Die Türkei will der EU beitreten; dafür gibt es erneut ein Hindernis: Die Europäische
Union hat dem Beitrittskandidaten im Fortschrittsbericht von EU-Erweiterungskommissar
Stefan Füle erneut große Defizite bei der Wahrung der Grundrechte bescheinigt. Mängel
gebe es besonders bei der Verfassungsreform und bei der Meinungsfreiheit und dem Schutz
der Menschenrechte. Zwar gebe es Schritte in die richtige Richtung, sie blieben aber
„hinter den Erwartungen zurück", so Füle: „Niemand kann mit dem Reformtempo zufrieden
sein." Der missio-Menschenrechtsexperte Otmar Oehring ist ganz angetan von diesem
neuen Fortschrittsbericht. Der Text sei „eigentlich überraschend offen im Hinblick
auf die Fragen, die die Religionsgemeinschaften betreffen“, meinte der in Ankara aufgewachsene
Oehring am Mittwoch im Gespräch mit Radio Vatikan. Die Prozesse um das syrisch-orthodoxe
Kloster Mar Gabriel führt er als „guten Beispielfall“ dafür an, dass Ankara derzeit
nicht wirklich an Religionsfreiheit interessiert sei; anderslautende Berichte seien
„großenteils Blendwerk“. Die regierende AKP unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan
wolle Religionsfreiheit „zu ihren eigenen Gunsten“:
„Das heißt also, dass
natürlich am Ende alle Religionen wohl frei wären, aber vielleicht die eine Religion
auch weiterhin freier wäre als alle anderen! Also, da muss man abwarten, was die Zukunft
noch zeigen wird... Und die Tatsache, dass es in letzter Zeit – was auch im Fortschrittsbericht
der EU-Kommission gewürdigt wird – Gottesdienste sowohl in einem historischen griechisch-orthodoxen
Kloster in Anwesenheit des Ökumenischen Patriarchen gegeben hat als auch einen Gottesdienst
in Anwesenheit des armenischen Patriarchen in einer historischen Kirche auf einer
Insel im Van-See, und dass es jetzt wieder die Möglichkeit gibt, Gottesdienste in
der Kirche von Tarsus zu feiern und dass weitere geschlossene und „dem Staat gehörende“
Kirchen überall in der Türkei für Gottesdienste auf Antrag zur Verfügung gestellt
werden – das sind im Grunde genommen Dinge, die positive Außenwirkung zugunsten der
Türkei erzeugen sollen. Sie sollten aber im Hinblick auf die Frage, ob es nun Religionsfreiheit
in der Türkei gibt und ob sich die Situtation der religiösen Minderheiten verbessert,
meines Erachtens nicht überbewertet werden!“
(rv 10.11.2010 sk)
Wir
dokumentieren hier unser Interview mit Otmar Oehring in voller Länge. Die Fragen stellte
Stefan v. Kempis.
Der neue Fortschrittsbericht listet viele Fortschritte
in der Türkei auf – vor allem, dass die Zahl von Folterungen und Misshandlungen weniger
geworden ist. Sonst sieht`s aber nicht so gut aus...
