Im Heute glauben: Wort der deutschen Bischöfe an die Gemeinden
Liebe Schwestern und Brüder im Herrn!
In der österlichen Bußzeit hören wir
mit besonderer Aufmerksamkeit den Ruf des Herrn: „Kehrt um! Denn das Himmelreich ist
nahe“ (Mt 4,17). Der Ruf Jesu ist Mahnung und Zuspruch zugleich. Zuspruch deshalb,
weil Gott schon jetzt unter uns am Werk ist. Seine Liebe beginnt, die Herzen der Menschen
und damit die Welt zu verwandeln. Gott selbst ermöglicht uns die Umkehr, weil wir
nicht allein auf die eigenen Kräfte vertrauen müssen, sondern auf das vertrauen dürfen,
was Gott an uns tut. Gleichzeitig mahnt uns der Herr, den Ruf zur Umkehr ernst zu
nehmen und vertieft nach dem Willen Gottes zu fragen.
(1) Es gibt Anzeichen
dafür, dass wir uns im Blick auf die Geschichte unserer Kirche in Deutschland in einer
Übergangssituation befinden. Vor uns liegen Herausforderungen, die mit der veränderten
Rolle von Religion und Gottesglaube in einer säkularer gewordenen Gesellschaft zu
tun haben. Der Wandel der Lebensverhältnisse stellt viele Selbstverständlichkeiten
in Frage – gerade auch unseres religiösen Lebens und gewachsener Traditionen. Gewohntes
und bislang Tragendes bricht weg, oft in erschreckendem Ausmaß.
Die in jüngster
Zeit aufgedeckten Fälle sexuellen Missbrauchs durch Mitarbeiter der Kirche mögen ein
aktueller Anlass für einen erhöhten innerkirchlichen Gesprächsbedarf sein. Die eigentlichen
Fragen liegen freilich tiefer. Sie haben ihre Ursache im Auseinanderbrechen von Evangelium
und heutiger Kultur, das Papst Paul VI. einmal als das Drama unserer Zeitepoche bezeichnet
hat.1 An diesem zentralen Punkt gilt es anzusetzen und auf die Fragen einzugehen:
Stimmt es wirklich, dass Gottes Wort auch heute „Licht und Leben“ ist? Dass Gottes
Gebot uns Menschen nicht klein macht, sondern unserem Leben Würde verleiht und Freiheit
schenkt? Hat die Frohbotschaft wirklich die Kraft, schon jetzt unser Leben „im Vorgriff“
auf Gottes neue Schöpfung zu verändern? Was heißt es, im Heute zu glauben? Was gilt
es unbedingt zu bewahren, wenn die Gemeinschaft der Glaubenden überzeugend in einer
sich wandelnden Kultur „ Licht der Welt“ und „Salz“ sein will, das dem Leben Würze
gibt?
(2) In mancherlei Hinsicht sind Krisenzeiten besondere Gnadenzeiten.
Sie lenken den Blick auf das Wesentliche. Sie rufen zur Besinnung und zu neuer Entschiedenheit,
gerade auch angesichts von Mutlosigkeit und Resignation. In Krisenzeiten wächst oftmals
Neues, das vorher nicht im Blick war. Derzeit werden so manche Vorschläge gemacht,
wie die Zukunft unserer Kirche gesichert werden könnte. Aus diesen Wortmeldungen sprechen
oft eine tiefe Verbundenheit mit der Kirche und die Sorge um die Zukunft des Glaubens
in unserem Land. Viele bedrängt die Frage, wie es beispielsweise angesichts der weniger
werdenden Priester in der Seelsorge weitergehen kann. Dabei steht oftmals auch die
Sorge im Hintergrund, wie die nachwachsende Generation in den Glauben und die Kirche
hineinfinden kann. Wir möchten allen danken, die sich über das Erscheinungsbild, die
Aufgaben, Dienste und Ämter unserer Kirche Gedanken machen und nach Wegen der Erneuerung
suchen. Es ist verständlich, wenn in einer erregten Debatte bestimmte Aussagen
zugespitzt werden. Manches ist nicht zu Ende gedacht, anderes widerspricht sich. Vor
allem sollten manche „Kirchenvisionen“, die heute verbreitet werden, emotional „abgerüstet“
werden. An den Früchten erkennt man das Wirken des Geistes Gottes, nicht an Emotionen.
Dennoch gilt es, Intentionen zu würdigen und die vorgebrachten Argumente zu gewichten
und sachlich zu prüfen.
