2010-11-10 13:10:50

Türkei: „Überraschend offen“


Die Türkei will der EU beitreten; dafür gibt es erneut ein Hindernis: Die Europäische Union hat dem Beitrittskandidaten im Fortschrittsbericht von EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle erneut große Defizite bei der Wahrung der Grundrechte bescheinigt. Mängel gebe es besonders bei der Verfassungsreform und bei der Meinungsfreiheit und dem Schutz der Menschenrechte. Zwar gebe es Schritte in die richtige Richtung, sie blieben aber „hinter den Erwartungen zurück", so Füle: „Niemand kann mit dem Reformtempo zufrieden sein."
Der missio-Menschenrechtsexperte Otmar Oehring ist ganz angetan von diesem neuen Fortschrittsbericht. Der Text sei „eigentlich überraschend offen im Hinblick auf die Fragen, die die Religionsgemeinschaften betreffen“, meinte der in Ankara aufgewachsene Oehring am Mittwoch im Gespräch mit Radio Vatikan. Die Prozesse um das syrisch-orthodoxe Kloster Mar Gabriel führt er als „guten Beispielfall“ dafür an, dass Ankara derzeit nicht wirklich an Religionsfreiheit interessiert sei; anderslautende Berichte seien „großenteils Blendwerk“. Die regierende AKP unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wolle Religionsfreiheit „zu ihren eigenen Gunsten“:

„Das heißt also, dass natürlich am Ende alle Religionen wohl frei wären, aber vielleicht die eine Religion auch weiterhin freier wäre als alle anderen! Also, da muss man abwarten, was die Zukunft noch zeigen wird... Und die Tatsache, dass es in letzter Zeit – was auch im Fortschrittsbericht der EU-Kommission gewürdigt wird – Gottesdienste sowohl in einem historischen griechisch-orthodoxen Kloster in Anwesenheit des Ökumenischen Patriarchen gegeben hat als auch einen Gottesdienst in Anwesenheit des armenischen Patriarchen in einer historischen Kirche auf einer Insel im Van-See, und dass es jetzt wieder die Möglichkeit gibt, Gottesdienste in der Kirche von Tarsus zu feiern und dass weitere geschlossene und „dem Staat gehörende“ Kirchen überall in der Türkei für Gottesdienste auf Antrag zur Verfügung gestellt werden – das sind im Grunde genommen Dinge, die positive Außenwirkung zugunsten der Türkei erzeugen sollen. Sie sollten aber im Hinblick auf die Frage, ob es nun Religionsfreiheit in der Türkei gibt und ob sich die Situtation der religiösen Minderheiten verbessert, meines Erachtens nicht überbewertet werden!“

(rv 10.11.2010 sk)

Wir dokumentieren hier unser Interview mit Otmar Oehring in voller Länge. Die Fragen stellte Stefan v. Kempis.

Der neue Fortschrittsbericht listet viele Fortschritte in der Türkei auf – vor allem, dass die Zahl von Folterungen und Misshandlungen weniger geworden ist. Sonst sieht`s aber nicht so gut aus...

„Der neue Fortschrittsbericht Türkei ist eigentlich überraschend offen im Hinblick auf die Fragen, die die Religionsgemeinschaften betreffen, und da nicht nur die nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften, sondern alle. Das ist wirklich eine große Überraschung – denn eigentlich war vor dem Hintergrund der vorigen Fortschrittsberichte davon auszugehen, dass immer weniger über die tatsächlichen Probleme informiert würde – sehr summarisch, so dass eigentlich jeder aus dem Fortschrittsbericht das herauslesen könnte, was für ihn gerade das Beste wäre. Das heißt also, dass die Türken natürlich hätten sagen können: Wir haben ja eigentlich viel gemacht, und die Europäer haben das auch zur Kenntnis genommen und uns dafür gelobt! Und umgekehrt hätten die Gegner eines Beitritts der Türkei zur EU dann natürlich auch wieder sagen können: Offensichtlich ist doch noch nicht soviel passiert, wie tatsächlich hätte passieren müssen.
 
