Dokument: Papstrede vor der zivilen und akademischen Welt
„Mister Speaker! Ich danke Ihnen für den Willkommensgruß im Namen dieser erlesenen
Versammlung. Wenn ich mich nun an Sie wende, so bin ich mir des Privilegs bewußt,
hier in der Westminster Hall eine Ansprache an das britische Volk und seine Vertreter
halten zu dürfen. Dieses Gebäude ist von einzigartiger Bedeutung in der gesellschaftlichen
und politischen Geschichte des Volkes dieser Inseln. Dabei möchte ich auch meine Wertschätzung
für das Parlament zum Ausdruck bringen, das schon seit Jahrhunderten an diesem Ort
besteht und das einen großen Einfluß auf die Entwicklung von partizipativen Regierungsformen
unter den Nationen ausgeübt hat, insbesondere im Bereich des Commonwealth und den
englischsprachigen Ländern insgesamt. Ihre Tradition des common law bildet die Grundlage
für die Rechtsordnungen in vielen Teilen der Welt, und Ihre Sicht der jeweiligen Rechte
und Pflichten des Staates und der einzelnen Bürger sowie der Gewaltenteilung stellt
weltweit eine bleibende Inspiration dar. An diesem historischen Ort denke ich an
die unzähligen Männer und Frauen im Lauf der Jahrhunderte, die ihre Rolle bei den
bedeutsamen Ereignissen spielten, die in diesen Mauern stattfanden und das Leben vieler
Generationen von Briten und auch anderen geprägt haben. Besonders rufe ich die Gestalt
des heiligen Thomas More in Erinnerung, des großen englischen Gelehrten und Staatsmanns,
der von Gläubigen wie von Nichtglaubenden wegen seiner Rechtschaffenheit bewundert
wird, mit der er seinem Gewissen folgte, selbst um des Preises willen, daß es dem
Herrscher mißfiel, dessen „treuer Diener“ er war; denn er wollte an erster Stelle
Gott dienen. Das Dilemma, vor dem Thomas More in diesen schwierigen Zeiten stand,
diese stets aktuelle Frage nach dem Verhältnis zwischen dem, was dem Kaiser gebührt,
und dem, was Gott gebührt, bietet mir die Gelegenheit, mit Ihnen kurz über den der
Religion im politischen Leben zukommenden Platz nachzudenken. Die parlamentarische
Tradition dieses Staates verdankt viel dem im Land verbreiteten Sinn für maßvolle
Zurückhaltung und dem Wunsch, einen echten Ausgleich zwischen den legitimen Forderungen
der Regierung und den Rechten der ihr untergebenen Menschen zu erreichen. Im Lauf
der Geschichte wurden einerseits mehrmals entscheidende Maßnahmen zur Beschränkung
der Machtausübung ergriffen, andererseits konnten sich die politischen Institutionen
des Landes mit bemerkenswerter Stabilität entwickeln. Aus diesem Prozeß ist Großbritannien
als eine pluralistische Demokratie hervorgegangen, die großen Wert auf das Recht auf
freie Meinungsäußerung und politische Freiheit legt und Respekt für die gesetzlichen
Vorschriften zeigt mit einer starken Betonung auf den Rechten und Pflichten des einzelnen
und der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz. Auch wenn sie andere Begriffe verwendet,
so hat die kirchliche Soziallehre mit diesem Ansatz viel gemeinsam. Dabei bestimmt
sie die Sorge, die einzigartige Würde der als Ebenbild Gottes geschaffenen menschlichen
Person zu bewahren und das Augenmerk auf die der staatlichen Autorität zukommende
Pflicht der Förderung des Gemeinwohls zu legen. Und doch begegnen uns die fundamentalen
Fragen, um die sich der Prozeß von Thomas More drehte, im Lauf der Zeit auf stets
neue Weise in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Umständen. Jede Generation
muß sich auf der Suche nach dem Fortschritt im Gemeinwohl neu fragen: Welche Verpflichtungen
können Regierungen den Bürgern rechtmäßig auferlegen und wie weit erstrecken sich
diese? An welche Autorität muß man sich wenden, um moralische Konflikte zu lösen?