Manche verlangen eine Ausweitung der Zugangswege zum
priesterlichen Dienst. Die Begründung dafür ist oft der Hinweis auf einen pastoralen
Notstand in unseren Diözesen. Andere fordern die kirchliche Anerkennung von neuen
Lebensformen, wie sie heute in der Gesellschaft üblich werden. Wieder andere erhoffen
sich in der Kirche eine größere Möglichkeit an Mitbestimmung über die schon bestehende
Räte- und Gremienstruktur hinaus. Andere kritisieren eine Gesellschaft, die zu sehr
mit sich beschäftigt sei und Gottes Anspruch und Anruf einfach verdränge. Wieder andere
wollen die Zumutungen des Evangeliums von allen angeblich zeitgebundenen Einkleidungen
befreien und für unser heutiges Empfinden „passend“ machen. Es besteht die Erwartung,
die Kirche müsse in ihrem Handeln transparenter werden und sich im eigenen Bereich
nach Maßstäben richten, die auch in der profanen Gesellschaft selbstverständlich seien.
Und schließlich sind auch jene Stimmen unüberhörbar, die alles beim Alten lassen wollen
und sogar meinen, die Misere der Kirche liege darin, ihrem eigenen Erbe und Selbstverständnis
gegenüber nicht treu genug zu sein. Schon diese flüchtige Sichtung der Problemanzeigen
macht deutlich, dass dringender Gesprächsbedarf besteht.
Zum Weg der Kirche
durch die Zeiten gehört ohne Zweifel die immer neue Bereitschaft zur Umkehr, zu innerer
und äußerer Reform. Aber was ist wirklich eine Erneuerung der Kirche, die dem Geist
des Evangeliums entspricht? Was ist Umkehr, wie sie der Herr von uns verlangt?
(3)
In dieser Situation, die durch Sorgen, Anfragen und Spannungen in unseren Bistümern
gekennzeichnet ist, möchten wir Bischöfe die Initiative zu einer gemeinsamen Besinnung
ergreifen. Wir sehen die reale Gefahr, dass wir uns in unserer Kirche so zerstreiten,
dass Brücken abgebrochen und bestehende Einheit aufgegeben werden. Auf Barrikaden
lässt sich bekanntlich schlecht miteinander reden.
Die Deutsche Bischofskonferenz
lädt darum für die kommenden vier Jahre zu einem Gesprächsprozess ein, der dem Glaubensweg
unserer Kirche in Deutschland in das anbrechende neue Jahrhundert hinein theologisches
Profil und kirchlichen Zusammenhalt verleihen soll. Wir müssen, um ein uns vertrautes
Bild aufzugreifen, gemeinsam in „Exerzitien“ gehen, von den Bischöfen angefangen bis
hin zu denen, die im Begriff sind, aus Ärger oder Enttäuschung der Kirche den Rücken
zu kehren. In diesem Gesprächsprozess soll es um eine vertiefte Klärung und Vergewisserung
in Bezug auf das Zeugnis der Kirche in der Welt und ihre Sendung zu den Menschen gehen.
Dazu gehört die Förderung des innerkirchlichen Gesprächs über die Suche nach Gott
und die heute wichtigen Wege des Bekenntnisses (Martyria), über das Gebet und die
Verehrung Gottes (Liturgia) und den helfenden Beitrag der Kirche in der Gegenwartsgesellschaft
(Diakonia). Dieses Gespräch verlangt von allen Teilnehmenden eine geistlich geprägte
Offenheit.
Nicht eine Vielzahl neuer und zusätzlicher Veranstaltungen wird
der Motor dieses Prozesses sein, sondern die Nutzung der Gesprächs- und Begegnungsforen,
die vor allem in den Bistümern schon bestehen. Auf der Ebene der Deutschen Bischofskonferenz
wird sich dieses Gespräch auf folgende Weise gestalten:
Jährlich veranstaltet
die Bischofskonferenz ein größeres Treffen zu einem Jahresthema. Es soll Gläubige
aus vielen Bereichen der Kirche zusammenbringen und motivieren, dem Jahresthema nachzugehen.
Die Jahresthemen sind: 2011: Auftakt „Im Heute glauben: Wo stehen wir?“ 2012:
Diakonia der Kirche: „Unsere Verantwortung in der freien Gesellschaft“ 2013: Liturgia
der Kirche: „Die Verehrung Gottes heute“ 2014: Martyria der Kirche: „Den Glauben
bezeugen in der Welt von heute“ 2015: Abschluss und Feier des Konzilsjubiläums
Mit der Gemeinsamen Konferenz von Deutscher Bischofskonferenz und Zentralkomitee
der deutschen Katholiken sind zwei Projekte verabredet zu den Themen: „Priester und
Laien in der Kirche“ und „Präsenz der Kirche in Gesellschaft und Staat“.
