Am vergangenen Sonntag
vor 15 Jahren geschah in der kleinen bosnischen Enklave Srebrenica das schwerste Kriegsverbrechen
in Europa seit Ende des zweiten Weltkrieges. Serbische Truppen ermordeten damals ca.
8.000 bosniakische Jungen und Männer jeglichen Alters und verscharrten sie in Massengräbern:
Es war der tragische Höhepunkt eines Krieges zwischen Religionen und Ethnien, der
dem Zerfall des Vielvölkerstaates Jugoslawien folgte. Srebrenica ist noch immer eine
offene Wunde im Prozess der Versöhnung auf dem Balkan, ein unüberwundener Schmerz
für die Hinterbliebenen – und nicht zuletzt eine Mahnmal für die Staatengemeinschaft.
Am
11. Juli 1995 wurde Srebrenica, ein kleines muslimisches Dorf am Ostrand von Bosnien-Herzegowina
von serbischen Truppen unter General Ratko Mladic eingenommen. Die UNO hatte das gesamte
Gebiet zuvor als „Schutzzone“ erklärt, für diesen Schutz verantwortlich war ein Bataillon
von niederländischen Blauhelmsoldaten. Doch die Situation geriet außer Kontrolle:
Die UN-Soldaten konnten weder die serbischen Truppen kontrollieren noch boten sie
der anstürmenden Bevölkerung Srebrenicas Schutz. Vor den Augen der UNO-Truppen begannen
die serbischen Soldaten, Männer von Frauen und Kindern zu trennen. Francesco Strazzari
ist Politikwissenschaftler an der Universität Pisa und erzählt:
„Das Bataillon
der UNO in Srebrenica war in einer Situation unglaublicher Agonie in den Stunden vor
dem Massaker. Die Einwohner des Dorfes erinnern sich, wie die Soldaten sie verspotteten.
Die Aufmerksamkeit liegt immer nur auf der letzten Szene dieser Tragödie. Wie man
zu dieser Tragödie gekommen ist, da muss noch viel aufgearbeitet werden."
Mladics
Truppen brachten die Männer und Jungen an verschiedene Orte in der Umgebung und erschossen
sie. Danach verscharrten sie die Leichen in verschiedenen Massengräbern, in der Hoffnung,
das Verbrechen vertuschen zu können. Kemal Pervanic stammt nicht aus Srebrenica, er
ist ein weiter im Westen von Bosnien aufgewachsener Muslim. Auch er erlebte die Gräuel
des Krieges. Im Gespräch mit Radio Vatikan berichtet er:
„Das Leben war
wirklich schön, bevor der Krieg in mein Dorf kam, abgesehen von der wirtschaftlichen
Krise. Ich lebte in einer ganz gemischten Gemeinde, wir hatten keine Probleme miteinander,
es gab auch gemischte Ehen. Als der Krieg begann und ich die Verfolgungen von Muslimen
in Ost-Bosnien sah, glaubte ich wirklich nicht, dass mir so etwas passieren könnte.
Ich dachte mir, das sind doch meine Freunde, Nachbarn, meine alten Schulkameraden.
Ich hatte einmal die Chance zu fliehen, doch entschied ich, dazubleiben.
Ende Mai passierte es dann leider auch mir: Mein Dorf wurde komplett entvölkert, niemand
blieb zurück, Frauen und Kinder wurden von dem, was die serbischen Nationalisten „Männer
im kampffähigen Alter“ nennen, getrennt –auch wenn einige von ihnen erst 13 oder 14
Jahre alt waren."
Pervanic wurde in ein Gefangenenlager in einer alten
Eisenmine gebracht, gemeinsam mit mehreren tausend anderen Gefangenen. Die Zustände
in dem Camp seien grauenhaft gewesen, so Pervanic, in dem kleinen Raum sei nicht einmal
Platz zum Hinsetzen gewesen, es gab eine Mahlzeit am Tag, am Sonntag gar nichts. Pervanic
überlebte und kann erzählen, wie der Krieg aus Freunden Feinde machte:
„Das
Camp wurde von meinen alten Schulkameraden bewacht, von den Polizisten, auf deren
Schutz ich mich vor dem Krieg verlassen habe. Nachbarn und Schulfreunde sind zu Mördern
geworden. Es gibt keinen Grund, warum andere gefoltert oder getötet wurden und ich
heute hier stehe und mit Ihnen rede.“
15 Jahre nach dem Massaker in Srebrenica
fand an diesem Sonntag eine Gedenkfeier statt, an der Zehntausende Menschen teilnahmen.
Unter ihnen waren neben vielen Angehörigen der Opfer auch der türkische Ministerpräsident
Erdogan und der serbische Staatspräsident Tadic. Im Zuge der Gedenkfeier wurden 775
der Opfer des Massakers beerdigt, die erst jetzt mittels DNA-Proben identifiziert
werden konnten – viele Tote bleiben noch namenlos. Der Franziskanerpater Benedikta
Vujice ist Theologiedozent in Sarajevo, wir fragten ihn, was diese Gedenkfeier 15
Jahre nach dem Massaker bedeutet.
