Karfreitag im Petersdom: „Wahrhaftig, er war Gottes Sohn!“
Die Predigt am Karfreitag hält traditionell der Prediger des päpstlichen Hauses, Kapuzinerpater
Raniero Cantalamessa. Wir dokumentieren seine Predigt im Wortlaut.
Mit seinem
Leiden, schreibt Paulus an Timotheus, hat „Jesus Christus vor Pontius Pilatus das
gute Bekenntnis abgelegt und ist als Zeuge dafür eingetreten“ (1 Tim 6, 13). Wir fragen
uns: Zeugnis von wem? Nicht von der Wahrheit seines Lebens und dessen Grundes. Viele
sind gestorben und sterben noch heute um einer falschen Sache willen in dem Glauben,
dass es richtig sei. Die Auferstehung ist das, was die Wahrheit über Christus bezeugt,
denn Gott hat Jesus „vor allen Menschen dadurch ausgewiesen, dass er ihn von den
Toten auferweckte“ (vgl. Apg 17, 31). Der Tod bezeugt nicht die die Wahrheit Jesu,
sondern seine Liebe. Von dieser Liebe ist sogar der Tod der größte Beweis: „Es gibt
keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 15,
13).
Man könnte noch einwenden, dass ein noch größerer Beweis der Liebe als
sein Leben für die Freunde zu geben, wäre, sein Leben für die Feinde hinzugeben. Aber
das ist genau das, was Jesus tat: „Christus ist schon zu der Zeit, da wir noch schwach
und gottlos waren, für uns gestorben. Dabei wird nur schwerlich jemand für einen Gerechten
sterben; vielleicht wird er jedoch für einen guten Menschen sein Leben aufs Spiel
setzen. Gott aber hat seine Liebe zu uns darin erwiesen, dass Christus für uns gestorben
ist, als wir noch Sünder waren“ schreibt der Apostel in seinem Brief an die Römer
(Röm 5, 6–8). „Wir wurden geliebt, als wir noch Feinde waren, um als Freunde angenommen
werden zu können.“ [1]Eine einseitige „Theologie des Kreuzes“ kann uns das Wesentliche
vergessen machen. Das Kreuz bedeutet für die Welt nicht nur das Urteil Gottes, Widerlegung
ihrer Weisheit und Offenbarung ihrer Schuld. Es ist nicht das Nein Gottes gegenüber
der Welt, sondern das Ja der Liebe: „Die Ungerechtigkeit, das Schlechte als eine Realität“,
schreibt der Heilige Vater in seinem letzten Buch über Jesus, „kann nicht einfach
ignoriert und so stehen gelassen werden. Es muss verdaut und besiegt werden. Das ist
wahre Barmherzigkeit. Und dass Gott, da die Menschen dazu nicht in der Lage sind,
genauso auch jetzt handelt – das ist Gottes bedingungslose Güte“. [2]
Aber
wie können wir den Mut aufbringen, von Gottes Liebe zu sprechen, während wir die vielen
menschlichen Tragödien vor Augen haben, wie die niederschmetternde Katastrophe in
Japan? Überhaupt nicht mehr darüber sprechen? Aber darüber im Schweigen zu verharren
würde bedeuten, den Glauben zu verraten und den Sinn des Mysteriums, das wir gerade
feiern, zu ignorieren.Es ist eine Wahrheit, am Karfreitag laut stark zu verkünden.
Derjenige, den wir am Kreuz betrachten, ist eigentlich Gott „in persona“. Ja, und
auch der Mensch Jesus Christus von Nazareth, aber dieser ist eins mit dem Sohn des
ewigen Vaters. Bis man nicht das für den christlichen Glauben grundlegende Dogma –
die erste dogmatische Definition des Konzils von Nicäa –, dass Jesus Christus der
Sohn Gottes, Gott selbst und aus derselben Substanz wie der Vater ist, erkennt und
ernst nimmt, bleibt der menschliche Schmerz ohne Antwort.