Eine
Reihe von größeren kirchlichen Ereignissen soll den Gesprächsprozess fördern, wie
etwa der Besuch des Heiligen Vaters in Deutschland im September 2011, die Katholikentage
2012 und 2014, der Nationale Eucharistische Kongress in Köln 2013 und eine Reihe größerer
diözesaner Feiern bzw. Wallfahrten, z. B. die Heilig-Rock-Wallfahrt 2012 in Trier.
All das soll einmünden in das Gedenken des Konzilsjubiläums im Jahr 2015. Eine Auftaktveranstaltung
für den Gesprächsprozess ist unter der Überschrift „Im Heute glauben“ für den 8. und
9. Juli 2011 in Mannheim vorgesehen.
(4) Unser Gespräch ist von der Gewissheit
geleitet, dass in der Kirche Gottes Geist am Werk ist. Unsere Kirche in Deutschland
ist reich an geistlichen Begabungen. Glaube, Hoffnung und Liebe werden in unzähligen
Biographien konkret gelebt. Es gibt in unserer Mitte vielgestaltig praktizierte Heiligkeit
des Alltags. Es gibt Lebensweisheit, die sich nicht allein aus der Mentalität des
Machens speist, sondern um Wege zu Gott und den Mitmenschen weiß, die allein das Herz
kennt, etwa im einfachen Dasein für andere – um Gottes und des Mitmenschen willen.
In diesen Biographien leuchtet auf die kostbare „Freiheit, zu der Christus uns befreit“
(Gal 5,1).
Es wird immer deutlicher: Es geht heute zentral um den christlichen
Gottesglauben, der gerade angesichts eines neuen, bisweilen aggressiven Atheismus
an Substanz und Profil gewinnen muss. Wir müssen auch nach der Gestalt des öffentlichen
Zeugnisses der Kirche in einer säkularer werdenden Gesellschaft fragen. Es gilt darüber
nachzudenken, wie unsere Teilnahme an der heiligen Liturgie spiritueller und dadurch
einladender für Suchende und am Glauben Interessierte werden kann. Viel wird sich
für die Zukunft der Kirche in unserem Land daran entscheiden, ob es unter uns, besonders
auch in unserer Jugend, „auskunftswillige“ und „auskunftsfähige“ Christen gibt, die
Menschen unaufdringlich und doch selbstbewusst auf das Evangelium aufmerksam machen.
Es ist selbstverständlich, dass wir Antworten auf gegenwärtige Fragen auf der
Grundlage der Offenbarung und der Lehre der Kirche suchen, weil wir nur so in der
Wahrheit unseres Glaubens und in der Gemeinschaft der Weltkirche bleiben. Dies hindert
uns nicht an der verantwortlichen theologischen und spirituellen Rede über ernste
Probleme, setzt uns aber im Blick auf verbindliche Beschlüsse Grenzen. Die Impulse
des Zweiten Vatikanischen Konzils, das Glaubenszeugnis der Heiligen und die Wegweisung
großer Seelsorger werden uns bei diesen Gesprächen hilfreiche Orientierung geben können.
Liebe
Schwestern und Brüder, Manche von Ihnen werden die Erfahrung bestätigen: Es gibt
in anderen Erdteilen und Ländern Ortskirchen, die materiell viel weniger besitzen
als wir, die aber dennoch im Glauben fröhlicher und zuversichtlicher sind. Eigentlich
hindert uns nichts daran, auch hier bei uns mit ganzem Herzen und voller Zuversicht
Christen zu sein – es sei denn: unsere Sünden. Und dazu sagt die Schrift: „Wenn das
Herz uns auch verurteilt – Gott ist größer als unser Herz, und er weiß alles“ (1 Joh
3,20). Wir bitten Sie, sich nach dem Maß Ihrer Möglichkeiten auf unsere Gesprächsinitiative
einzulassen. Wir bitten Sie um Ihr Gebet für einen guten Verlauf dieses Prozesses.
Eine neue Zeit fordert uns heraus. Auch sie ist Gottes Zeit. Für die österliche Bußzeit
wünschen wir Ihnen Gottes Segen.
Für die zur Frühjahrs-Vollversammlung versammelten
deutschen Bischöfe Erzbischof Dr. Robert Zollitsch Vorsitzender der Deutschen
Bischofskonferenz Paderborn, den 17. März 2011