Diese Fragen bringen uns direkt zu den ethischen Grundlagen des gesellschaftlichen
Diskurses. Wenn die den demokratischen Abläufen zugrundeliegenden moralischen Prinzipien
ihrerseits auf nichts Soliderem als dem gesellschaftlichen Konsens beruhen, dann wird
die Schwäche dieser Abläufe allzu offensichtlich; darin liegt die wahre Herausforderung
der Demokratie. Die jüngste globale Finanzkrise hat nur zu klar gezeigt, daß pragmatische
Kurzzeitlösungen für komplexe soziale und ethische Probleme unbrauchbar sind. Es besteht
weitgehende Übereinstimmung darüber, daß der Mangel an soliden ethischen Grundlagen
für die wirtschaftliche Tätigkeit zu den großen Schwierigkeiten beigetragen hat, unter
denen jetzt Millionen von Menschen auf der ganzen Welt zu leiden haben. Genauso wie
„jede wirtschaftliche Entscheidung eine moralische Konsequenz hat“ (Caritas in veritate,
37), so hat auch im Bereich der Politik die ethische Dimension der politischen Programme
weitreichende Auswirkungen, die keine Regierung ignorieren kann. Ein positives Beispiel
dafür ist eine der besonders bemerkenswerten Errungenschaften des britischen Parlaments,
nämlich die Abschaffung des Sklavenhandels. Die Kampagne, die zu diesem epochalen
Gesetz führte, basierte auf festen ethischen Prinzipien, die im Naturrecht verwurzelt
waren, und es hat einen Beitrag zum Fortschritt der Zivilisation geleistet, auf die
dieses Land zu Recht stolz sein kann. Bei all dem geht es um folgende zentrale
Frage: Wo finden wir die ethische Grundlage für politische Entscheidungen? Die katholische
Lehrtradition sagt, daß die objektiven Normen für rechtes Handeln der Vernunft zugänglich
sind, ohne daß dazu ein Rückgriff auf die Inhalte der Offenbarung nötig wäre. Dementsprechend
besteht die Rolle der Religion in der politischen Debatte nicht so sehr darin, diese
Normen zu liefern, als ob sie von Nichtgläubigen nicht erkannt werden könnten. Noch
weniger geht es darum, konkrete politische Lösungen vorzuschlagen, was gänzlich außerhalb
der Kompetenz der Religion liegt. Es geht vielmehr darum, auf der Suche nach objektiven
moralischen Prinzipien zur Reinigung und zur Erhellung der Vernunftanstrengung beizutragen.
Diese „korrigierende“ Rolle der Religion gegenüber der Vernunft ist nicht immer willkommen,
unter anderem weil entstellte Formen der Religion wie Sektierertum und Fundamentalismus
sich selbst als Ursachen schwerer gesellschaftlicher Probleme erweisen können. Diese
Verzerrungen der Religion treten ihrerseits dann auf, wenn der reinigenden und strukturierenden
Rolle der Vernunft im Bereich der Religion zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Es ist also ein Prozeß in beide Richtungen. Ohne die Korrekturfunktion der Religion
kann jedoch auch die Vernunft den Gefahren einer Verzerrung anheimfallen, wenn sie
zum Beispiel von Ideologien manipuliert wird oder auf einseitige Weise zur Anwendung
kommt, ohne die Würde der menschlichen Person voll zu berücksichtigen. Ein solcher
Mißbrauch der Vernunft war es ja auch, der den Sklavenhandel und viele andere gesellschaftliche
Übel erst ermöglicht hat, nicht zuletzt die totalitären Ideologien des zwanzigsten
Jahrhunderts. Darum würde ich sagen, daß die Welt der Vernunft und die Welt des Glaubens
– die Welt der säkularen Rationalität und die Welt religiöser Gläubigkeit – einander
brauchen und keine Angst davor haben sollten, zum Wohl unserer Zivilisation in einen
tiefen und andauernden Dialog zu treten. Die Religion ist, anders gesagt, für die
Gesetzgeber nicht ein Problem, das gelöst werden muß, sondern ein äußerst wichtiger
Gesprächspartner im nationalen Diskurs. In diesem Zusammenhang komme ich nicht umhin,
meine Besorgnis zu äußern, daß die Religion und besonders das Christentum in einigen
Bereichen zunehmend an den Rand gedrängt werden, auch in Ländern, die großen Wert
auf Toleranz legen. Manche sprechen sich dafür aus, die Stimme der Religion zum Schweigen
zu bringen oder wenigstens ganz auf die Privatsphäre zu beschränken. Andere behaupten,
daß von der öffentlichen Feier von Festen wie Weihnachten abgesehen werden sollte,
und begründen es mit der fragwürdigen Annahme, daß solche Bräuche Angehörige anderer
Religionen oder Nichtgläubige auf irgendeine Weise verletzen könnten. Schließlich
fordern einige – paradoxerweise mit dem Ziel, die Diskriminierung zu bekämpfen –,
daß von Christen, die ein öffentliches Amt ausüben, gegebenenfalls verlangt werden
sollte, gegen ihr Gewissen zu handeln. Das sind besorgniserregende Zeichen einer Mißachtung
nicht nur der Rechte gläubiger Menschen auf Gewissens- und Religionsfreiheit, sondern
auch der legitimen Rolle der Religion im öffentlichen Leben. Ich möchte Sie alle daher
einladen, in Ihren Wirkungsbereichen nach Wegen zu suchen, wie der Dialog zwischen
Glaube und Vernunft auf allen Ebenen im Leben dieses Landes gefördert und belebt werden
kann. Ihre Bereitschaft dazu zeigt sich bereits in der vorher nie dagewesenen
Einladung des heutigen Tages an mich. Es kommt auch in den Anliegen zum Ausdruck,
in denen Ihre Regierung mit dem Heiligen Stuhl zusammenarbeitet. Im Bereich der Friedensbemühungen
werden Gespräche hinsichtlich der Ausarbeitung internationaler Abkommen zum Waffenhandel
geführt; im Bereich der Menschenrechte haben der Heilige Stuhl und Großbritannien
die Ausbreitung der Demokratie willkommen geheißen, besonders in den vergangenen 65
Jahren; in der Entwicklungshilfe gibt es Zusammenarbeit im Bereich des Schuldenerlasses,
des fairen Handels und der Finanzierung der Entwicklung, insbesondere durch die International
Finance Facility, den International Immunization Bond und das Advanced Market Commitment.
