Schuld: Ein Gespräch mit dem Autor und Strafverteidiger Ferdinand von Schirach
Vor etwa einem Jahr
begann in Deutschland mit der Diskussion um die Missbrauchsfälle auch das Sprechen
über Schuld: die Schuld der Täter, die Schuld der Wegschauer, die Schuld der Institutionen.
Heute – ein Jahr später – wollen wir uns in dieser Sendung dem Thema nähern, allerdings
nicht von der kirchlichen oder psychologischen Perspektive, wir wollen auch nicht
das vergangene Jahr noch einmal aufrollen. Wir werden uns dem Thema literarisch
nähern. Ferdinand von Schirach ist Strafverteidiger in Berlin. Seit einigen Jahren
schreibt er auch, im letzten Jahr kam sein zweites Buch mit Kurzgeschichten auf den
Markt, es heißt „Schuld“ und genauso wie sein Vorgänger „Verbrechen“ berichtet es
moralfrei über fiktive oder vielleicht auch nur verfremdete Geschichten aus seiner
Praxis. Skurrile Geschichten sind es, grausame Geschichten, menschliche Geschichten.
Schuld – als Strafverteidiger und Autor hat Schirach einen eigenen Blick darauf.
Schirach:
„Moral – wir können Moral ja gar nicht definieren. Wir haben heute eine andere
Vorstellung von Moral als vor 200 Jahren oder vor 100 Jahren und in 100 Jahren werden
wir wieder eine andere Sicht haben.“
Ferdinand von Schirach schreibt Geschichten,
Geschichten von Verbrechen, aber dahinter auch immer Geschichten von Schuld, von schuldig
werden und vom Umgang damit. Manchmal lassen diese Geschichten den Leser sprachlos
zurück, manchmal verstört, manchmal lächelnd. Wie im echten Leben. Schirach belehrt
nicht, seine Bücher sind keine Lehrstücke.
RV: „In Ihrem zweiten Buch fallen
Sätze wie ‚Neunzehn Jahre lang hatten sie alles richtig gemacht’ – es geht darum,
dass sie nicht entdeckt wurden, nach dem sie jemanden erschlagen hatten – oder ‚alles,
war wir tun mussten, war Schweigen’, aus taktischen Gründen. Sind die Geschichten,
die Sie schreiben, unmoralische Geschichten?“
Schirach: „Das sind keine
unmoralischen Geschichten, ich versuche zu schreiben, wie die Dinge sind. Die Moral
und die Bewertung der Person, das soll der Leser selbst vornehmen. Das ist nicht meine
Aufgabe. Ich bin kein Pfarrer, ich richte nicht über Moral. Ein Strafverteidiger hat
auch nicht die Aufgabe, über Moral zu entscheiden. Auch ein Richter komischerweise
nicht immer.“
RV: „Erzählen Sie von einem moralfreien Feld?“
Schirach:
„Nein, überhaupt nicht, gar nicht. Aber ich möchte nicht urteilen. Ich möchte die
Geschichte erzählen. Jetzt ist es natürlich so, dass die Art und Weise, wie man erzählt
oder wie man jemanden darstellt auch immer ein Urteil ist, aber ich versuche schon,
dem Leser das Urteil selbst zu überlassen. Dabei gibt es auch komische Ergebnisse
dabei: es haben mir Leute geschrieben, die gesagt haben, dass sie wütend auf das Buch
sind, weil sie plötzlich auf der Seite des Täters seien. Das finde ich interessant.
Ich versuche das nicht zu werten.“
Obwohl das zweite Buch Schirachs ‚Schuld’
heißt, hat es so etwas wie einen geheimen Untertitel: ‚Schuld und Öffentlichkeit’.
Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich seine Figuren, die Frage nach der Öffentlichkeit
von Schuld dominiert den Umgang seiner Figuren mit ihren eigenen Tragödien und ihrer
Schuld.
Schirach: „Für die Personen ist die Öffentlichkeit oft etwas ganz
Schreckliches. Zum einen muss man sein Inneres der Öffentlichkeit mitteilen, was sehr
schwierig ist – das ist ja schon in einem Gespräch zu zweit oder zu dritt schwierig
– und zum anderen spielt die Öffentlichkeit keine ganz große Rolle bei der Bewältigung
eigener Schuld. Wenn man seine Frau getötet hat, dann ist die Öffentlichkeit in einem
Prozess, der ja in der Regel vier bis sechs Monate nach der Tat erfolgt, überhaupt
nicht entscheidend. Das Entscheidende ist, was dort innerlich mit einem passiert.