Man kann nicht sagen,
dass „die Frage Hiobs unbeantwortet geblieben sei“, dass auch der christliche Glaube
keine Antwort auf den menschlichen Schmerz geben könne, wenn man im Voraus die Antwort
ablehnt, die er darauf zu geben hat. Was kann man tun, um jemanden zu überzeugen,
dass ein bestimmtes Getränk kein Gift enthält? Man muss als erster davon trinken,
vor dem anderen! So hat Gott an den Menschen gehandelt. Er selbst hat den bitteren
Kelch des Leidens getrunken. Er kann also nicht vergiftet sein, der menschliche Schmerz,
er kann nicht nur schlecht, ein Verlust oder absurd sein, wenn Gott selbst beschlossen
hat, davon zu kosten. Am Grunde des Kelches muss eine Perle verborgen sein.Den Namen
dieser Perle kennen wir: Auferstehung! „Ich bin überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen
Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden
soll“ (Röm 8, 18); und in Anlehnung dazu „Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen:
Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher
war, ist vergangen“ (Offb 21, 4).Wenn der Lauf des Lebens hienieden beendet wäre,
könnte man wirklich verzweifeln an dem Gedanken an die Millionen und vielleicht Billiarden
benachteiligten Menschen, die vom Anfang an durch Armut und Unterentwicklung an der
Startlinie genagelt bleiben, ohne jemals Gelegenheit gehabt zu haben, am „Rennen“
Teil zu nehmen. Und das, während sich die Wenigen jeden Luxus erlauben und wissen
einfach nicht, wie sie die extravaganten Summen, die sie verdienen, ausgeben sollen.
Aber so ist es nicht. Der Tod gleicht Differenzen nicht nur aus, sondern kehrt sie
auch um. „Als nun der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen.
Auch der Reiche starb und wurde begraben. In der Unterwelt, wo er qualvolle Schmerzen
litt, blickte er auf und sah von weitem Abraham, und Lazarus in seinem Schoß." (Lk
16, 22–23). Wir können dieses Schema nun nicht einfach übertragen auf die gesellschaftliche
Realität, aber es ermahnt uns, dass der Glauben an die Auferstehung niemanden in seiner
ruhigen Existenz verharren lässt. Wir werden daran erinnert, dass die Maxime „leben
und leben lassen“ sich niemals in die Maxime „leben und sterben lassen“ verwandeln
darf. Die Antwort des Kreuzes richtet sich nicht nur an die Christen, sondern an alle,
da der Sohn Gottes für jeden einzelnen Menschen gestorben ist. Dem Mysterium der Erlösung
sind zwei Aspekte inne: ein objektiver und ein subjektiver; in ihm liegen sowohl die
Tatsache selbst und die Bewusstwerdung als auch die Antwort des Glaubens an ihn verborgen.
Ersterer weitet sich zum zweiten aus. “Wir müssen festhalten, – so heißt es in einem
Text des Zweiten Vatikanischen Konzils – dass der Heilige Geist allen die Möglichkeit
anbietet, diesem österlichen Geheimnis in einer Gott bekannten Weise verbunden zu
sein.“ [3]Eine der Arten, am österlichen Mysterium teilzuhaben, ist sicher das Leiden:
„Leiden – schrieb Johannes Paul II. nach dem Attentat auf ihn und während des darauf
folgenden Krankenhausaufenthaltes – bedeutet, besonders empfindsam und sensibel für
die Werke der rettenden Kraft Gottes zu werden, die in der Menschwerdung Christi offenbar
wurde“. [4] Das Leiden, jedes Leiden, aber besonders das der Unschuldigen, bringt
uns auf wunderbare Weise, „und nur Gott allein bekannt“ mit dem Kreuz Christi in Kontakt.
In der Zeit nach Christus sind diejenigen, die „gutes Zeugnis abgelegt“ und „den Kelch
getrunken haben“, die Märtyrer! Anfangs wurden die Berichte von ihrem Sterben als
„Passion“ bezeichnet, Passionen von der Art der Leiden Jesu, von denen wir gerade
noch gehört haben. Die christliche Welt wird noch einmal durch die Prüfung des Märtyrertums
angeschaut, von dem man glaubte, dass es mit dem Fall der totalitären atheistischen
Regime beendet wäre. Wir können aber über ihre Zeugnisse kein Stillschweigen bewahren.
