Papst Benedikt XVI. hat mit mehreren zehntausend Menschen im Londoner Hyde Park ein
Abendgebet gefeiert. In den Mittelpunkt stellte er die Figur Kardinal John Henry Newmans,
den er an diesem Sonntag in Birmingham seliggesprochen hat. Der von einer meditativen
Stimmung geprägte Gottesdienst war die letzte und zugleich teilnehmerstärkste Veranstaltung
des Papstes in London. Laut britischen Medienangaben kamen rund 80.000 Menschen zusammen.
(rv)
Lesen Sie hier die Rede im Wortlaut Liebe Brüder und Schwestern
in Christus!
Das ist ein Abend der Freude, einer ungemein geistlichen Freude
für uns alle. Wir sind hier zu einer Gebetsvigil zusammengekommen, um uns auf die
morgige heilige Messe einzustimmen, in der ein großer Sohn dieses Landes, Kardinal
John Henry Newman, seliggesprochen wird. Wie viele Menschen in England und in der
ganzen Welt haben diesen Moment herbeigesehnt! Es ist auch für mich persönlich eine
große Freude, dieses Ereignis mit euch gemeinsam zu feiern. Schon lange hat Newman,
wie ihr wisst, mein eigenes Leben und Denken in besonderer Weise beeinflusst, wie
er es bei so vielen Menschen über diese Inseln hinaus getan hat. Das Drama von Newmans
Leben lädt uns ein, unser Leben zu überprüfen, es vor dem weiten Horizont der Pläne
Gottes zu betrachten und in Gemeinschaft mit der Kirche zu jeder Zeit und an jedem
Ort zu wachsen: die Kirche der Apostel, die Kirche der Martyrer, die Kirche der Heiligen,
die Kirche, die Newman liebte und für deren Sendung er sein ganzes Leben einsetzte.
Ich danke Erzbischof Peter Smith für die herzlichen Worte, mit denen er mich
in eurem Namen willkommen geheißen hat, und es freut mich besonders, so viele junge
Menschen zu sehen, die bei dieser Vigil anwesend sind. Heute Abend möchte ich mit
euch in Verbindung mit unserem gemeinsamen Gebet über einige Aspekte von Newmans Leben
nachdenken, die ich für unser Leben und für das Leben der Kirche heute für sehr bedeutungsvoll
halte.
Ich möchte mit dem Gedanken beginnen, dass Newman, wie er selbst berichtet,
die Entwicklung seines ganzen Lebens auf eine einschneidende Erfahrung der Umkehr
als junger Mann zurückführte. Es war eine direkte Erfahrung der Wahrheit des Wortes
Gottes, der objektiven Realität der christlichen Offenbarung, wie sie in der Kirche
überliefert ist. Diese zugleich religiöse wie auch verstandesmäßige Erkenntnis hat
seine Berufung als Diener des Evangeliums, seine Einsicht über den Ursprung der Lehrautorität
der Kirche Gottes und seinen Eifer für die Erneuerung des kirchlichen Lebens in Treue
zur apostolischen Tradition beeinflusst. Am Ende seines Lebens beschreibt Newman sein
Lebenswerk als einen Kampf gegen die wachsende Tendenz, die Religion als bloß private
und subjektive Angelegenheit, als Frage von persönlicher Meinung zu betrachten. Das
ist die erste Lehre, die wir von seinem Leben lernen können: Wenn heutzutage ein intellektueller
und moralischer Relativismus die wahren Fundamente unserer Gesellschaft zu untergraben
droht, erinnert uns Newman daran, dass wir Menschen, die wir Abbild Gottes und ihm
ähnlich sind, erschaffen wurden, um die Wahrheit zu erkennen und in dieser Wahrheit
unsere höchste Freiheit und die Erfüllung unserer tiefsten menschlichen Sehnsucht
zu finden. Kurz gesagt, wir sind dazu bestimmt, Christus zu erkennen, der selbst „der
Weg und die Wahrheit und das Leben“ ist (Joh 14,6).
