Schütterer Beifall,
ausdruckslose Gesichter: Die Spannung war mit Händen zu greifen, als am Mittwoch Abend
ein Rabbiner vor den Bischöfen der Nahost-Sondersynode im Vatikan das Wort ergriff.
Es war Papst Benedikt, der den israelischen Rabbiner David Rosen eingeladen hatte
und der ihn in der vatikanischen Synodenaula persönlich begrüßte. Für manchen Kirchenmann
aus dem Nahen Osten war es sichtlich gewöhnungsbedürftig, einem Israeli zuzuhören.
Stefan Kempis war für uns dabei. Nein, es war nicht der erste Auftritt eines Rabbiners
auf einer Bischofssynode im Vatikan: Schon zur Bibelsynode hatte der Papst vor zwei
Jahren den Oberrabbiner von Tel Aviv als Referenten gewonnen. Diesmal aber bat Benedikt
einen israelisch-britischen Rabbiner vor ein mehrheitlich arabisch-christliches Auditorium.
Rosen, ein alter Hase im christlich-jüdischen Dialog, sprach engagiert, fast beschwörend,
und die Teilnehmer der Nahostsynode hörten ihm höflich zu. Der Gast, der u.a. die
interreligiöse Abteilung des US-„Jewish Committee“ leitet und die israelischen Oberrabbiner
berät, lobte die rasanten Fortschritte, die die Kirche seit dem Konzil in ihrer Haltung
zum Judentum gemacht habe. Aber: „Ich gebe zu, dass ich überrascht war, als
ich feststellte, dass der katholische Klerus und manchmal sogar die Hierarchie in
bestimmten Ländern nicht nur nichts vom heutigen Judentum wissen, sondern auch nicht
vom Konzilsdokument Nostra Aetate, von den Dokumenten des Vatikans und von der Haltung
des Lehramtes zu den Juden und dem Judentum. Gleichzeitig gibt es allerdings auch
viel Ignoranz bei Juden, was das Christentum betrifft, besonders dort, wo es kaum
oder gar keine Kontakte zu Christen gibt.“ Bis vor kurzem hätten auch in Israel
die meisten Juden nichts vom Christentum gewusst, so der Rabbiner; doch in den letzten
zehn Jahren habe sich das deutlich geändert – und zwar wegen der Reise von Papst Johannes
Paul II. nach Israel im Jahr 2000 und „wegen des Zustroms neuer Christen nach Israel,
die die demographische Stärke des Christentums in Israel verdoppelt haben“. „Die
Christen in Israel sind natürlich in einer sehr anderen Lage als ihre Glaubensbrüder,
die zu einer palästinensischen Gesellschaft gehören, welche für ihre Unabhängigkeit
kämpft. Diese Christen sind unvermeidlicherweise Teil des israelisch- palästinensischen
Konflikts und finden sich manchmal zwischen den Fronten wieder; oft sind sie von israelischen
Maßnahmen gegen Gewalt besonders betroffen. Es ist absolut richtig und angemessen,
dass diese palästinensischen Christen ihre Frustration zum Ausdruck bringen, aber
man muss mit Bedauern feststellen, dass dieser Ausdruck nicht immer im Einklang ist
mit Buchstaben und Geist des Lehramts, was die Beziehungen zu den Juden und dem Judentum
betrifft.“ Vielen Christen im Nahen Osten sei es offenbar „peinlich, dass die
Kirche ihre jüdischen Wurzeln wiederentdeckt“, so David Rosen. Dennoch: „Das Leiden
der Palästinenser und auch der Christen unter ihnen sollte alle Juden, ob in Israel
oder in der Diaspora, tief verstören“ – selbst wenn dieses Leid von einigen „ausgenutzt“
werde, „um verschiedene Spannungen noch zu verschärfen“, und auch wenn Israel kontinuierlich
„mit der Auslöschung bedroht“ werde. „Als Minderheit haben die Christen sowohl
in jüdischem als auch in islamischem Umfeld eine spezielle Rolle für unsere Gesellschaften
an sich. Die Lage der Minderheiten ist immer der tiefe Widerschein des sozio-moralischen
Zustandes einer Gesellschaft; das Wohlergehen der christlichen Gemeinschaften im Nahen
Osten ist nichts anderes als eine Art Barometer des moralischen Zustandes unserer
Länder. Der Grad, in dem Christen zivile und religiöse Rechte und Freiheiten genießen,
zeugt von der Gesundheit oder Krankheit unserer Gesellschaften im Nahen Osten.“ Sind
die Christen in Nahost also „die neuen bedrohten Juden“, wie Regis Debray kürzlich
einmal formulierte? Soweit ging der Rabbiner im Vatikan nicht. Stattdessen lobte er
erste Ansätze zu einem christlich-jüdisch-islamischen Trialog im letzten Jahr, wies
– sicher zum Unmut einiger Zuhörer – die Vorstellung zurück, dass die israelische
Besatzung der Westbank der Grund für den Nahost-Konflikt sei („ein völliger Irrtum“),
und sah Juden und Christen gewissermaßen in ihrer Haltung zum Islam Seite an Seite: „Die
kritische Frage für die Zukunft unserer beiden Gemeinschaften ist die, ob unsere muslimischen
Brüder wirklich die Anwesenheit von Christen und Juden als völligen, integralen und
legitimen Bestandteil der Region akzeptieren können. Wirklich, diese Frage anzugehen,
ist eine Lebensnotwendigkeit, von der unsere Zukunft abhängt!“ Papst Benedikt
hörte dem Rabbiner aufmerksam zu, äußerte sich anschließend aber nicht. Die interne
Debatte der Synodenväter dauerte wegen des Auftritts von Rabbiner Rosen nur eine halbe,
nicht wie gewohnt eine ganze Stunde; sie kam am Mittwoch Abend auch nicht richtig
in Gang. Einige Teilnehmer kritisierten, was im Grundlagendokument der Synode zum
kontemplativen Leben, zur Laizität oder zur kirchlichen Soziallehre steht; ein ostkirchlicher
Bischof rief die Kirche des Westens dazu auf, „die Traditionen der Ostkirchen stärker
zu respektieren und zu kennen“: „Die Kirche des Westens ist doch offen für alle, sogar
für Atheisten – warum nicht auch für die Ostkirchen? Warum können keine verheirateten
Priester in der Westkirche arbeiten? Das würde ihre Zahl erhöhen und die Westkirche
den anderen christlichen Kirchen annähern.“ (rv 13.10.2010 sk)