„Im Herzen Europas ist ein unglaubliches
Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschehen, verursacht durch
den Hass der Staatsführer einer Nation gegen die andere, durch den Hass einer Religion
gegen die andere. Das wichtigste an den Erinnerungsfeiern ist immer der Aufruf, dass
so etwas niemals und nirgendwo auf diesem Planeten wieder passiert."
Es
sei noch ein langer Weg auf der Straße der Versöhnung, so P. Vujice, ein Weg auf dem
auch die katholische Kirche eine bedeutende Rolle spielt:
„Wir müssen in
der Praxis der christlichen Religion treu bleiben, dem Evangelium gemäß handeln. Wenn
wir das tun, dann ist unsere Rolle auf jeden Fall positiv zu sehen. Aber es gibt auch
unter uns und in der Politik Menschen, die sich katholisch nennen, aber nichts Gutes
tun. Sie stimmen nicht mit dem Evangelium, dem gelebten und verkündeten Glauben überein.
Wir müssen noch viel katholischer sein, viel treuer dem Evangelium gegenüber."
Versöhnung
könne letztlich aber nur eine in Frieden aufgewachsene Generation junger Menschen
bringen, so der Franziskaner:
„Sie sind eine Hoffnung, unsere Hoffnung.
Die ganze Gesellschaft muss sich dafür einsetzen, ihnen Bildung zu ermöglichen, muss
ihnen beibringen, gegenseitig Respekt zu zeigen und keinen Unterschied zu machen zwischen
Religion oder Ethnie. Die offiziellen Stellen müssen sich anstrengen, um gute und
fruchtbringende Programme zur Ausbildung dieser neuen Generation schaffen."
Der
Muslim Pervanic stammt aus einem Dorf, in dem Muslime und Christen, Serben und Bosniaken
nebeneinander und miteinander gelebt haben. Er hat Angst, dass für diese neue Generation
die Gräben zwischen Nationen und Religionen bereits zu tief sind.
„Es ist
eine komplett neue Generation von jungen Bosniern und Serben. Sie sind entweder während
des Krieges oder danach geboren erinnern sich nicht an das Leben, das sie vor dem
Krieg geführt haben: Sie lebten alle zusammen, verschiedene Nationalitäten und Religionen.
Diese jungen Menschen wissen nicht mehr, was während des Krieges passiert ist, sie
wissen das, was ihnen ihre Eltern erzählen. Viele der jungen Serben aus meinem Dorf
sehen sich als eigentliche Opfer dieses Krieges. Bei dem Besuch in meinem Heimatort
habe ich gesehen, wie sie T-Shirts mit dem Bild von Karadzic tragen, ihrem Nationalheld.
Für mich ist das eine verlorene Generation."
Was bleibt also von Srebrenica?
Auch der Westen ist im Bosnienkrieg schuldig geworden, meint der Politikwissenschaftler
Strazzari und mahnt, die Erinnerung an die Opfer nicht zum Spielball politischer Interessen
werden zu lassen.
„Während des Bosnienkrieges hatte der Westen in jeder
Ecke Reporter und Journalisten. Wir können uns also nicht hinter einem „Wir haben
nichts gesehen“ verstecken. Das ist das Wichtige, was wir aus den toten Körpern und
Beerdigungen lernen. Denn es ist immer leicht, sich das Erbe eines Krieges politisch
zunütze zu machen. Das Wichtige ist, dass die Toten und ihre Beerdigungen eine Brücke
bauen und zu Versöhnung und Wahrheit führen – und nicht Hass und Egoismus wieder aufleben
lassen."
Der Henker von Srebrenica, Ratko Mladic, ist noch immer nicht
gefasst, viele vermuten, dass ihn serbische Nationalisten vor der Verhaftung schützen;
der ehemalige Präsident Serbiens, Slobodan Milosevic starb, bevor das Kriegsverbrechertribunal
in Den Haag über ihn urteilen konnte, das Pulverfass Balkan ist noch immer nicht ganz
abgekühlt: Viele offene Wunden. So kann Srebrenica nur der Anfang einer einfachen
Hoffnung sein, wie sie P. Benedikta formuliert.
„Es hat uns gezeigt, dass
man die Würde des Menschen respektieren muss, ohne einen Unterschied zu machen zwischen
Religion und Nationalität, Kultur und Hautfarbe. Für immer muss auf Gewalt, politische,
kulturelle oder wirtschaftliche Überheblichkeit verzichtet werden, auf Tyrannei und
Unterdrückung. Der Mensch muss als Schöpfung Gottes geachtet werden: Das ist es, was
wir alle lernen müssen."