Staatsrechtler Mückl: „Urteil von 2009 wies schon Mängel auf“
Im November 2009 hatte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof die italienischen
Schulkreuze noch als Verstoß gegen das Erziehungsrecht der Eltern gewertet. Hintergrund
für das Urteil war die Klage einer Mutter gegen die Anbringung christlicher Symbole
in staatlichen Schulen. Die in Italien lebende Finnin hatte angegeben, diese verletzten
die Rechte von Schülern, die selbst keiner christlichen Religion angehörten. Bereits
nach der ersten Entscheidung des Gerichtshofes von 2009 hatte Radio Vatikan mit dem
Freiburger Staatsrechtler Stefan Mückl gesprochen (Juni 2010). Er wies den Straßburger
Richtern damals Fehlschlüsse und schwere handwerkliche Mängel nach. Welche, lesen
Sie hier.
Grundsätzlich bemängelt Mückl, dass der Streit um das Schulkreuz
viel zu wenig als öffentliche Debatte geführt wurde und wird. Und was die rechtliche
Seite betrifft: Der supranationale Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe
sich bei seiner ersten Entscheidung auf das Kruzifixurteil des deutschen Bundesverfassungsgerichtes
(1995) gestützt, ohne jedoch Fehler und die Besonderheiten des deutschen Urteils zu
berücksichtigen: „Alle Schwachpunkte der Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes
finden sich nun wieder in der Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes“.
Im
italienischen Fall hatte der Menschrechtsgerichtshof das Kreuz 2009 als Eingriff in
Grundrechte gewertet: Die Schule dürfe keine „Schaubühne missionarischer Aktivitäten“
sein, hieß es dort, staatliche Neutralität und Pluralismus müssten dort garantiert
sein. Das Kruzifix sei ein „genuin religiöses und appellatives Symbol“. In der Schule
sei es für die Kinder unausweichlich und könne als „emotional verstörend“ empfunden
werden.
Natürlich habe das Kruzifix eine spezifisch religiöse Bedeutung im
kirchlichen Kontext, so Mückl dazu. Wie jedes Symbol bedürfe aber auch das Kreuz der
Auflösung. Und die fiele eben je nach Kontext anders aus: „Der Symbolbetrachter wird
ja nicht zu einer Äußerung der Billigung oder Affirmation oder Anbetung gehalten,
es wird noch nicht einmal eine wie auch immer geartete Stellungnahme abverlangt.“
Das Symbol ist an sich also noch lange kein Aufruf zur Bekehrung, stellt der Jurist
klar.
Größtes Manko des Urteils von 2009 ist nach Mückl: Das Straßburger Gericht
habe den jeweiligen Einschätzungsspielraum der nationalen Regierung, in diesem Fall
Italien, komplett übergangen: „Diesen Beurteilungsspielraum hat der Gerichtshof in
der Vergangenheit stets respektiert und es nicht unternommen, seine eigene Einschätzung
an deren Stelle zu setzen. Von diesem Grundsatz findet sich in der Entscheidung von
2009 aber rein gar nichts.“
Mit dem ersten Kruzifixurteil von 2009 habe Straßburg
wohl europaweit Exempel statuieren wollen, vermutet der Staatsrechtler. Damit würde
das Gericht den eigenen Grundsätzen untreu: „Was die Kammer hier nun macht, ist, dass
sie letzten Endes die Rolle eines gesamteuropäischen Gesetzgebers einnehmen möchte,
indem sie die ihr richtig erscheinende Konzeption des Verhältnisses von Staat und
Kirche in die Form eines einzelfallbezogenen Judikates gießt.“ Den wirklichen Schaden
aus dieser Entscheidung habe damals letztlich nicht Italien, auch nicht das Kruzifix,
sondern der Gerichtshof selber getragen, und mit ihm die europäische Idee. Mückl:
„Es ist hier einer einzigen Kammer gelungen, in einer einzigen Entscheidung die Autorität
des gesamten Gerichtshofes aufs Spiel zu setzen, und zwar eine Autorität, die dieser
Gerichtshof bitter braucht, wenn es darum geht, in anderen Fällen, wo in des Wortes
wirklicher Bedeutung Menschenrechte auf dem Spiel stehen, diese auch tatsächlich zu
schützen.“