Das Leben von Newman
weist uns darauf hin, dass Leidenschaft für Wahrheit, intellektuelle Aufrichtigkeit
und echte Umkehr sehr anspruchsvoll sind. Wir können die Wahrheit, die uns frei macht,
nicht für uns selbst behalten; sie ruft zum Zeugnis auf, sie will gehört werden und
letztlich kommt ihre überzeugende Kraft aus ihr selbst und nicht von menschlicher
Beredsamkeit oder von Argumenten, in denen sie möglicherweise verborgen ist. In Tyburn,
nicht weit von hier entfernt, sind viele Brüder und Schwestern für den Glauben gestorben;
das Zeugnis ihrer Treue bis zum Ende war wirksamer als die mitreißenden Worte, die
so viele von ihnen gebrauchten, bevor sie alles dem Herrn hingaben. In der heutigen
Zeit wird man als Preis für die Treue zum Evangelium nicht mehr gehängt, gestreckt
und gevierteilt, sondern man wird häufig abgelehnt, lächerlich gemacht oder verspottet.
Und dennoch kann die Kirche sich nicht von der Aufgabe zurückziehen, Christus und
sein Evangelium als Heilswahrheit, als Quelle größten Glücks für jeden persönlich
und als Fundament für eine gerechte und menschliche Gesellschaft zu verkünden.
Schließlich
lehrt uns Newman, dass es keine Trennung geben kann zwischen dem, was wir glauben,
und der Art, wie wir unser Leben gestalten, wenn wir die Wahrheit Christi angenommen
und ihm unser Leben übergeben haben. Jeder Gedanke, jedes Wort und jede Handlung soll
auf Gott und auf die Ausbreitung seines Reiches gerichtet sein. Newman verstand das
und war der große Verfechter des prophetischen Amtes der christlichen Laien. Er erkannte
klar, dass wir die Wahrheit nicht so sehr auf rein intellektuelle Weise annehmen,
sondern sie vielmehr mit einer geistigen Dynamik erfassen sollen, die bis ins Innerste
unseres Wesens dringt. Die Wahrheit wird nicht nur durch formales Wissen – so wichtig
dies ist – übermittelt, sondern auch durch das Zeugnis des in Lauterkeit, Treue und
Heiligkeit gelebten Lebens; diejenigen, die in der Wahrheit und gemäß der Wahrheit
leben, begreifen instinktiv, was falsch ist, und sie erkennen genau das als falsch,
was gegen die Schönheit und Güte ist, die den Glanz der Wahrheit, veritatis splendor,
begleiten.
Die erste Lesung heute Abend ist das wunderbare Gebet, in dem der
heilige Paulus darum bittet, „die Liebe Christi zu verstehen, die alle Erkenntnis
übersteigt“ (Eph 3,19). Der Apostel bittet, dass durch den Glauben Christus
in unserem Herzen wohne (vgl. Eph 3,17), und dass wir dazu fähig sind, „mit
allen Heiligen … die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe“ (Eph 3,18) dieser
Liebe zu ermessen. Im Glauben erkennen wir Gottes Wort als Leuchte für unseren Fuß
und als Licht für unseren Pfad (vgl. Ps 119,105). Newman lehrt wie zahllose
Heilige, die ihm auf dem Weg der christlichen Nachfolge vorausgegangen sind, dass
das „freundliche Licht“ des Glaubens uns dazu führt, die Wahrheit über uns selbst,
unsere Würde als Kinder Gottes und das erhabene Ziel, das uns im Himmel erwartet,
zu verstehen. Wenn wir das Licht des Glaubens in unseren Herzen aufleuchten lassen
und durch unsere tägliche Verbindung mit dem Herrn im Gebet und die Teilhabe an den
lebensspendenden Sakramenten der Kirche in diesem Licht wohnen, werden wir selbst
Licht für die Menschen um uns; wir erfüllen unsere „prophetische Sendung“; häufig
bringen wir Menschen, sogar ohne uns dessen bewusst zu sein, dem Herrn und seiner
Wahrheit einen Schritt näher. Ohne Gebetsleben, ohne die durch die sakramentale Gnade
bewirkte innere Umwandlung, können wir nicht „Christus ausstrahlen“, wie Newman sagt;
wir werden leicht zu einer anderen „lärmenden Pauke“ (1 Kor 13,1) in einer
Welt voll von vermehrtem Lärm und Verwirrung, voll von so vielen falschen Wegen, die
nur zu Kummer und Illusion führen.