In diesem Fortschrittsbericht ist aber doch relativ deutlich gesagt worden, was die Probleme sind; und wenn man ihn genau liest, dann sieht man natürlich auch, dass es Hinweise z.B. auf ein Dokument der Venedig-Kommission des Europarates gibt, das im März verabschiedet worden ist. In diesem Dokument wird ganz genau beschrieben, was die Türkei eigentlich machen müsste, um die Fragen im Hinblick auf die Religionsgemeinschaften in der Türkei – und da natürlich insbesondere die nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften, aber auch die Aleviten – zu lösen!“ 
Täuscht der Eindruck, oder steigt im Moment der Druck auf die Türkei, mehr für die Absicherung der Minderheiten zu tun? Auch der deutsche Bundespräsident Christian Wulff hat sich ja kürzlich sehr demonstrativ in Istanbul mit dem Ökumenischen Patriarchen und in Tarsus mit Bischöfen getroffen. 
„Also, wenn man den Besuch von Bundespräsident Wulff anspricht, dann ist eigentlich neben dem Besuch beim Ökumenischen Patriarchen meines Erachtens das noch von viel größerer Bedeutung, was er gesagt hat sowohl im türkischen Parlament als auch bei zwei anderen Anlässen: Im Parlament hat er z.B. (natürlich in Ergänzung zu dem, was er bei den Vereinigungsfeierlichkeiten in Bremen am 3. Oktober schon in Bezug auf den Islam in Deutschland gesagt hatte) erwähnt, dass das Christentum auch zur Türkei gehöre – was in der Türkei nicht nur positiv aufgenommen worden ist. Und er hat in zwei anderen Reden das dann in anderer Weise, mit Zitaten, nochmals ausgeführt.

Es ist natürlich richtig, dass der Druck auf die Türkei tatsächlich steigt; ich denke aber, dass das auch damit zu tun hat, dass die Türkei sich außenpolitisch anders zu orientieren scheint. Das wird zwar immer von der türkischen Seite bestritten – aber man hat zumindest den Eindruck, dass die Annäherung an den arabischen Raum und insbesondere auch an den Iran eine Wegorientierung von Europa und den USA bedeuten könnte. Ich denke, vor diesem Hintergrund gibt es natürlich in Europa durchaus die Sorge, dass die Türkei sich angesichts der Probleme, die es im Zusammenhang mit den Beitrittsverhandlungen gegeben hat (und die größtenteils, aber nicht nur, von der Türkei zu verantworten sind), ändert – und dass die Europäer vorsichtig sein müssen, dass ihnen die Türkei nicht von der Fahne geht.“

Im Grenzgebiet der Region, zu der hin die Türkei sich offensichtlich orientiert, liegt dieses berühmte syrische Kloster Mar Gabriel – ein Lackmus-Test dafür, was im Moment für die Christen in der Türkei möglich ist und was nicht?

„Was das Kloster Mar Gabriel betrifft, kann man sagen, dass das schon ein guter Beispielfall für den Umgang des türkischen Staates mit den nichtmuslimischen Minderheiten ist! Es gibt seit dem Jahr 2008 eine Fülle von Prozessen, die einerseits vom Staat gegen das Kloster geführt werden, aber andererseits offensichtlich auch mit staatlicher Unterstützung von Rechtspersönlichkeiten – in diesem Fall zwei Dörfern im Umfeld von Mar Gabriel. Da geht es darum, dass dem Kloster praktisch Eigentumsrechte in Bezug auf Landstücke bestritten werden, die das Kloster für sich beansprucht. Es hat in den letzten Jahren bei Besuchen von Politikerdelegationen auch aus Deutschland immer wieder Gespräche mit staatlichen Vertretern gegeben – mit Vertretern des türkischen Parlaments und auch der Regierung in Ankara –, und bei all diesen Gesprächen ist eigentlich der Eindruck vermittelt worden, man sei an einer gütlichen Lösung interessiert! Allerdings muss man dazu sagen: Das wäre dann jeweils auch eine türkische Lösung gewesen. Man hätte also nicht rechtsstaatliche Lösungen angestrebt, sondern der türkische Staat hätte eben versucht, diese Probleme in irgendeiner Weise einvernehmlich zu lösen.

