2010-07-15 14:57:09

15 Jahre Srebrenica: Eine offene Wunde


RealAudioMP3 Am vergangenen Sonntag vor 15 Jahren geschah in der kleinen bosnischen Enklave Srebrenica das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des zweiten Weltkrieges. Serbische Truppen ermordeten damals ca. 8.000 bosniakische Jungen und Männer jeglichen Alters und verscharrten sie in Massengräbern: Es war der tragische Höhepunkt eines Krieges zwischen Religionen und Ethnien, der dem Zerfall des Vielvölkerstaates Jugoslawien folgte. Srebrenica ist noch immer eine offene Wunde im Prozess der Versöhnung auf dem Balkan, ein unüberwundener Schmerz für die Hinterbliebenen – und nicht zuletzt eine Mahnmal für die Staatengemeinschaft.

Am 11. Juli 1995 wurde Srebrenica, ein kleines muslimisches Dorf am Ostrand von Bosnien-Herzegowina von serbischen Truppen unter General Ratko Mladic eingenommen. Die UNO hatte das gesamte Gebiet zuvor als „Schutzzone“ erklärt, für diesen Schutz verantwortlich war ein Bataillon von niederländischen Blauhelmsoldaten. Doch die Situation geriet außer Kontrolle: Die UN-Soldaten konnten weder die serbischen Truppen kontrollieren noch boten sie der anstürmenden Bevölkerung Srebrenicas Schutz. Vor den Augen der UNO-Truppen begannen die serbischen Soldaten, Männer von Frauen und Kindern zu trennen. Francesco Strazzari ist Politikwissenschaftler an der Universität Pisa und erzählt:

„Das Bataillon der UNO in Srebrenica war in einer Situation unglaublicher Agonie in den Stunden vor dem Massaker. Die Einwohner des Dorfes erinnern sich, wie die Soldaten sie verspotteten. Die Aufmerksamkeit liegt immer nur auf der letzten Szene dieser Tragödie. Wie man zu dieser Tragödie gekommen ist, da muss noch viel aufgearbeitet werden."

Mladics Truppen brachten die Männer und Jungen an verschiedene Orte in der Umgebung und erschossen sie. Danach verscharrten sie die Leichen in verschiedenen Massengräbern, in der Hoffnung, das Verbrechen vertuschen zu können. Kemal Pervanic stammt nicht aus Srebrenica, er ist ein weiter im Westen von Bosnien aufgewachsener Muslim. Auch er erlebte die Gräuel des Krieges. Im Gespräch mit Radio Vatikan berichtet er:

„Das Leben war wirklich schön, bevor der Krieg in mein Dorf kam, abgesehen von der wirtschaftlichen Krise. Ich lebte in einer ganz gemischten Gemeinde, wir hatten keine Probleme miteinander, es gab auch gemischte Ehen. Als der Krieg begann und ich die Verfolgungen von Muslimen in Ost-Bosnien sah, glaubte ich wirklich nicht, dass mir so etwas passieren könnte. Ich dachte mir, das sind doch meine Freunde, Nachbarn, meine alten Schulkameraden.
Ich hatte einmal die Chance zu fliehen, doch entschied ich, dazubleiben. Ende Mai passierte es dann leider auch mir: Mein Dorf wurde komplett entvölkert, niemand blieb zurück, Frauen und Kinder wurden von dem, was die serbischen Nationalisten „Männer im kampffähigen Alter“ nennen, getrennt –auch wenn einige von ihnen erst 13 oder 14 Jahre alt waren."

Pervanic wurde in ein Gefangenenlager in einer alten Eisenmine gebracht, gemeinsam mit mehreren tausend anderen Gefangenen. Die Zustände in dem Camp seien grauenhaft gewesen, so Pervanic, in dem kleinen Raum sei nicht einmal Platz zum Hinsetzen gewesen, es gab eine Mahlzeit am Tag, am Sonntag gar nichts. Pervanic überlebte und kann erzählen, wie der Krieg aus Freunden Feinde machte:

„Das Camp wurde von meinen alten Schulkameraden bewacht, von den Polizisten, auf deren Schutz ich mich vor dem Krieg verlassen habe. Nachbarn und Schulfreunde sind zu Mördern geworden. Es gibt keinen Grund, warum andere gefoltert oder getötet wurden und ich heute hier stehe und mit Ihnen rede.“

15 Jahre nach dem Massaker in Srebrenica fand an diesem Sonntag eine Gedenkfeier statt, an der Zehntausende Menschen teilnahmen. Unter ihnen waren neben vielen Angehörigen der Opfer auch der türkische Ministerpräsident Erdogan und der serbische Staatspräsident Tadic. Im Zuge der Gedenkfeier wurden 775 der Opfer des Massakers beerdigt, die erst jetzt mittels DNA-Proben identifiziert werden konnten – viele Tote bleiben noch namenlos. Der Franziskanerpater Benedikta Vujice ist Theologiedozent in Sarajevo, wir fragten ihn, was diese Gedenkfeier 15 Jahre nach dem Massaker bedeutet.

