Brasilien: Gewalt in den Favelas – „Wir führen Krieg gegen unsere Kinder“
„Tiefe Bitterkeit“
– das ist die Stimmungslage, in der der Papst in diesen Tagen die Geschehnisse in
Rio de Janeiro mitverfolgt. In der Stadt eskaliert der Drogenkrieg, es ist ein Kampf
um die Kontrolle über Rio: Polizei und Sicherheitskräfte stürmen Favelas, die Aktion
hat in einer knappen Woche schon über vierzig Todesopfer gefordert. Per Telegramm
hat Benedikt XVI. den Menschen am Zuckerhut seine tiefe Unruhe über die Gewalt mitgeteilt.
„Hier in Rio ist die Botschaft des Heiligen Vaters sehr gut aufgenommen worden“,
sagt uns Erzbischof Orani João Tempesta: „Wir danken allen, die uns in diesen
Tagen ihre Solidarität ausdrücken! Die Polizei hat jetzt zwei ziemlich schwierige
Viertel Rios besetzt, in denen vorher der Drogenhandel das Sagen hatte.“ Im
Moment sei die Lage ruhig: „Die Kirche ist den Menschen in den Favelas nahe; die
Priester und kirchlichen Mitarbeiter dort versuchen im Moment herauszufinden, was
eigentlich genau los ist. Die Kirche ist da sehr präsent und sehr nah an den Menschen.“ Zum
Beispiel Pater Renato Chiera, ein italienischer Missionar, der seit über dreißig Jahren
in den Favelas eine Art Kinderheim betreibt: „Was wir im Moment in den Straßen
hier erleben, ist schlicht und einfach Krieg. Ich finde, man sollte auch in Brasilien
einmal darüber nachdenken: Gegen wen genau wird eigentlich dieser Krieg geführt? Ist
das nicht ein Krieg gegen die Jugendlichen, die von unserer Gesellschaft, unseren
Regierungen, unseren Familien im Stich gelassen worden sind? Diese Straßenkinder,
die niemanden haben als sich selbst, wählen sich Anführer, 25- bis 30-Jährige: Das
sind dann die Drogenhändler. Wir führen Krieg gegen unsere Kinder, die Kinder Brasiliens,
die wir im Stich gelassen haben!“ Das seien Jugendliche ohne jede Perspektive,
die nie Liebe erfahren hätten und aus kaputten Familien kämen; sie wollten auch eine
Scheibe vom Wohlstand um sie herum. „Wie es so weit kommen konnte? Das ist doch
schon seit vierzig Jahren so! Familien, Gesellschaft, Regierungen haben sich um diese
Lage nicht gekümmert. Und daraufhin haben diese ausgestoßenen Kinder in ganz Brasilien
diese Zellen des Widerstands und der Gewalt gebildet. Natürlich müssen wir uns verteidigen
– aber es reicht nicht, hier in Rio einen Krieg zu gewinnen, und wir haben ihn ja
übrigens auch noch nicht gewonnen. Es geht hier ja nur um zwei von insgesamt 1080
Favelas: Denken wir doch mal darüber nach, was wir hier mit unseren Jugendlichen und
mit unserem Brasilien machen!“ (rv 30.11.2010 sk)