Weltflüchtlingstag 2011: Die Botschaft des Papstes im Wortlaut
Liebe Brüder und Schwestern! Der Welttag des Migranten und Flüchtlings bietet der
ganzen Kirche Gelegenheit, über ein Thema nachzudenken, das mit dem wachsenden Phänomen
der Migration verbunden ist, zu beten, dass die Herzen sich für die christliche Gastfreundschaft
öffnen mögen und dahin zu wirken, dass Gerechtigkeit und Liebe in der Welt zunehmen,
als Stützpfeiler zum Aufbau eines wahren und dauerhaften Friedens. »Wie ich euch geliebt
habe, so sollt auch ihr einander lieben«(Joh 13,34): Diese Aufforderung richtet
der Herr stets aufs neue mit Nachdruck an uns. Wenn der Vater uns aufruft, geliebte
Kinder in seinem geliebten Sohn zu sein, dann ruft er uns auch auf, uns alle gegenseitig
als Brüder in Christus zu erkennen.
Dieser tiefen Verbindung zwischen allen
Menschen entspringt das Thema, das ich in diesem Jahr für unsere Reflexion gewählt
habe: »Eine einzige Menschheitsfamilie«, eine einzige Familie von Brüdern und Schwestern
in Gesellschaften, die immer multiethnischer und interkultureller werden, wo auch
die Personen unterschiedlicher Religion zum Dialog geführt werden, um zu einem friedlichen
und fruchtbaren Zusammenleben zu gelangen, unter Achtung der legitimen Unterschiede.
Das Zweite Vatikanische Konzil sagt: »Alle Völker sind ja eine einzige Gemeinschaft,
sie haben denselben Ursprung, da Gott das ganze Menschengeschlecht auf dem gesamten
Erdkreis wohnen ließ (vgl. Apg 17,26); auch haben sie Gott als ein und dasselbe
letzte Ziel. Seine Vorsehung, die Bezeugung seiner Güte und seine Heilsratschlüsse
erstrecken sich auf alle Menschen« (Erklärung Nostra aetate, 1). So leben wir
»nicht zufällig nebeneinander; als Menschen sind wir alle auf demselben Weg und darum
gehen wir ihn als Brüder und Schwestern« (Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages
2008, 6; in O.R. dt., Nr. 51/52 vom 21.12.2007, S. 14).
Wir sind
auf demselben Weg, dem Lebensweg, durchleben aber auf diesem Weg unterschiedliche
Situationen. Viele sehen sich mit der schwierigen Erfahrung der Migration konfrontiert,
in ihren verschiedenen Formen: innerhalb eines Landes oder im Ausland, ständige oder
vorübergehende, wirtschaftliche oder politische, freiwillige oder erzwungene. In manchen
Fällen ist das Verlassen des eigenen Landes durch unterschiedliche Formen der Verfolgung
bedingt, die die Flucht notwendig machen. Auch das Phänomen der Globalisierung, das
für unsere Zeit bezeichnend ist, ist nicht nur ein sozioökonomischer Prozess, sondern
bringt auch eine »zunehmend untereinander verflochtene Menschheit« mit sich und überwindet
geographische und kulturelle Grenzen. In diesem Zusammenhang erinnert die Kirche stets
daran, dass der tiefere Sinn dieses epochalen Prozesses und sein grundlegendes ethisches
Kriterium in der Einheit der Menschheitsfamilie und in ihrem Voranschreiten im Guten
gegeben sind (vgl. Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate, 42). Alle
gehören also zu einer einzigen Familie, Migranten und die sie aufnehmenden Gastvölker,
und alle haben dasselbe Recht, die Güter der Erde zu nutzen, deren Bestimmung allgemein
ist, wie die Soziallehre der Kirche lehrt. Solidarität und Teilen haben hier ihre
Grundlage.
»In einer Gesellschaft auf dem Weg zur Globalisierung müssen das
Gemeinwohl und der Einsatz dafür unweigerlich die Dimensionen der gesamten Menschheitsfamilie,
also der Gemeinschaft der Völker und der Nationen, annehmen, so dass sie der Stadt
des Menschen die Gestalt der Einheit und des Friedens verleihen und sie gewissermaßen
zu einer vorausdeutenden Antizipation der grenzenlosen Stadt Gottes machen« (Benedikt
XVI., Caritas in veritate, 7). Unter diesem Gesichtspunkt muß auch die Wirklichkeit
der Migrationen betrachtet werden. Wie bereits der Diener Gottes Paul VI. sagte, ist
das »Fehlen der brüderlichen Bande unter den Menschen und unter den Völkern« die tiefere
Ursache für die Unterentwicklung (Enzyklika Populorum progressio, 66) und –
so können wir hinzufügen – nimmt starken Einfluss auf das Migrationsphänomen. Die
Brüderlichkeit unter den Menschen ist die – manchmal überraschende – Erfahrung einer
Beziehung, die vereint, einer tiefen Verbindung mit dem anderen, der anders ist als
ich, basierend auf der einfachen Tatsache, Menschen zu sein. Wenn sie verantwortungsvoll
angenommen und gelebt wird, nährt sie ein Leben der Gemeinschaft und des Teilens mit
allen, insbesondere mit den Migranten; unterstützt sie die Selbsthingabe an die anderen,
an ihr Wohl, an das Wohl aller Menschen, in der lokalen, nationalen und weltweiten
politischen Gemeinschaft.