Dafür braucht man keinen Richter. Da ist man selbst der Richter. Meistens
ist man ein grausamer Richter und meistens kommt man damit auch nicht zurecht. Die
Erschütterung und das Verwundetsein des Täters ist oft nicht gespielt, obwohl das
meistens ein wenig kitschig und komisch aussieht, wenn da ein Mann, der gerade jemanden
zerstückelt hat, anfängt zu heulen. Aber das ist oft sehr echt und sitzt tief.“
RV:
„Würden Sie sagen, dass Sie durch Ihren Beruf und Ihre fiktionalen oder vielleicht
auch nur fiktionalisierten Geschichten Einblick haben in die schwarzen Seiten dessen,
was unser Menschsein oder unsere menschliche Gesellschaft ausmacht?“
Schirach:
„Ich finde es interessant, wie Sie fragen, weil Sie Begriffe benutzen wie ‚Moral’
und ‚schwarze Seiten’ und so etwas. Ich sehe das alles nicht so. Sondern: das alles
ist der Mensch. Das Merkwürdige, wenn man das lange macht als Strafverteidiger, ist
zu erkennen, dass der Mensch alles ist. Er kann also Figaros Hochzeit komponieren
oder den Tristan und er kann ins Weltall fliegen. Gleichzeitig kann er seine Geliebte
umbringen oder einen Krieg anzetteln. Es ist nicht interessant, darüber zu urteilen.
Das Interessante ist, zu erkennen, dass das alles der Mensch ist. Natürlich
sieht man – um auf Ihre Frage zurück zu kommen – als Strafverteidiger wie vielleicht
auch als Priester – tiefer in den Menschen hinein. Man lernt ihn ja in einer extremen
Situation kennen. Der ist am Ende, er hat irgend etwas Fürchterliches getan. Er steht
nackt vor einem.“
RV: „Dann stelle ich meine Frage anders. Was bringt
jemanden dazu – wenn man einmal von krankhaften Persönlichkeitsstörungen absieht –
zum Beispiel zum Mörder zu werden?“
Schirach: „Die Situation, nur die
Situation. Ich glaube nicht, dass es ein Verbrecher-Gen gibt. Es ist tatsächlich die
Situation, die uns zu Mördern werden lässt. Das Einzige, was mich von einem Verrückten
unterscheidet, ist, dass ich nicht verrückt bin. Und das Einzige, was uns von einem
Mörder unterscheidet ist, dass wir nicht töten. Aber es kann uns passieren. Niemand
kann eigentlich etwas dafür. Das komische ist auch, dass die Mechanismen,
die zu einem Mord führen, die gleichen sind wie die, die zu einem Selbstmord führen.
Es ist oft ein Zufall, ob sie die Gewalt gegen sich selbst richten oder gegen einen
anderen.“
RV: „Ich höre bei Ihnen gerade die Aufforderung ‚Fühl dich
nicht zu sicher in deinem Fernsehsessel, wenn du den Tatort schaust!’. Das ist gar
nicht so weit weg von uns.“
Schirach: „So ist das auch. Es ist nicht
weit weg. Das eigentlich richtige Bild ist, dass wir auf einem See tanzen der zugefroren
ist. Die Eisdecke ist nicht sehr dick. Die Eisdecke, das ist unsere ganze Kultur,
das sind unsere Errungenschaften und unser Bewusstsein eines vernünftigen Zusammenlebens.
Immer wieder bricht man da ein. Und die Menschen, die da einbrechen, versinken in
dem kalten Wasser und sterben schnell. Das ist der Moment, der interessant ist, der
für mich interessant ist. So lange es gut geht und wir gut Schlittschuh laufen können
auf diesem Eis, ist alles in Ordnung. Aber die Schicht ist dünn.“
Wie kann
ich von Schuld sprechen? Und wie kann ich von Schuld so erzählen, dass Menschen das
interessiert, packt und unterhält? Schließlich ist die Kriminal-Kurzgeschichte nicht
gerade eine deutsche Spezialität, seit Dürrenmatt ist die Zahl deutschsprachiger Literaten
auf dem Gebiet doch eher überschaubar. Wie erzähle ich von Schuld?
Schirach:
„Der interessante Verbrecher macht das, was ihm einfällt. Er verstößt gegen die
Regeln. Ich hatte einmal einen Mandanten in einem sehr langen Prozess, bei dem eine
langjährige Haftstrafe auf dem Spiel stand. In einer Gerichtspause sitzt er im Gericht
und zündet sich eine Zigarette an. Daraufhin läuft der Wachtmeister auf ihn zu und
sagt: ‚Sagen sie mal, sind sie verrückt? Hier ist Rauchen verboten!’ Und dann sagte
der Mandant: ‚Was wollen sie denn machen? Mich verhaften?’ Das ist ein bisschen ein
Zeichen, in welchen Situationen wir leben. Vielleicht freuen wir uns deshalb oder
finden es interessant – freuen ist das falsche Wort – vom schwedischen Mörder zu lesen.
