Die deutsche Wiedervereinigung
jährt sich in einigen Wochen zum 20. Mal. Es war für viele die ersehnte Antwort auf
jahrzehntelange Entbehrungen, auf Hoffen, Bangen und Schweigen. Andere trauern den
klaren Strukturen der DDR hinterher. Kritiker klagen noch heute darüber, die Wiedervereinigung
sei zu schnell gegangen. Der Osten sei den neuen Anforderungen nicht gewachsen gewesen
– die Gleichberechtigung fehlte. So verschieden wie die Systeme von Ost und West damals
waren – politisch, ideologisch, wirtschaftlich – so verschieden sind bis heute die
Meinungen über den Ausgang der DDR. War die „Deutsche Demokratische Republik“ ein
„Unrechtsstaat“ oder doch nur ein „Rechtsstaat mit Schwachstellen“? Wolfgang Thierse,
der stellvertretende Bundestagspräsident, erklärte unseren Kollegen vom Domradio,
warum die DDR heute so schwer zu beurteilen ist. „Gewiss wird man
über die DDR nicht nur die Formel von Unrechtsstaat verwenden, sondern man muss darüber
reden, dass es auch nach dem Selbstverständnis dieses Staates eine Diktatur der SED
gewesen ist, ausgeübt zusammen mit den Blockparteien. Es gab auch keinen Rechtsstaat,
nämlich keine unabhängige Justiz, sondern durchaus auch politische Strafjustiz. Und
man muss auch darüber reden, dass diese DDR eine Notgemeinschaft ihrer Bürger gegen
den Staat gewesen ist, gegen die Zudringlichkeiten der Politik, gegen den alltäglichen
Mangel.“
Die Kategorie Unrechtsstaat allein decke also das Bild der DDR
nicht ab, meint Thierse. Der Grund dafür liege in der Gesellschaft selber, dort wo
der Wille zur politischen Verbesserung war.
„Dieser Staat ist untergegangen.
Das System ist gescheitert. Aber damit sind doch nicht die Menschen gescheitert. Und
ihre Biografien sind nicht gescheitert. Diese Unterscheidung war immer wichtig. Das
Urteil über die DDR, das System, das politische, wirtschaftliche, ideologische System
muss klar und eindeutig sein. Aber das Urteil über die Menschen, die da auf höchst
unterschiedliche Weise gelebt haben, soll behutsam und differenziert sein.“
Behutsam heißt vor allem: Kein Generalverdacht über die Bürger aus dem ehemaligen
Ostdeutschland verhängen. Wolfgang Thierse selbst ist in der DDR aufgewachsen. Er
kennt die Verletzlichkeit seiner ehemaligen Mitbürger.
„Selbst in diesem
Unrechtsstaat ist doch auch vernünftiges Recht gesprochen worden, in Ehescheidungen
etwa oder wenn ein Einbrecher verurteilt worden ist. Aber das galt ja sogar für die
Nazizeit. Das sind Unterschiede, selbst wenn ein System immer von Menschen getragen
wird. Der Generalstaatsanwalt hat dieses System stärker geprägt als irgendein kleiner
Angestellter oder Arbeiter oder eine Krankenschwester, die ihre Lebenskompromisse
mit dieser Diktatur eingehen musste.“
Selbstkritik und Selbstbewusstsein
– das wünscht sich Wolfgang Thierse zukünftig von den Erzählungen der ehemaligen DDR-Bürger.
Damit das Bild des ehemaligen ostdeutschen Staates für alle deutlicher wird. (Domradio
24.08.2010 jv)