Der ehrwürdige Diener Gottes Johannes Paul II. betonte
anlässlich desselben Welttages im Jahre 2001: »[Das universelle Gemeinwohl] umfasst
die gesamte Völkerfamilie, über jeden nationalistischen Egoismus hinweg. In diesem
Zusammenhang muß das Recht auf Auswanderung betrachtet werden. Die Kirche gesteht
dieses Recht jedem Menschen zu, und zwar in zweifacher Hinsicht, einmal bezüglich
der Möglichkeit sein Land zu verlassen und zum anderen hinsichtlich der Möglichkeit,
in ein anderes Land einwandern zu können, um bessere Lebensbedingungen zu suchen«
(Botschaft zum Welttag des Migranten und Flüchtlings 2001, 3; in O.R. dt.,
Nr. 13 vom 30.3.2001, S. 7; vgl. Johannes XXIII., Enzyklika Mater et magistra,
30; Paul VI., Enzyklika Octogesima adveniens, 17). Gleichzeitig haben die Staaten
das Recht, die Einwanderungsströme zu regeln und die eigenen Grenzen zu schützen,
wobei die gebührende Achtung gegenüber der Würde einer jeden menschlichen Person stets
gewährleistet sein muß. Die Einwanderer haben darüber hinaus die Pflicht, sich im
Gastland zu integrieren, seine Gesetze und nationale Identität zu respektieren. »Es
wird sich dann darum handeln, die Aufnahme, die man allen Menschen, besonders wenn
es Bedürftige sind, schuldig ist, mit der Einschätzung der Voraussetzungen zu verbinden,
die für ein würdevolles und friedliches Leben der ursprünglich ansässigen Bevölkerung
und der hinzugekommenen unerlässlich sind« (Johannes Paul II., Botschaft zur Feier
des Weltfriedenstages 2001, 13; in O.R. dt., Nr. 51/52 vom 22.12.2000,
S. 10).
In diesem Zusammenhang ist die Anwesenheit der Kirche als Volk Gottes,
das in der Geschichte inmitten aller anderen Völker unterwegs ist, Quelle des Vertrauens
und der Hoffnung. »Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt
Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der
ganzen Menschheit« (Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Lumen
gentium, 1); und dank des Wirkens des Heiligen Geistes ist »der Versuch, eine
allumfassende Brüderlichkeit herzustellen, nicht vergeblich« (ebd., Pastorale
Konstitution Gaudium et spes, 38). Besonders die heilige Eucharistie stellt
im Herzen der Kirche eine unerschöpfliche Quelle der Gemeinschaft für die gesamte
Menschheit dar. Dank ihrer umfasst das Gottesvolk »alle Nationen und Stämme, Völker
und Sprachen« (vgl. Off 7,9) nicht aus einer Art heiliger Vollmacht heraus,
sondern durch den erhabenen Dienst der Liebe. Der Liebesdienst, insbesondere an den
Armen und Schwachen, ist in der Tat das Kriterium, auf Grund dessen die Echtheit unserer
Eucharistiefeiern überprüft wird (vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben
Mane nobiscum Domine, 28; in O.R. dt., Nr. 42 vom 15.10.2004, S. 10).
Im
Licht des Themas »Eine einzige Menschheitsfamilie« muß insbesondere die Situation
der Flüchtlinge und der anderen Zwangsmigranten in Betracht gezogen werden, die einen
bedeutenden Teil des Migrationsphänomens ausmachen. Gegenüber diesen Personen, die
vor Gewalt und Verfolgung fliehen, hat die internationale Gemeinschaft bestimmte Verpflichtungen
übernommen. Die Achtung ihrer Rechte sowie die berechtigte Sorge um Sicherheit und
sozialen Zusammenhalt fördern ein stabiles und einträchtiges Zusammenleben.