Die ersten Christen verehrten ihre Märtyrer. Die Taten ihrer Märtyrer wurden sowohl
gelesen als auch zwischen den Kirchen mit großer Ehrfurcht verbreitet. Gerade heute,
am Karfreitag 2011, sind die Christen in einem großen Land Asien betend und schweigend
durch die Straßen einiger großer Städte gezogen, um die lauernde Bedrohung abzuwenden. Das
unterscheidet die authentischen Taten der Märtyrer von den legendenhaften, die nach
dem Ende der Verfolgungen konstruiert wurden: In den ersteren finden sich kaum Spuren
von Polemik gegenüber den Verfolgern; die ganze Aufmerksamkeit konzentriert sich auf
die Heldenhaftigkeit der Märtyrer, nicht auf die Verderbtheit der Richter und Henker.
Der heilige Cyprian ordnete den Seinen sogar an, seinem Henker 25 Goldmünzen dafür
zu geben, dass er ihn köpfte. Es gab einige unter seinen Schüler, die im Sterben sagten:
„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“. „Das Blut Jesu – schreibt
der Heilige Vater in seinem letzten Buch – spricht eine andere Sprache als die in
Hinsicht auf Abel (Hebr 12, 24): habe nicht Rache und Bestrafung im Sinn, sondern
Aussöhnung“. [5] Auch die Welt beugt das Knie vor den modernen Zeugnissen des Glaubens.
So erklärt sich auch der unvorhergesehene Erfolg des Films „Von Menschen und Göttern“
in Frankreich, der von den Wechselfällen der sieben im März 1996 in Tibhirine hingeschlachteten
Zisterziensermönchen erzählt. Und wie kann man nicht in Bewunderung verfallen, wenn
man die Worte des politisch aktiven, katholischen Mannes, Shahbaz Bhatti, liest, der
letzten Monat um seines Glaubens willen hingerichtet wurde? Er hat sein Zeugnis auch
uns hinterlassen, seinen Brüdern im Glauben, und es wäre undankbar, es einfach in
Vergessenheit geraten zu lassen. „Mir sind vom Staat andere Ämter angeboten worden“,
schreibt er, „und ich bin gebeten worden, meinen Kampf aufzugeben; aber ich habe immer
abgelehnt, sogar vor dem Hintergrund, mein eigenes Leben zu riskieren. Ich habe nicht
Popularität im Sinn, auch möchte ich keine Machtposition innehaben. Ich möchte nur
einen Sitz zu Füßen Jesu. Ich möchte, dass mein Leben, mein Charakter und meine Taten
für mich sprechen und zeigen, dass ich Jesus Christus folge. Dieser Wunsch ist so
stark in mir, dass ich mich für privilegiert halten möge, falls, in meiner Bemühung
und in meinem Kampf den Bedürftigen, Armen und verfolgten Christen meines Landes zu
helfen, Jesus das Opfer meines Lebens annehmen möge. Ich möchte für Jesus leben und
für ihn möchte ich sterben“. Man scheint in diesen Worten den Märtyrer Ignatius von
Antiochia zu hören, als er nach Rom kam, um das Martyrium auf sich zu nehmen. Das
Schweigen der Opfer rechtfertigt die schuldhafte Gleichgültigkeit der Welt vor ihren
Leiden nicht. „Der Gerechte kommt um“, klagt der Prophet Jesaja „doch niemand nimmt
es sich zu Herzen. Die Frommen werden dahingerafft, doch es kümmert sich niemand darum“
(Jes 57, 1).
