Papst Benedikt XVI.
hat Christen und Agnostiker zu respektvollem Umgang und zu einem Dialog über die großen
Fragen der Menschheit aufgerufen. Gemeinsam könnten glaubende und nichtglaubende Menschen
für eine Welt der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eintreten. Sie sollten Berührungsängste
und gegenseitige Vorbehalte überwinden, forderte er in einer Videobotschaft. Die Ansprache
wurde am Freitagabend bei einem Jugendtreffen in Paris veröffentlicht. Mit der Feier
vor der Kathedrale Notre Dame ging die Auftaktveranstaltung einer neuen Vatikan-Initiative
zum Dialog zwischen Christen und Atheisten zu Ende.
Hier die Botschaft
im Wortlaut in der deutschen Übersetzung
Liebe Jugendliche, liebe Freunde!
Auf
Einladung von Kardinal André Vingt-Trois, dem Erzbischof von Paris, und von Kardinal
Gianfranco Ravasi, dem Präsidenten des Päpstlichen Rates für die Kultur, habt ihr
euch so zahlreich auf dem Vorplatz von Notre-Dame de Paris versammelt. Ich grüße euch
alle, auch die Brüder und Freunde der Gemeinschaft von Taizé. Ich bin dem Päpstlichen
Rat dankbar, daß er meinen Vorschlag, in der Kirche „Vorhöfe der Völker“ zu öffnen,
aufgegriffen und weiterentwickelt hat. Der Vorhof steht als Symbol für den offenen
Raum auf dem ausgedehnten Platz beim Tempel in Jerusalem, der es all jenen erlaubte,
die nicht dem jüdischen Glauben angehörten, sich dem Tempel zu nähern und über Religion
zu sprechen. An diesem Ort konnten sie den Schriftgelehrten begegnen, über den Glauben
reden und auch zum unbekannten Gott beten. Damals war der Vorhof jedoch zugleich ein
Ort des Ausschlusses, weil die „Heiden“ nicht das Recht hatten, den heiligen Raum
zu betreten. Jesus Christus ist aber gekommen, um „durch sein Sterben die trennende
Wand der Feindschaft“ zwischen Juden und Heiden niederzureißen. „Er hob das Gesetz
samt seinen Geboten und Forderungen auf, um die zwei in seiner Person zu dem einen
neuen Menschen zu machen. Er stiftete Frieden …“ (Eph 2,14-17), wie uns der
heilige Paulus sagt.
Im Herzen dieser „Stadt der Lichter“, vor Notre-Dame
de Paris, diesem wunderbaren Meisterwerk der religiösen Kultur Frankreichs, öffnet
sich ein großer Platz, um der respektvollen und freundschaftlichen Begegnung von Menschen
verschiedener Überzeugungen neue Impulse zu geben. Ihr Jugendlichen, gläubig und nichtgläubig,
die ihr hier versammelt seid, wollt einander heute abend wie auch im täglichen Leben
begegnen, um über die großen Fragen der menschlichen Existenz zu sprechen. Heutzutage
betrachten sich viele als keiner Religion zugehörig, aber sie wünschen sich eine neue,
freiere Welt, die gerechter und solidarischer ist, friedlicher und glücklicher. Ich
wende mich an euch, weil es mir wichtig ist, was ihr euch zu sagen habt: Ihr Nichtgläubigen
fordert von den Gläubigen, ein Lebenszeugnis zu geben, das mit ihrem Bekenntnis übereinstimmt,
und jedes Zerrbild von Religion abzulehnen, das sie unmenschlich macht. Ihr Gläubigen
wollt euren Freunden sagen, daß dieser Schatz, den ihr in euch tragt, es wert ist,
ihn weiterzugeben, über ihn zu sprechen und über ihn nachzudenken. Die Frage Gottes
ist keine Gefahr für die Gesellschaft, sie bringt nicht das menschliche Leben in Gefahr!
Die Frage Gottes darf nicht bei den großen Fragen unserer Zeit fehlen.
Liebe
Freunde, ihr seid aufgerufen, zwischen euch Brücken zu bauen. Ihr wißt die Gelegenheit
zu nutzen, die sich euch bietet, tief in eurem Bewußtsein, in gründlichen und vernünftigen
Überlegungen Möglichkeiten eines wegbereitenden und tiefen Dialogs zu finden. Ihr
habt einander viel zu sagen. Verschließt euch nicht den Herausforderungen und Problemen,
die vor euch liegen.