Auch
gegenüber den Zwangsmigranten nährt sich die Solidarität aus dem »Vorrat« der Liebe,
der daraus entsteht, dass wir uns als eine einzige Menschheitsfamilie und, im Falle
der katholischen Gläubigen, als Glieder des mystischen Leibes Christi betrachten:
Wir sind nämlich voneinander abhängig und tragen alle Verantwortung für unsere Brüder
und Schwestern in der Menschennatur und – was die Gläubigen betrifft – im Glauben.
Ich hatte schon einmal Gelegenheit zu sagen: »Die Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen
Gastfreundschaft zu gewähren ist für alle eine Pflicht menschlicher Solidarität, damit
diese sich aufgrund von Intoleranz und Desinteresse nicht isoliert fühlen« (Generalaudienz
am 20. Juni 2007; in O.R. dt., Nr. 26 vom 29.6.2007, S. 2). Das bedeutet,
dass jenen, die gezwungen sind, ihr Zuhause oder ihr Land zu verlassen, geholfen werden
muß, einen Ort zu finden, wo sie in Frieden und Sicherheit leben, wo sie in ihrem
Gastland arbeiten und die bestehenden Rechte und Pflichten übernehmen und zum Gemeinwohl
beitragen können, ohne dabei die religiöse Dimension des Lebens zu vergessen.
Einige
besondere Überlegungen, stets begleitet vom Gebet, möchte ich zum Abschluss den ausländischen
und internationalen Studenten widmen, die ebenso eine wachsende Realität innerhalb
des großen Migrationsphänomens darstellen. Diese Kategorie ist auch gesellschaftlich
von Bedeutung, im Hinblick auf die Rückkehr in ihre Heimatländer als zukünftige Verantwortungsträger.
Sie
sind kulturelle und wirtschaftliche »Brücken« zwischen diesen Ländern und ihren Gastländern,
und all das geht in Richtung auf die Herausbildung »einer einzigen Menschheitsfamilie«.
Eben diese Überzeugung muß die Bemühungen zugunsten der ausländischen Studenten stützen
und die Aufmerksamkeit gegenüber ihren konkreten Problemen begleiten – wie die wirtschaftliche
Eingeschränktheit oder das unangenehme Gefühl, einem völlig anderen sozialen und universitären
Umfeld allein gegenüberzustehen, und die Schwierigkeiten bei der Eingliederung. In
diesem Zusammenhang möchte ich in Erinnerung rufen, dass »Zugehörigkeit zu einer Universitätsgemeinschaft
bedeutet, am Knotenpunkt der Kulturen zu stehen, die die moderne Welt geprägt haben«
(Johannes Paul II., Ansprache an die Bischöfe der Vereinigten Staaten von Amerika
aus den Kirchenprovinzen Chicago, Indianapolis und Milwaukee anlässlich ihres »Ad-limina»-Besuchs,
30. Mai 1998, 6; in O.R. dt., Nr. 30 vom 24.7.1998, S. 9). In Schule und Universität
wird die Kultur der neuen Generationen herausgebildet: Von diesen Einrichtungen hängt
weitgehend deren Fähigkeit ab, die Menschheit als eine Familie zu betrachten, die
berufen ist, in der Vielfalt vereint zu sein.
Liebe Brüder und Schwestern,
die Welt der Migranten ist weit und vielschichtig. Es gibt darin wunderbare und vielversprechende
Erfahrungen, aber leider auch viele andere, dramatische Erfahrungen, die des Menschen
und der Gesellschaften, die sich als zivilisiert bezeichnen, unwürdig sind. Für die
Kirche stellt diese Wirklichkeit ein beredtes Zeichen unserer Zeit dar, das die Berufung
der Menschheit, eine einzige Familie zu bilden, deutlicher zum Vorschein treten lässt,
gleichzeitig aber auch die Schwierigkeiten, die sie spalten und zerreißen statt sie
zu vereinen. Wir wollen die Hoffnung nicht verlieren und Gott, den Vater aller Menschen,
gemeinsam bitten, dass er uns helfen möge, Männer und Frauen zu sein, die – jeder
ganz persönlich – zu brüderlichen Beziehungen fähig sind, und dass auf sozialer, politischer
und institutioneller Ebene das Verständnis und die gegenseitige Wertschätzung zwischen
Völkern und Kulturen wachsen mögen. Mit diesem Wunsch bitte ich die allerseligste
Jungfrau Maria »Stella maris« um ihre Fürsprache und erteile allen von Herzen den
Apostolischen Segen, insbesondere den Migranten und den Flüchtlingen sowie allen,
die in diesem wichtigen Bereich tätig sind.
Aus Castel Gandolfo, am 27. September
2010 BENEDICTUS PP. XVI