöfe, Priester, Diakone, Laien, gottgeweihte Männer und Frauen – wir alle sind
auf dem Weg zur himmlischen Heimat, in welche uns die Jungfrau Maria vorausgegangen
ist, die mit dem Geheimnis Christi und der Kirche auf einzigartige und vollkommene
Weise verbunden ist. Karol Wojtyła hat zuerst als Weihbischof und dann als Erzbischof
von Krakau am Zweiten Vatikanischen Konzil teilgenommen; er wußte ja, daß das letzte
Kapitel des Dokumentes über die Kirche Maria zu widmen bedeutete, die Mutter des Erlösers
zum Bild und Vorbild der Heiligkeit für jeden Christen und für die ganze Kirche zu
machen. Diese theologische Sicht hat der selige Johannes Paul II. als Jugendlicher
entdeckt und dann während seines ganzen Lebens bewahrt und vertieft – eine Sicht,
die im biblischen Bild von Christus am Kreuz und seiner Mutter Maria unter dem Kreuz
zusammengefaßt ist. Es ist ein Bild, das sich im Johannes-Evangelium findet (Joh
19,25-27) und das in das Bischofs- und dann in das Papstwappen von Karol Wojtyła aufgenommen
wurde: ein goldenes Kreuz, ein „M“ rechts unten und das Motto „Totus tuus“, das vom
bekannten Wort des heiligen Ludwig Maria Grignion von Montfort stammt, in dem Karol
Wojtyła ein Grundprinzip für sein Leben gefunden hat: „Totus tuus ego sum et omnia
mea tua sunt. Accipio te in mea omnia; præbe mihi cor tuum, Maria.“ – „Ich bin
ganz dein, und alles, was ich habe, ist dein. Dich nehme ich zu mir als mein alles;
schenke mir dein Herz, o Maria“ (Abhandlung über die wahre Andacht zu Maria,
Nr. 266).
In seinem Testament schrieb der neue Selige: „Als das Konklave der
Kardinäle am 16. Oktober 1978 Johannes Paul II. wählte, sagte der polnische Primas
Kardinal Stefan Wyszyński zu mir: »Die Aufgabe des neuen Papstes wird es sein, die
Kirche ins Dritte Jahrtausend zu führen«.“ Und weiter führte er aus: „[Ich möchte]
noch einmal Dankbarkeit gegenüber dem Heiligen Geist für das große Geschenk des Zweiten
Vatikanischen Konzils zum Ausdruck bringen, als dessen Schuldner ich mich gemeinsam
mit der ganzen Kirche – und vor allem mit dem gesamten Episkopat – fühle. Ich bin
überzeugt, daß es den neuen Generationen noch lange aufgegeben sein wird, die Reichtümer
auszuschöpfen, die dieses Konzil des 20. Jahrhunderts uns geschenkt hat. Als Bischof,
der an dem Konzilsgeschehen vom ersten bis zum letzten Tag teilgenommen hat, möchte
ich dieses große Erbe all jenen anvertrauen, die in Zukunft gerufen sein werden, es
zu verwirklichen. Ich selbst aber danke dem Ewigen Hirten dafür, daß er mir erlaubt
hat, dieser großartigen Sache während all der Jahre meines Pontifikats zu dienen.“
Und was ist diese „Sache“? Es ist dieselbe, die Johannes Paul II. in seiner ersten
feierlichen Messe auf dem Petersplatz mit den denkwürdigen Worten angesprochen hat:
„Habt keine Angst! Öffnet, ja reißt die Tore weit auf für Christus!“. Was der neugewählte
Papst von allen erbat, das hat er selbst als erster vorgemacht: Er hat die Gesellschaft,
die Kultur, die Bereiche der Politik und der Wirtschaft für Christus geöffnet. Mit
der Kraft eines Riesen – die er von Gott erhalten hat – hat er eine Tendenz umgedreht,
die unumkehrbar erscheinen mochte. Mit seinem Zeugnis des Glaubens, der Liebe und
des apostolischen Mutes, das von einer großen Menschlichkeit begleitet wurde, hat
dieser beispielhafte Sohn der polnischen Nation den Christen auf der ganzen Welt geholfen,
keine Angst zu haben, sich Christen zu nennen, zur Kirche zu gehören und vom Evangelium
zu sprechen. Mit einem Wort, er hat uns geholfen, keine Angst vor der Wahrheit zu
haben, denn die Wahrheit ist die Garantie der Freiheit. Noch einmal ganz kurz, er
hat uns die Kraft wiedergegeben, an Christus zu glauben, weil Christus Redemptor
hominis, der Erlöser des Menschen ist – das Thema seiner ersten Enzyklika und
der Leitgedanke aller anderen.