Und gerade Schwedenkrimis sind interessant, wo alles so aufgeräumt ist und es so wenig
Morde gibt. Da gibt es die meisten Kriminalschriftsteller. Das ist schon merkwürdig.“
RV:
„Hat das, was Sie tun, auch etwas Voyeuristisches?“
Schirach: „Ja,
schon, wobei voyeuristisch einen negativen Beiklang hat. Ich finde es vollkommen in
Ordnung, dass die Leute sich dafür interessieren. Oft hört man ja im Radio, dass es
einen Autounfall gibt und dass ein Stau entsteht und dann sagt der Radiomoderator
immer, wegen ‚Gaffern’. Viel schlimmer wäre es aber andersherum, wenn wir einfach
nur vorbei fahren und uns das gar nicht interessieren würde. Es ist schon richtig,
sich für den Nebenmenschen zu interessieren, und auch für den Verbrecher, auch wenn
es etwas Voyeristisches hat.“
Zu den Erzählungen und den Verbrechen gehören
immer auch die Opfer, auch wenn der Anwalt und Schriftsteller von Schirach sich vor
allem um die Täter kümmert. Opfer sollen – so ist im vergangenen Jahr immer wieder
betont worden – im Vordergrund der Überlegungen und des Interesses stehen, ihnen soll
man zuhören. Der Anwalt und Schriftsteller geht aber recht hart auch mit den Opfern
um. Darf man das?
Schirach: „Die Frage ist ja immer, ob es ein Opfer ist.
In Deutschland spielt ja jetzt gerade der Fall Kachelmann eine große Rolle. Da wird
jetzt über den Verteidiger geschimpft, wie könne der nur das Opfer so hart rannehmen.
Aber wir wissen ja noch gar nicht, ob es das Opfer ist. Natürlich muss es erlaubt
sein, in einem Prozess, wo jemand für viele Jahre ins Gefängnis geht, dieses Opfer
auch zu befragen. Wir dürfen auch nicht vergessen, auch wenn es scheußlich ist und
man es nur schwer ertragen kann, in Wirklichkeit geht es in dem Strafprozess nicht
um das Opfer, auch wenn es diese Forderung gibt. Im Strafprozess geht es um den Angeklagten.
Dessen Schuld wollen wir beurteilen. Dem Opfer kann man in einem Strafverfahren nicht
wirklich gut helfen.“
RV: „Wir durchlaufen, wenn wir einmal über die
Kirche reden, eine ganz massive Schulddebatte und haben die zum Teil schon hinter
uns; da geht es um viel Heimlichkeit, sehr viel nicht Aufgeklärtes und sehr viel Verjährung.
Sie haben gesagt, dass diese Verjährungen nicht der Schritt waren, der angestanden
hätte, Sie hätten ein anderes Vorgehen bevorzugt.“
Schirach: „Zunächst
einmal muss man sagen, dass die Kirche nicht sehr gut beraten gewesen ist. Solche
Probleme löst man nicht durch Schweigen, die löst man nur durch Offenheit. Bei
der Verjährung ist es so, dass strafrechtlich diese Fälle zu ganz großen Teilen verjährt
sind, da kommt man nicht mehr dran, ein Ermittlungsverfahren würde sofort eingestellt.
Aber zivilrechtlich ist die Verjährung etwas, was im Belieben der Parteien steht.
Ich schulde Ihnen 100 Mark und diese Schuld ist fünfzehn Jahre alt. Sie wollen das
Geld wieder haben, ich sage nein und wir lassen das vom Gericht klären. Sie verklagen
mich und ich könnte zum Gericht gehen und sagen, ‚Lieber Herr Richter, die ganze Sache
ist längst verjährt, die Klage ist abzuweisen’. Der Richter müsste das machen. Wenn
ich das aber nicht sage, wenn ich nicht diese Einrede der Verjährung erhebe, dann
muss der Richter auch eine einhundert Jahre alte Schuld urteilen. Die Kirche
oder die Institutionen, die daran beteiligt waren wie der Jesuitenorden oder die Benediktiner,
die hätten sagen müssen, dass sie auf die Einrede der Verjährung verzichten. Verklagt
uns bitte! Wir möchten das vor einem ordentlichen Gericht geklärt haben. Das hätte
ich für den richtigen Weg gehalten. Das hätte ich der Kirche auch damals geraten.
Das wäre eben kein Lippenbekenntnis und es wäre nicht wohlfeil. Dann muss man sagen,
dass man bezahlt, wenn man am Schluss verurteilt wird. Den Kindern, die heute erwachsen
sind und denen es damals passiert ist, die haben den Anspruch auf ein objektives Verfahren,
in dem das geklärt wird. Das wäre hilfreich, im Regelwerk der klugen Gesetze, im Regelwerk
der vernünftigen Gesetze zumindest.“
RV: „Herr von Schirach, herzlichen
Dank für das Gespräch.“