Lampedusa – diese Mittelmeerinsel südlich von Sizilien hat in den europäischen Nachrichtensendungen
längst einen festen Platz. Nur 8 km lang ist sie, aber in politischer Hinsicht ein
Gigant. Denn Woche für Woche werden neue Boote mit Flüchtlingen vom nur 130 km entfernten
Afrika an Lampedusas Küste gespült – immer mehr Arme und Verfolgte wollen hinein,
in die – so ihre Hoffnung – Schutz bietende „Festung Europa“. Etwa 15.000 Menschen
sollen seit 1998 bei ihrer Überfahrt nach Europa ums Leben gekommen sein. Europa schützt
sich derweil selbst: Neben Griechenland, wo die Regierung einen Grenzzaun zur Türkei
errichten will, versucht in diesen Monaten vor allem Italien, sich gegen illegale
Einwanderung abzuschotten. Seit Inkrafttreten eines Abkommens mit Libyen vom Mai 2009
zwingt das Land Flüchtlinge noch auf hoher See zur Umkehr – sie wurden in den letzten
Monaten hauptsächlich nach Libyen umgeleitet. Stefan Keßler ist Sprecher des Europäischen
Jesuiten-Flüchtlingsdienstes in Brüssel. Er sagte im Gespräch mit Radio Vatikan: „Wir
beurteilen dieses Verhalten der italienischen Behörden als klaren Rechtsbruch, als
klaren Bruch völkerrechtlicher Verpflichtungen. Schutzsuchende dürfen nicht einfach
zurückgeschoben werden, sondern haben einen Anspruch auf ein faires Überbrückungsverfahren.
Das kann nicht auf hoher See passieren. Das heißt, die Italiener schicken Leute zurück,
unter denen sich möglicherweise auch Menschen befinden, die einen Anspruch auf Schutz
haben.“
„Flickenteppich der Zuständigkeiten“ Für Stefan
Keßler ist der Flüchtlingsstau in den Grenzstaaten der Europäischen Union – Italien,
Spanien und Griechenland – hausgemacht. Und zwar von der EU selbst. Der Staatengemeinschaft
fehle derzeit eine einheitliche Strategie, um dem Andrang der Asylsuchenden zu begegnen.
Ein europaweit gültiges Verfahren sollte eigentlich bis 2012 auf die Beine gestellt
werden. Bisher handelt noch jeder EU-Staat in Asylfragen eigenverantwortlich: Das
Land, in das ein Asylsuchender zuerst seinen Fuß setzt, ist für den Schutzsuchenden
verantwortlich.
„Wir rechnen nicht damit, dass wir ab 2012 ein gemeinsames
Asylrecht haben werden, das den Namen auch verdient. Wir stehen einfach vor dem Problem,
dass die Mitgliedsstaaten der EU fortschrittliche Vorschläge der Kommission zurückweisen
und damit das Harmonisierungsverfahren blockieren. Wir stehen auch vor dem Problem,
dass viele Mitgliedstaaten nicht bereit sind, weitere Kompetenzen in diesem Bereich
an die EU abzugeben. Deshalb stehen wir derzeit noch vor einem Flickenteppich der
Zuständigkeiten und sind noch weit davon entfernt, ein gemeinsames europäisches System
zu entwickeln.“
Ein einheitliches Verfahren wird vor allem angesichts der
aktuell drohenden Massenflucht aus Nordafrika umso dringlicher. Es könnte ermöglichen,
Flüchtlinge auf die verschiedenen EU-Staaten zu verteilen. Das würde geteilte Verantwortung
und Entlastung der EU-Grenzländer bedeuten – und es käme vor allem den einzelnen Asylsuchenden
zugute, so Keßler. Auf eine solche Lösung drängen katholische Kirche und Menschenrechtsorganisationen
schon länger; erst diese Woche schlugen die Bischöfe Siziliens eine Strategie für
Italien vor, um dem drohenden Meer an Flüchtlingen aus Nordafrika zu begegnen: Die
italienische Regierung solle einen Integrationsfahrplan erarbeiten und ein Dekret
über außerordentliche Flüchtlingsströme prüfen, so die Bischöfe. Außerdem solle die
internationale Zusammenarbeit in den nordafrikanischen Ländern gestärkt werden.
Dass
die EU gar nichts tut, um die Ursachen des Exodus zu bekämpfen, stimmt freilich nicht:
Mit Wirtschaftshilfen und Programmen zur Entwicklungszusammenarbeit versucht sie,
die Lebensbedingungen in den nordafrikanischen Ländern zu verbessern. „Weist den Not
leidenden Menschen, die sich ein besseres Leben innerhalb der Festung Europa erhoffen,
die Alternativen in ihrer Heimat auf!“, so die Devise: Demokratie, Freiheit, Wohlstand
– sie sind das wohl beste Mittel gegen die Flüchtlingsflut. In dieser Richtung müsse
man aber noch mehr tun, mahnt der Sprecher des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes im Gespräch
mit Radio Vatikan. Und er geht dann auf einen Aspekt ein, der allzu gern verschwiegen
wird:
„Diktatorische Regimes sind keine guten Wirtschaftspartner“ Wirtschaftliche
Interessen stünden oft im Vordergrund der EU-Politik, so Keßler. Aus Angst um die
Energie- und Kraftstoffversorgung vergäßen die EU-Bürger oft den hohen Preis, den
die Bevölkerung in Unrechtsstaaten mit diktatorischen Regimes bezahle. Vor allem angesichts
der aktuellen Menschenrechtsverletzungen in Libyen müsse man bestehende Wirtschaftskontakte
überdenken und möglicherweise nach alternativen Wirtschaftspartnern suchen, mahnt
er. „Wenn ich also lese, dass eine europäische Wirtschaftsdelegation sich in
Syrien befindet, um mit dem dortigen diktatorischen Regime Verhandlungen zu führen,
dann ist das das Gegenteil von dem, was die EU jetzt tun sollte.“ Am Beispiel
Libyen ermutigt Stefan Keßler, die aktuellen politischen Veränderungen in den Staaten
Nordafrikas und des Nahen Ostens auch als Chance für uns in der „Festung Europa“ zu
sehen: „Nun würde es sicher auch unter einer demokratischen Regierung in Libyen
möglich sein, vernünftige Abkommen über Erdöllieferungen zu treffen. Diktatoren sind
nicht der einzige Garant für Wirtschaftsbeziehungen.“
Droht tatsächlich
eine Massenflucht? Allein im Jahr 2009 haben nach Angaben der europäischen
Statistikbehörde 260.000 Menschen in der EU Asyl aufgrund politischer oder religiöser
Verfolgung beantragt. Die Zahl der Menschen, die illegal in die EU einreisen über
den Land-, Luft- oder Seeweg ist bedeutend größer: Die EU-Kommission schätzt sie auf
500.000 und 1.000.000 Menschen jährlich. Angesichts der Konflikte in Nordafrika
hat vor allem Italien nun Angst vor einem Ansturm neuer Flüchtlinge. Außenminister
Franco Frattini warnte an diesem Mittwoch vor einem „Exodus biblischen Ausmaßes“ aus
bzw. über Nordafrika.