Diese Lösungen wurden zum Teil sehr kurzfristig angekündigt: Aber es ist bis heute nichts passiert, im Gegenteil! Im Sommer ist ein weiterer Prozess zu den bereits seit Jahren laufenden Prozessen hinzugekommen, und man kann eigentlich nur vermuten, dass der türkische Staat mit diesen ganzen Prozessen respektive auch mit der Unterstützung der Prozesse zweier Dörfer eigentlich dafür sorgen will, dass das Kloster Mar Gabriel am Ende dann schließen muss – und dass die Existenz und Präsenz syrischer Christen in der Region beendet wird, und damit insgesamt die Präsenz von Christen. Und das würde natürlich ein außerordentlich negatives Licht auf die Türkei im Hinblick auf ihren Umgang mit den religiösen Minderheiten werfen.“

Trotzdem hieß es eigentlich in letzter Zeit, vor allem wenn man auf Istanbul, Ankara oder Izmir schaut (also auf die Metropolen und nicht so sehr auf die Provinz), dass sich die Lage für die Christen im Moment doch leicht bessert. Viele stützen sich dabei auf Aussagen von Ali Bardakoglu, Leiter der Diyanet (Amt für religiöse Angelegenheiten). Täuscht das? Ist das nur Blendwerk?

Ich würde nach wie vor davon ausgehen, dass es großenteils Blendwerk ist! Erstens muss man natürlich wissen, wer Herr Bardakoglu ist von seiner Position her: Persönlich ist er sicher ein integrer Mann, keine Frage – aber er ist natürlich der Chef des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten, das in der Türkei einzig und allein den Staatsislam, den sunnitischen Staatsislam, verwaltet! Wenn er sich also äußert über Religionsfreiheit und über eine Verbesserung der Situation der nicht-muslimischen Minderheiten in der Türkei (was er wiederholt getan hat, z.B. im Bezug auf die Kirche in Tarsus), dann hat man davon auszugehen, dass er das nicht nur tut, weil er jetzt den nicht-muslimischen Minderheiten – in diesem Fall konkret den Christen – etwas Gutes tun will! Er hat natürlich selber auch eine Agenda im Hinblick auf den Islam... und über diese Agenda hat er neulich in einem Interview in einer der großen türkischen Tageszeitungen auch ganz offen geredet: Er sprach nämlich davon, dass eigentlich die Tatsache, dass das Präsidium für religiöse Angelegenheiten eine staatliche Institution sei, ein Anachronismus sei in einem Staat, der sich selbst als laizistisch verstehe. Eigentlich müsse das eine unabhängige Einrichtung sein!  
Das zeigt ganz deutlich, dass diejenigen recht haben, die davon ausgehen, dass die AKP-Regierung natürlich Religionsfreiheit möchte in der Türkei – aber dass sie diese Religionsfreiheit natürlich zu ihren eigenen Gunsten fortentwickeln will. Das heißt also, dass natürlich am Ende alle Religionen wohl frei wären, aber vielleicht die eine Religion auch weiterhin freier wäre als alle anderen! Also, da muss man abwarten, was die Zukunft noch zeigen wird...
 
Und die Tatsache, dass es in letzter Zeit – was auch im Fortschrittsbericht der EU-Kommission gewürdigt wird – Gottesdienste sowohl in einem historischen griechisch-orthodoxen Kloster in Anwesenheit des Ökumenischen Patriarchen gegeben hat als auch einen Gottesdienst in Anwesenheit des armenischen Patriarchen in einer historischen Kirche auf einer Insel im Van-See, und dass es jetzt wieder die Möglichkeit gibt, Gottesdienste in der Kirche von Tarsus zu feiern und dass weitere geschlossene und „dem Staat gehörende“ Kirchen überall in der Türkei für Gottesdienste auf Antrag zur Verfügung gestellt werden – das sind im Grunde genommen Dinge, die positive Außenwirkung zugunsten der Türkei erzeugen sollen. Sie sollten aber im Hinblick auf die Frage, ob es nun Religionsfreiheit in der Türkei gibt und ob sich die Situtation der religiösen Minderheiten verbessert, meines Erachtens nicht überbewertet werden!“
  







All the contents on this site are copyrighted ©.