Strafverteidiger Schirach: „Anspruch auf ein objektives Verfahren – trotz Verjährung“
Schuld verblasst nicht
einfach, sie verändert sich und wird bestenfalls zu verantwortlichem Handeln reuiger
Täter. Daran erinnert mit Blick auf die kirchlichen Missbrauchsfälle der Berliner
Strafverteidiger Ferdinand von Schirach. Das Problem bei den Missbrauchsfällen sei
ja, dass sie strafrechtlich „zu ganz großen Teilen“ verjährt seien, so dass ein Ermittlungsverfahren
sofort eingestellt würde. Das sagte der bekannte Buchautor und Kolumnist Schirach
im Gespräch mit Radio Vatikan. Dennoch gebe es Handlungsspielraum, und hier wäre ein
offensiverer Umgang der Kirche mit den Missbrauchsfällen möglich gewesen: „Zunächst
einmal muss man sagen, dass die Kirche nicht sehr gut beraten gewesen ist. Solche
Probleme löst man nicht durch Schweigen, die löst man nur durch Offenheit. (…) Zivilrechtlich
ist die Verjährung etwas, was im Belieben der Parteien steht. (…) Die Kirche oder
die Institutionen, die daran beteiligt waren wie der Jesuitenorden oder die Benediktiner,
hätten sagen müssen, dass sie auf die Einrede der Verjährung verzichten. Verklagt
uns bitte! Wir möchten das vor einem ordentlichen Gericht geklärt haben. Das hätte
ich für den richtigen Weg gehalten. Das hätte ich der Kirche auch damals geraten.
Das wäre eben kein Lippenbekenntnis, und es wäre nicht wohlfeil. Dann muss man sagen,
dass man bezahlt, wenn man am Schluss verurteilt wird. Die Kinder, die heute erwachsen
sind und denen es damals passiert ist, haben den Anspruch auf ein objektives Verfahren,
in dem das geklärt wird. Das wäre hilfreich im Regelwerk der klugen Gesetze, im Regelwerk
der vernünftigen Gesetze zumindest.“
Schirach hat sich als Autor rund um
Fragen von Recht, Schuld und den dazugehörigen Dynamiken einen Namen gemacht. In seinen
Büchern „Schuld“ und „Verbrechen“ berichtet er über fiktive oder vielleicht auch nur
verfremdete Geschichten aus seiner juristischen Praxis, ohne moralische Urteile zu
fällen. Wenn Bürger sich um den oft schmalen Grat zwischen Recht und Unrecht, Schuld
und Unschuld, Tätern und Opfern bewusst sind, ist seiner Ansicht nach schon viel gewonnen:
„Die
Eisdecke ist nicht sehr dick. Die Eisdecke, das ist unsere ganze Kultur, das sind
unsere Errungenschaften und unser Bewusstsein eines vernünftigen Zusammenlebens. Immer
wieder bricht man da ein. Und die Menschen, die da einbrechen, versinken in dem kalten
Wasser und sterben schnell. Das ist der Moment, der für mich interessant ist. So lange
es gut geht und wir gut Schlittschuh laufen können auf diesem Eis, ist alles in Ordnung.
Aber die Schicht ist dünn.“