Ich glaube tief und fest daran, daß die Begegnung zwischen
der Wirklichkeit des Glaubens und jener der Vernunft es dem Menschen ermöglicht, sich
selbst zu finden. Zu oft jedoch beugt sich die Vernunft dem Druck der Interessen und
dem Vorwand der Nützlichkeit, gezwungen, letztere als ultimative Begründung anzuerkennen.
Die Suche nach der Wahrheit ist nicht einfach. Ein jeder ist aufgerufen, sich mutig
für die Wahrheit zu entscheiden, denn es gibt keine Abkürzungen zur Glückseligkeit
und zur Schönheit eines erfüllten Lebens. Jesus sagt es im Evangelium: „Die Wahrheit
wird euch befreien“ (Joh 8,32).
Es liegt an euch, liebe Jugendliche,
in euren Ländern und in Europa dafür zu sorgen, daß Gläubige und Nichtgläubige den
Weg des Gesprächs wieder finden. Die Religionen dürfen keine Angst vor echter Laizität
haben, einer offenen Laizität, die es jedem erlaubt, seinen Glauben gemäß seinem Gewissen
zu leben. Wenn es darum geht, eine Welt der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
zu schaffen, müssen Gläubige und Nichtgläubige sich frei fühlen, sie selbst
sein zu können, gleich in ihren Rechten, um ihr persönliches und gemeinschaftliches
Leben in Treue zu ihren Überzeugungen führen zu können, und sie müssen untereinander
Brüder sein. Einer der Gründe für diesen „Vorhof der Völker“ besteht darin,
sich für diese Brüderlichkeit über alle Überzeugungen hinaus einzusetzen, ohne dabei
die Unterschiede abzustreiten. Und – um noch tiefer zu gehen – anzuerkennen, daß nur
Gott in Jesus Christus uns innerlich befreit und es uns schenkt, einander in Wahrheit
als Brüder zu begegnen.
Die erste anzunehmende Haltung oder Tat, die ihr gemeinsam
setzen könnt, besteht darin, jeden Menschen zu respektieren, ihm zu helfen und ihn
zu lieben, weil er ein Geschöpf Gottes ist und in gewisser Weise der Weg, der zu Gott
führt. Wenn ihr das, was ihr heute Abend erlebt, verbreitet, tragt ihr dazu bei, die
Mauern der Angst vor dem anderen, vor dem Fremden, vor dem, der euch nicht ähnlich
ist, zu überwinden. Diese Angst entsteht oft aus dem gegenseitigen Unwissen, aus der
Skepsis oder der Gleichgültigkeit. Achtet darauf, ohne Unterschied die Bande unter
allen Jugendlichen zu festigen und vor allem auch jene nicht zu vergessen, die in
Armut oder Einsamkeit leben, die unter Arbeitslosigkeit oder Krankheit leiden oder
sich am Rande der Gesellschaft fühlen.
Liebe Jugendliche, ihr könnt nicht
nur eure Lebenserfahrung miteinander teilen, sondern auch euren Zugang zum Gebet.
Ihr Gläubigen und Nichtgläubigen auf diesem „Vorplatz des Unbekannten“, ihr seid eingeladen,
auch in den heiligen Raum einzutreten, dieses wunderbare Portal von Notre-Dame zu
durchschreiten und die Kathedrale für einen Augenblick des Gebets zu betreten. Für
einige von euch wird dieses Gebet ein Gebet an einen Gott sein, den sie im Glauben
kennen, aber für andere kann dies auch ein Gebet an einen unbekannten Gott sein. Liebe
nichtglaubende Jugendliche, die ihr euch mit jenen vereint, die an diesem Tag der
Verkündigung des Herrn im Inneren von Notre-Dame beten, öffnet eure Herzen den Texten
der Heiligen Schrift, laßt euch von der Schönheit der Gesänge berühren und, wenn ihr
wirklich wollt, laßt zu, daß sich eure Gefühle zu dem unbekannten Gott erheben. Ich
freue mich, daß ich mich am heutigen Abend zur Eröffnung des Vorhofs der Völker an
euch wenden konnte. Ich hoffe, daß ihr auch an weiteren Treffen teilnehmen werdet,
vor allem am Weltjugendtag im kommenden Sommer in Madrid. Jener Gott, den die Gläubigen
kennenlernen, lädt euch ein, ihn zu entdecken und immer mehr in ihm zu leben. Habt
keine Angst! Auf dem Weg in eine neue Welt, den ihr zusammen geht, seid ihr Suchende
des Absoluten und Suchende nach Gott – auch ihr, für die Gott ein unbekannter Gott
ist. Er, der euch alle liebt, segne und beschütze euch. Er zählt auf euch, daß ihr
füreinander und für die Zukunft Sorge tragt. Und ihr könnt auf Ihn zählen!