In einer der bevorzugten Meditationen des
Kardinals heißt es: „Gott hat mich erschaffen, damit ich ihm einen besonderen Dienst
erweise. Er hat mir eine Aufgabe übertragen, die er keinem anderen übergeben hat“
(Meditationen über die christliche Lehre). Das ist Newmans wahrer christlicher
Realismus, die unumgängliche Schnittstelle von Glauben und Leben. Durch das Wirken
des Heiligen Geistes im Leben und im Tun der Gläubigen soll der Glaube für die Umwandlung
der Welt fruchtbar werden. Keiner, der unsere Welt von heute realistisch betrachtet,
sollte meinen, dass Christen so weiterleben könnten wie bisher, indem sie die ernste
Krise des Glaubens, die unsere Gesellschaft erfasst hat, ignorieren oder einfach hoffen,
dass das im Laufe der christlichen Jahrhunderte übermittelte Erbe christlicher Werte
weiterhin die Zukunft unserer Gesellschaft beeinflussen und formen wird. Wir wissen,
dass in Zeiten der Krise und des Umbruchs Gott große Heilige und Propheten für die
Erneuerung der Kirche und der christlichen Gesellschaft berufen hat; wir vertrauen
auf seine Vorsehung und bitten um seine beständige Führung. Doch jeder und jede von
uns ist gemäß seinem und ihrem Lebensstand angesprochen, sich um die Ausbreitung des
Reiches Gottes zu bemühen und das irdische Leben mit den Werten des Evangeliums zu
durchdringen. Jeder von uns hat eine Sendung, jeder von uns ist aufgerufen, die Welt
zu verändern und sich für eine Kultur des Lebens einzusetzen, eine Kultur, die durch
Liebe und Respekt für die Würde eines jeden menschlichen Wesens geprägt ist. So sagt
uns der Herr in dem Evangelium, das wir gerade gehört haben, unser Licht soll vor
den Augen aller leuchten, damit sie, wenn sie unsere guten Werke sehen, unseren Vater
im Himmel preisen (vgl. Mt 5,16).
Nun möchte ich ein eigenes Wort an
die anwesenden jungen Menschen richten. Liebe junge Freunde: Nur Jesus weiß, welchen
„bestimmten Auftrag“ er für euch im Sinn hat. Seid offen für seine Stimme, die im
Inneren eures Herzens widerhallt; gerade jetzt spricht sein Herz zu eurem Herzen.
Christus braucht Familien, um die Welt an die Würde der menschlichen Liebe und die
Schönheit des Familienlebens zu erinnern. Er braucht Männer und Frauen, die ihr Leben
der edlen Erziehungsaufgabe widmen, die jungen Menschen zu umsorgen und sie im Geist
des Evangeliums zu formen. Er braucht solche, die ihr Leben dem Dienst der vollkommenen
Liebe weihen, ihm in Armut, Keuschheit und Gehorsam folgen und ihm im Geringsten unserer
Brüder und Schwestern dienen. Er braucht die kraftvolle Liebe der Mitglieder von beschaulichen
Orden, die das Zeugnis und das Wirken der Kirche durch ihr beständiges Gebet unterstützen.
Und er braucht Priester, gute und heilige Priester, Männer, die gewillt sind, ihr
Leben für ihre Schafe hinzugeben. Fragt unseren Herrn, was er für euch im Sinn hat!
Bittet ihn um die Bereitschaft, Ja zu sagen! Habt keine Angst, euch ganz Jesus hinzugeben.
Er wird euch die Gnade geben, die ihr braucht, um eure Berufung zu erfüllen. Diese
kurze Ansprache möchte ich schließen, indem ich euch herzlich einlade, mit mir im
nächsten Jahr am Internationalen Weltjugendtag in Madrid teilzunehmen. Das ist immer
eine wunderbare Gelegenheit, in der Liebe zu Christus zu wachsen und gemeinsam mit
Tausenden von anderen jungen Menschen zu einem frohen, lebendigen Glauben ermutigt
zu werden. Ich hoffe, viele von euch dort zu sehen!
Und nun, liebe Freunde,
wollen wir unsere Gebetsvigil fortsetzen und uns auf die Begegnung mit Christus vorbereiten,
der im Heiligsten Altarsakrament unter uns gegenwärtig ist. Zusammen wollen wir in
der Stille unserer gemeinsamen Anbetung Herz und Sinn seiner Gegenwart, seiner Liebe
und der überzeugenden Kraft seiner Wahrheit öffnen. Ganz besonders wollen wir ihm
für das bleibende Zeugnis dieser Wahrheit danken, das uns Kardinal John Henry Newman
geschenkt hat. Im Vertrauen auf sein Gebet bitten wir den Herrn, er möge unseren Weg
und den Weg der ganzen britischen Gesellschaft mit dem freundlichen Licht seiner Wahrheit,
seiner Liebe und seines Friedens erhellen. Amen.