„Nachdem ich die Zeugenaussagen
gehört habe, gehe ich gebeugten Hauptes angesichts der Schande, die auf mir lastet,
weil ich Inder bin.“ Diese pathetischen Worte stammen vom ehemaligen Vorsitzenden
des obersten Gerichtshofes in Indien, A.P. Shah. Er war Vorsitzender eines „Volkstribunals“,
das helfen sollte, die Christenverfolgungen im Bundesstaat Orissa aus dem Jahr 2008
aufzuklären. Das vom Opferverband „Nationales Solidaritätsforum“ organisierte inoffizielle
Tribunal fand vom 22. bis zum 24. August in Kandhamal statt. Neben dem eben zitierten
ehemaligen Richter A.P. Shah saßen im Gerichtssaal weitere elf Ehrenamtliche, unter
ihnen andere Richter, Menschenrechtsaktivisten und weitere angesehene Personen des
öffentlichen Lebens. Orissa, Schauplatz der Christenverfolgungen, liegt in der Erzdiözese
Cuttack-Bhubaneswar. Der dortige Oberhirte, Raphael Cheenath, war bei den Gerichtsverhandlungen
dabei. Im Gespräch mit Radio Vatikan berichtet von den Anhörungen:
„Wir
haben 82 Opfer aus Kandhamal, die jetzt in Delhi leben, vor Gericht gerufen. Die Richter
haben sie Gruppe für Gruppe befragt: Wie sie behandelt wurden, wie sie keine Wohnung
bekommen haben. All diese Dinge fragen die Richter und geben dann ein Urteil ab.“
Was
wollten die Gerechtigkeitsaktivisten mit der inoffiziellen Verhandlung erreichen,
eigentlich müsste doch das offizielle Rechtssystem auf dem Subkontinent handeln? Erzbischof
Cheenath erklärt:
„Ziel ist zu sehen, was die Regierung bisher gemacht hat
und wie sich die Regierung ganz am Anfang verhalten hat, vor allem während der Verfolgungen
und was sie danach getan hat, wie die Opfer immer noch leiden – all das untersuchen
die Richter“
Noch einmal zur Erinnerung: Vor zwei Jahren ermordeten im
nordindischen Bundesstaat nationalistische Hindus mehr als 90 Christen, zerstörten
300 Kirchen und tausende Wohnhäuser und trieben 56.000 Christen in die Flucht. Zwei
Jahre nach den Pogromen gegen Christen sind die Täter noch immer auf freiem Fuß. Am
Donnerstag, nachdem die letzten Opfer den Zeugenstand verlassen hatten, erging das
Urteil der Richter: „Die Parteinahme von staatlichen Institutionen und der Polizei
ist skandalös.“ Die staatlichen Behörden seien in die Gewalttaten verwickelt und behinderten
ein Vorankommen der Justiz bei der Bestimmung der Täter, so die Anklage des Volkstribunals
an den indischen Staat. Von einer gerechten Strafe für die Täter einmal abgesehen,
hat sich denn wenigstens die aktuelle Lage der Christen verbessert? Das fragten wir
den Erzbischof:
„Es gibt keine Verfolgung im Sinne von Angriffen oder Gewalt,
aber Furcht und Angst sind immer noch da. Es gibt mehr als 20 Dörfer, die den Christen
nicht erlauben zurückzukommen. Die Versuche der Regierung hatten keinen Erfolg. Sie
sagen: ‚Wenn ihr zurückkommen wollt, müsst ihr Hindus werden, dann könnt ihr zurückkehren.
Wenn ihr das nicht macht und trotzdem zurückkommt, dann werden wir euch töten.’ Das
ist die Angst in mindestens 20 Dörfern. Auch weil die Opfer vor Gericht aussagen,
ist diese Furcht da. Manche von ihnen werden beschützt und verstecken sich, weil sie
von den Kriminellen bedroht wurden: Ihr müsst vor Gericht die Position eurer Bruderkaste
einnehmen, sonst töten wir euch. In dieser Situation haben viele der Opfer ihre Zeugenaussagen
gemacht.“
Ein drängendes Problem sind die zigtausend Christen, die 2008
ihr Hab und Gut verloren, in Angst und Verfolgung ihre Heimat verließen und jetzt
von vorne beginnen müssen. Hilfe beim Neuanfang bekommen sie von der katholischen
Kirche:
„Wir haben mehr als 2000 Häuser in Kandhamal gebaut. Sie haben dort
keine Probleme, weil es Dörfer sind, wo die Nachbarn sie willkommen heißen. Wir haben
ca. 15.000 Menschen umgesiedelt, der Rest ist irgendwo in Delhi, manche von ihnen
leben in Zelten, manche in Mietshäusern, manche haben überhaupt keinen Ort, wo sie
hingehen könnten, sie haben Angst, zurückzukommen. Wir hoffen, bis Ende dieses Jahres
3.000 Häuser fertig zu stellen, sodass wir weitere 25.000 Menschen umsiedeln können.“
An
diesem Sonntag feierten die Christen Indiens den „Nationalen Tag der Märtyrer“, um
all derer zu gedenken, die aufgrund ihres christlichen Glaubens ihr Leben verloren
– dabei waren die Gedanken der indischen Christen natürlich besonders bei den Opfern
von Orissa, deren Martyrium fast genau zwei Jahren zurückliegt. Es war kein Tag, an
dem die Fronten sich verhärten sollten, erklärt der Erzbischof der Diözese Nahik,
Felix Anthony Machado. Im Gespräch mit Radio Vatikan erläutert die besondere Bedeutung
dieses Tages für den Prozess der Versöhnung in Indien:
„Wir müssen den Sieg
des Guten über das Böse feiern. Dieser Tag muss eine Gelegenheit sein, Gott zu danken,
denn das Leid ist keine Strafe Gottes. Das Leid ist ein Teil des Lebens als Christ
und wir müssen dem Herrn danken, denn das Kreuz ist der Keim des Lebens und des Heils.
Indien braucht eine wirkliche Versöhnung. Am Kreuz hat Jesus alles Böse und allen
Hass überwunden: Das ist es, was wir Christen auch versuchen müssen, die Sehnsucht
nach Frieden und Versöhnung mit allen Menschen guten Willens wachsen lassen.“