„Der neue Fortschrittsbericht
Türkei ist eigentlich überraschend offen im Hinblick auf die Fragen, die die Religionsgemeinschaften
betreffen, und da nicht nur die nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften, sondern
alle. Das ist wirklich eine große Überraschung – denn eigentlich war vor dem Hintergrund
der vorigen Fortschrittsberichte davon auszugehen, dass immer weniger über die tatsächlichen
Probleme informiert würde – sehr summarisch, so dass eigentlich jeder aus dem Fortschrittsbericht
das herauslesen könnte, was für ihn gerade das Beste wäre. Das heißt also, dass die
Türken natürlich hätten sagen können: Wir haben ja eigentlich viel gemacht, und die
Europäer haben das auch zur Kenntnis genommen und uns dafür gelobt! Und umgekehrt
hätten die Gegner eines Beitritts der Türkei zur EU dann natürlich auch wieder sagen
können: Offensichtlich ist doch noch nicht soviel passiert, wie tatsächlich hätte
passieren müssen. In diesem Fortschrittsbericht ist aber doch
relativ deutlich gesagt worden, was die Probleme sind; und wenn man ihn genau liest,
dann sieht man natürlich auch, dass es Hinweise z.B. auf ein Dokument der Venedig-Kommission
des Europarates gibt, das im März verabschiedet worden ist. In diesem Dokument wird
ganz genau beschrieben, was die Türkei eigentlich machen müsste, um die Fragen im
Hinblick auf die Religionsgemeinschaften in der Türkei – und da natürlich insbesondere
die nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften, aber auch die Aleviten – zu lösen!“ Täuscht
der Eindruck, oder steigt im Moment der Druck auf die Türkei, mehr für die Absicherung
der Minderheiten zu tun? Auch der deutsche Bundespräsident Christian Wulff hat sich
ja kürzlich sehr demonstrativ in Istanbul mit dem Ökumenischen Patriarchen und in
Tarsus mit Bischöfen getroffen. „Also, wenn man den Besuch von Bundespräsident
Wulff anspricht, dann ist eigentlich neben dem Besuch beim Ökumenischen Patriarchen
meines Erachtens das noch von viel größerer Bedeutung, was er gesagt hat sowohl im
türkischen Parlament als auch bei zwei anderen Anlässen: Im Parlament hat er z.B.
(natürlich in Ergänzung zu dem, was er bei den Vereinigungsfeierlichkeiten in Bremen
am 3. Oktober schon in Bezug auf den Islam in Deutschland gesagt hatte) erwähnt, dass
das Christentum auch zur Türkei gehöre – was in der Türkei nicht nur positiv aufgenommen
worden ist. Und er hat in zwei anderen Reden das dann in anderer Weise, mit Zitaten,
nochmals ausgeführt.
Es ist natürlich richtig, dass der Druck auf die
Türkei tatsächlich steigt; ich denke aber, dass das auch damit zu tun hat, dass die
Türkei sich außenpolitisch anders zu orientieren scheint. Das wird zwar immer von
der türkischen Seite bestritten – aber man hat zumindest den Eindruck, dass die Annäherung
an den arabischen Raum und insbesondere auch an den Iran eine Wegorientierung von
Europa und den USA bedeuten könnte. Ich denke, vor diesem Hintergrund gibt es natürlich
in Europa durchaus die Sorge, dass die Türkei sich angesichts der Probleme, die es
im Zusammenhang mit den Beitrittsverhandlungen gegeben hat (und die größtenteils,
aber nicht nur, von der Türkei zu verantworten sind), ändert – und dass die Europäer
vorsichtig sein müssen, dass ihnen die Türkei nicht von der Fahne geht.“
Im
Grenzgebiet der Region, zu der hin die Türkei sich offensichtlich orientiert, liegt
dieses berühmte syrische Kloster Mar Gabriel – ein Lackmus-Test dafür, was im Moment
für die Christen in der Türkei möglich ist und was nicht?
„Was das Kloster
Mar Gabriel betrifft, kann man sagen, dass das schon ein guter Beispielfall für den
Umgang des türkischen Staates mit den nichtmuslimischen Minderheiten ist! Es gibt
seit dem Jahr 2008 eine Fülle von Prozessen, die einerseits vom Staat gegen das Kloster
geführt werden, aber andererseits offensichtlich auch mit staatlicher Unterstützung
von Rechtspersönlichkeiten – in diesem Fall zwei Dörfern im Umfeld von Mar Gabriel.
Da geht es darum, dass dem Kloster praktisch Eigentumsrechte in Bezug auf Landstücke
bestritten werden, die das Kloster für sich beansprucht. Es hat in den letzten Jahren
bei Besuchen von Politikerdelegationen auch aus Deutschland immer wieder Gespräche
mit staatlichen Vertretern gegeben – mit Vertretern des türkischen Parlaments und
auch der Regierung in Ankara –, und bei all diesen Gesprächen ist eigentlich der Eindruck
vermittelt worden, man sei an einer gütlichen Lösung interessiert! Allerdings muss
man dazu sagen: Das wäre dann jeweils auch eine türkische Lösung gewesen. Man hätte
also nicht rechtsstaatliche Lösungen angestrebt, sondern der türkische Staat hätte
eben versucht, diese Probleme in irgendeiner Weise einvernehmlich zu lösen.