Der Heilige Stuhl hofft darauf, in der Zukunft mit Großbritannien zum Wohl aller auch
neue Wege zur Förderung des Umweltbewußtseins beschreiten zu können. Ich möchte
auch besonders erwähnen, daß die gegenwärtige Regierung die Verpflichtung übernommen
hat, daß Großbritannien ab 2013 0,7 Prozent seines nationalen Einkommens für Entwicklungshilfe
ausgeben wird. In den vergangenen Jahren war es ermutigend, die positiven Zeichen
einer weltweit zunehmenden Solidarität gegenüber den Armen zu sehen. Aber die Umsetzung
dieser Solidarität in effektive Maßnahmen erfordert ein neues Denken, das zu einer
Verbessung der Lebensbedingungen in vielen Bereich führen kann wie der Nahrungsmittelproduktion,
der Trinkwasserversorgung, der Schaffung von Arbeitsplätzen, der Bildung, der Familienförderung,
besonders von Migranten, und der grundlegenden Gesundheitsversorgung. Wo es um Menschenleben
geht, drängt die Zeit immer: Doch die Welt wurde Zeuge der enormen Mittel, die Regierungen
zur Rettung von Finanzinstitutionen aufbringen konnten, von denen man geglaubt hat,
sie seien „zu groß zum Scheitern“. Die ganzheitliche Entwicklung der Völker dieser
Welt ist gewiß nicht weniger wichtig: Das ist eine Aufgabe, die die Aufmerksamkeit
der Welt verdient und die fürwahr „zu groß zum Scheitern“ ist. Der Überblick über
die Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und dem Heiligen Stuhl in jüngster Zeit
zeigt gut, wie viel Fortschritt seit der Aufnahme bilateraler diplomatischer Beziehungen
bei der Förderung der vielen gemeinsamen Grundwerte in der ganzen Welt erzielt werden
konnte. Ich hoffe und bete, daß diese Beziehung weiter Frucht bringen wird und daß
sie sich auf allen Ebenen der Gesellschaft in einer zunehmenden Anerkennung der Notwendigkeit
eines Dialogs und des Respekts zwischen der Welt der Vernunft und der Welt des Glaubens
widerspiegeln wird. Ich bin überzeugt, daß auch in diesem Land die Kirche und die
staatlichen Autoritäten in vielen Bereichen zum Wohl der Bürger zusammenarbeiten können,
in Übereinstimmung mit der historischen Tradition dieses Parlaments, den Beistand
des Heiligen Geistes für jene anzurufen, die sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen
der Menschen einsetzen. Damit eine solche Zusammenarbeit möglich wird, bedürfen religiöse
Verbände – unter ihnen die mit der katholischen Kirche verbundenen Institutionen –
der Freiheit, nach ihren eigenen Prinzipien und spezifischen Überzeugungen zu handeln,
die auf dem Glauben und der offiziellen Lehre der Kirche beruhen. Auf diese Weise
werden so grundlegende Rechte wie die Religions-, Gewissens und Versammlungsfreiheit
gewährleistet. Die Engel, die von der wunderbaren Decke dieses altehrwürdigen Saales
auf uns herabblicken, erinnern uns an die lange Tradition, aus der sich die britische
parlamentarische Demokratie entwickelt hat. Sie erinnern uns daran, daß Gott stets
über uns wacht, uns führt und uns schützt. Und sie laden uns ein, den entscheidenden
Beitrag anzuerkennen, den der Glaube zum Leben dieses Landes geleistet hat und noch
weiter leisten kann. Mister Speaker, ich danke Ihnen einmal mehr für die Gelegenheit,
kurz zu diesem erlesenen Personenkreis zu sprechen. Gerne versichere ich Ihnen und
dem Lord Speaker meine besten Wünsche und mein beständiges Gebet für Sie und für die
fruchtbare Arbeit beider Häuser dieses altehrwürdigen Parlaments. Vielen Dank und
Gott segne sie alle!“