Wie wir gesehen haben, sind die christlichen Märtyrer nicht die
einzigen, die um uns herum sterben und leiden. Was können wir aber dem, der nicht
glaubt, anderes anbieten als unsere Sicherheit im Glauben, die eine Erlösung von den
Schmerzen bedeutet? Wir können leiden mit denen, die leiden, weinen mit denen, die
weinen (Röm 12, 15). Vor der Verkündigung von Auferstehung und Leben, vor der Trauer
der Schwestern des Lazarus, „da weinte Jesus“ (Joh 11, 35). In diesem Augenblick können
wir besonders mit dem japanischen Volk leiden und weinen, das einer der schlimmsten
Naturkatastrophen der Geschichte ausgesetzt ist. Wir können diesen Brüdern im Menschsein
auch sagen, dass wir sie bewundern für ihre Würde, ihr Beispiel des Anstandes und
gegenseitiger Hilfe, das sie der Welt gegeben haben. Die Globalisierung hat wenigstens
diesen Vorteil: Der Schmerz eines Volkes wird zum Schmerz aller, zieht die Solidarität
aller nach sich. Das gibt Anlass dazu zu entdecken, dass wir eine menschliche Familie
sind, verbunden im Guten wie im Bösen. Es hilft, die Grenzen der Rassen, Farben und
Religionen zu überwinden. Wie es in dem Vers eines unserer Dichter heißt, „Menschen,
Frieden! In der gebeugten Erde ist zu viel ein Mysterium“. [6]Wir müssen aber auch
eine Lehre aus solchen Ereignissen wie diesem ziehen. Erdbeben, Orkane und anderes
Unglück, das die Schuldigen gemeinsam mit den Unschuldigen schlägt, ist niemals eine
Strafe Gottes. Das Gegenteil zu behaupten würde bedeuten, Gott und die Menschen zu
beleidigen. Sie sind aber eine Ermahnung: in diesem Fall, die Ermahnung, dass wir
uns nicht der Illusion hingeben sollten, dass Wissenschaft und Technik ausreichten,
uns zu retten. Wenn wir uns nicht Grenzen zu setzen wissen, können diese, gerade diese,
wie wir gesehen haben, zur größten Gefahr von allen werden. Es gab auch im Moment
des Todes Christi ein Erdbeben: „Als der Hauptmann und die Männer, die mit ihm zusammen
Jesus bewachten, das Erdbeben bemerkten und sahen, was geschah, erschraken sie sehr
und sagten: Wahrhaftig, das war Gottes Sohn!“ (Mt 27, 54). Aber es gab auch noch ein
anderes „noch größeres“ Beben im Moment seiner Auferstehung: „Plötzlich entstand ein
gewaltiges Erdbeben; denn ein Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat an das Grab,
wälzte den Stein weg und setzte sich darauf“ (Mt 28, 2). So wird es immer sein. Auf
jedes Erdbeben des Todes folgt ein Erdbeben der Auferstehung und des Lebens. Jemand
hat einmal gesagt: „Nur noch ein Gott kann uns retten“. [7] Wir haben die Sicherheit
und die Garantie, dass er das tun wird, denn „Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass
er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht,
sondern das ewige Leben hat“ (Joh 3, 16). Bereiten wir uns vor, mit neuer Überzeugung
und dankbarer Ergriffenheit die Worte der Liturgie zu singen: Ecce lignum crucis,
in quo salus mundi pependit: Siehe das hölzerne Kreuz, an dem die Rettung der
Welt gehangen hat. Venite, adoremus: Kommt, lasst uns anbeten.
Anmerkungen: [1]
Hl. Augustinus, Zum Ersten Johannes Brief 9,9 (PL 35, 2051). [2] Vgl. J. Ratzinger
- Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Teil II, Herder 2011, S. 151. [3] Gaudium
et spes, 22. [4] Salvifici doloris, 23. [5] J. Ratzinger - Benedikt XVI., op.
cit. S.211. [6] G. Pascoli, I due fanciulli (Die zei Kinder). [7] M. Heidegger,
Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, Gesamtausgabe (Bd. 16), I. Abteilung (Veröffentlichte
Schriften 1910-1976), Vittorio Klostermann Frankfurt 1975.