Diese
Lösungen wurden zum Teil sehr kurzfristig angekündigt: Aber es ist bis heute nichts
passiert, im Gegenteil! Im Sommer ist ein weiterer Prozess zu den bereits seit Jahren
laufenden Prozessen hinzugekommen, und man kann eigentlich nur vermuten, dass der
türkische Staat mit diesen ganzen Prozessen respektive auch mit der Unterstützung
der Prozesse zweier Dörfer eigentlich dafür sorgen will, dass das Kloster Mar Gabriel
am Ende dann schließen muss – und dass die Existenz und Präsenz syrischer Christen
in der Region beendet wird, und damit insgesamt die Präsenz von Christen. Und das
würde natürlich ein außerordentlich negatives Licht auf die Türkei im Hinblick auf
ihren Umgang mit den religiösen Minderheiten werfen.“
Trotzdem hieß
es eigentlich in letzter Zeit, vor allem wenn man auf Istanbul, Ankara oder Izmir
schaut (also auf die Metropolen und nicht so sehr auf die Provinz), dass sich die
Lage für die Christen im Moment doch leicht bessert. Viele stützen sich dabei auf
Aussagen von Ali Bardakoglu, Leiter der Diyanet (Amt für religiöse Angelegenheiten).
Täuscht das? Ist das nur Blendwerk?
„Ich würde nach wie vor davon ausgehen,
dass es großenteils Blendwerk ist! Erstens muss man natürlich wissen, wer Herr Bardakoglu
ist von seiner Position her: Persönlich ist er sicher ein integrer Mann, keine Frage
– aber er ist natürlich der Chef des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten, das
in der Türkei einzig und allein den Staatsislam, den sunnitischen Staatsislam, verwaltet!
Wenn er sich also äußert über Religionsfreiheit und über eine Verbesserung der Situation
der nicht-muslimischen Minderheiten in der Türkei (was er wiederholt getan hat, z.B.
im Bezug auf die Kirche in Tarsus), dann hat man davon auszugehen, dass er das nicht
nur tut, weil er jetzt den nicht-muslimischen Minderheiten – in diesem Fall konkret
den Christen – etwas Gutes tun will! Er hat natürlich selber auch eine Agenda im Hinblick
auf den Islam... und über diese Agenda hat er neulich in einem Interview in einer
der großen türkischen Tageszeitungen auch ganz offen geredet: Er sprach nämlich davon,
dass eigentlich die Tatsache, dass das Präsidium für religiöse Angelegenheiten eine
staatliche Institution sei, ein Anachronismus sei in einem Staat, der sich selbst
als laizistisch verstehe. Eigentlich müsse das eine unabhängige Einrichtung sein!
Das zeigt ganz deutlich, dass diejenigen recht haben, die davon ausgehen,
dass die AKP-Regierung natürlich Religionsfreiheit möchte in der Türkei – aber dass
sie diese Religionsfreiheit natürlich zu ihren eigenen Gunsten fortentwickeln will.
Das heißt also, dass natürlich am Ende alle Religionen wohl frei wären, aber vielleicht
die eine Religion auch weiterhin freier wäre als alle anderen! Also, da muss man abwarten,
was die Zukunft noch zeigen wird... Und die Tatsache, dass
es in letzter Zeit – was auch im Fortschrittsbericht der EU-Kommission gewürdigt wird
– Gottesdienste sowohl in einem historischen griechisch-orthodoxen Kloster in Anwesenheit
des Ökumenischen Patriarchen gegeben hat als auch einen Gottesdienst in Anwesenheit
des armenischen Patriarchen in einer historischen Kirche auf einer Insel im Van-See,
und dass es jetzt wieder die Möglichkeit gibt, Gottesdienste in der Kirche von Tarsus
zu feiern und dass weitere geschlossene und „dem Staat gehörende“ Kirchen überall
in der Türkei für Gottesdienste auf Antrag zur Verfügung gestellt werden – das sind
im Grunde genommen Dinge, die positive Außenwirkung zugunsten der Türkei erzeugen
sollen. Sie sollten aber im Hinblick auf die Frage, ob es nun Religionsfreiheit in
der Türkei gibt und ob sich die Situtation der religiösen Minderheiten verbessert,
meines Erachtens nicht überbewertet werden!“