Als Karol Wojtyła den Stuhl Petri bestieg, brachte
er sein tiefgehendes Nachdenken über die Auseinandersetzung zwischen Marxismus und
Christentum mit, in deren Mitte der Menschen steht. Seine Botschaft war diese: Der
Mensch ist der Weg der Kirche, und Christus ist der Weg des Menschen. Mit dieser Botschaft,
die die große Hinterlassenschaft des Zweiten Vatikanischen Konzils und seines „Steuermanns“,
des Dieners Gottes Papst Paul VI. ist, hat Johannes Paul II. das Volk Gottes geleitet.
So hat es die Schwelle des Dritten Jahrtausends überschritten, die er gerade mit Blick
auf Christus die „Schwelle der Hoffnung“ genannt hat. Ja, mittels des langen Wegs
der Vorbereitung auf das Große Jubiläum hat er den Christen eine neue Orientierung
auf die Zukunft hin gegeben, auf eine Zukunft mit Gott, welcher die Geschichte übersteigt,
doch ebenso auf die Geschichte einwirkt. Diesen Dienst der Hoffnung, der in gewisser
Weise dem Marxismus und der Fortschrittsideologie überlassen worden war, hat er zu
Recht wieder für das Christentum beansprucht, indem er ihm das authentische Aussehen
der Hoffnung wieder gab, in der Geschichte in einem Geist der „Erwartung“ zu leben,
in einer persönlichen wie gemeinschaftlichen Existenz zu leben, die sich an Christus
orientiert, der die Fülle des Menschen und die Vollendung seiner Suche nach Gerechtigkeit
und Frieden ist.
Schließlich möchte ich auch Gott Dank sagen für die persönliche
Erfahrung, die er mir gewährt hat, über eine lange Zeit Mitarbeiter des seligen Papstes
Johannes Pauls II. gewesen zu sein. Schon früher hatte ich Gelegenheit, ihn kennen
und schätzen zu lernen. Doch ab 1982, als er mich als Präfekt der Kongregation für
die Glaubenslehre nach Rom berief, konnte ich ihn 23 Jahre lang aus der Nähe erleben
und habe seine Person immer mehr geschätzt. Mein Dienst wurde durch seine spirituelle
Tiefe und den Reichtum seiner Intuition getragen. Sein beispielhaftes Beten hat mich
immer berührt und erbaut: Er tauchte ein in die Begegnung mit Gott, auch inmitten
der vielfältigen Obliegenheiten seines Dienstes. Und dann sein Zeugnis im Leiden:
Der Herr hat ihm allmählich alles genommen, aber er ist stets der „Fels“ geblieben,
wie Christus es gewollt hat. Seine tiefe Demut, die in der inneren Einheit mit Christus
wurzelte, hat es ihm erlaubt, die Kirche weiter zu leiten und der Welt eine noch beredtere
Botschaft zu geben – gerade in der Zeit, als seine physischen Kräfte abnahmen. So
hat er in einzigartiger Weise die Berufung eines jeden Priesters und Bischofs verwirklicht:
ganz eins zu werden mit jenem Jesus, den er täglich in der Eucharistie empfängt und
darbringt.
Selig bist du, geliebter Papst Johannes Paul II., weil du geglaubt
hast! Wir bitten dich, stärke vom Himmel her weiter den Glauben des Volkes Gottes.
Amen.