„Im Herzen Europas ist ein unglaubliches Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschehen, verursacht durch den Hass der Staatsführer einer Nation gegen die andere, durch den Hass einer Religion gegen die andere. Das wichtigste an den Erinnerungsfeiern ist immer der Aufruf, dass so etwas niemals und nirgendwo auf diesem Planeten wieder passiert."

Es sei noch ein langer Weg auf der Straße der Versöhnung, so P. Vujice, ein Weg auf dem auch die katholische Kirche eine bedeutende Rolle spielt:

„Wir müssen in der Praxis der christlichen Religion treu bleiben, dem Evangelium gemäß handeln. Wenn wir das tun, dann ist unsere Rolle auf jeden Fall positiv zu sehen. Aber es gibt auch unter uns und in der Politik Menschen, die sich katholisch nennen, aber nichts Gutes tun. Sie stimmen nicht mit dem Evangelium, dem gelebten und verkündeten Glauben überein. Wir müssen noch viel katholischer sein, viel treuer dem Evangelium gegenüber."

Versöhnung könne letztlich aber nur eine in Frieden aufgewachsene Generation junger Menschen bringen, so der Franziskaner:

„Sie sind eine Hoffnung, unsere Hoffnung. Die ganze Gesellschaft muss sich dafür einsetzen, ihnen Bildung zu ermöglichen, muss ihnen beibringen, gegenseitig Respekt zu zeigen und keinen Unterschied zu machen zwischen Religion oder Ethnie. Die offiziellen Stellen müssen sich anstrengen, um gute und fruchtbringende Programme zur Ausbildung dieser neuen Generation schaffen."

Der Muslim Pervanic stammt aus einem Dorf, in dem Muslime und Christen, Serben und Bosniaken nebeneinander und miteinander gelebt haben. Er hat Angst, dass für diese neue Generation die Gräben zwischen Nationen und Religionen bereits zu tief sind.

„Es ist eine komplett neue Generation von jungen Bosniern und Serben. Sie sind entweder während des Krieges oder danach geboren erinnern sich nicht an das Leben, das sie vor dem Krieg geführt haben: Sie lebten alle zusammen, verschiedene Nationalitäten und Religionen. Diese jungen Menschen wissen nicht mehr, was während des Krieges passiert ist, sie wissen das, was ihnen ihre Eltern erzählen. Viele der jungen Serben aus meinem Dorf sehen sich als eigentliche Opfer dieses Krieges. Bei dem Besuch in meinem Heimatort habe ich gesehen, wie sie T-Shirts mit dem Bild von Karadzic tragen, ihrem Nationalheld. Für mich ist das eine verlorene Generation."

Was bleibt also von Srebrenica? Auch der Westen ist im Bosnienkrieg schuldig geworden, meint der Politikwissenschaftler Strazzari und mahnt, die Erinnerung an die Opfer nicht zum Spielball politischer Interessen werden zu lassen.

„Während des Bosnienkrieges hatte der Westen in jeder Ecke Reporter und Journalisten. Wir können uns also nicht hinter einem „Wir haben nichts gesehen“ verstecken. Das ist das Wichtige, was wir aus den toten Körpern und Beerdigungen lernen. Denn es ist immer leicht, sich das Erbe eines Krieges politisch zunütze zu machen. Das Wichtige ist, dass die Toten und ihre Beerdigungen eine Brücke bauen und zu Versöhnung und Wahrheit führen – und nicht Hass und Egoismus wieder aufleben lassen."

Der Henker von Srebrenica, Ratko Mladic, ist noch immer nicht gefasst, viele vermuten, dass ihn serbische Nationalisten vor der Verhaftung schützen; der ehemalige Präsident Serbiens, Slobodan Milosevic starb, bevor das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag über ihn urteilen konnte, das Pulverfass Balkan ist noch immer nicht ganz abgekühlt: Viele offene Wunden. So kann Srebrenica nur der Anfang einer einfachen Hoffnung sein, wie sie P. Benedikta formuliert.

„Es hat uns gezeigt, dass man die Würde des Menschen respektieren muss, ohne einen Unterschied zu machen zwischen Religion und Nationalität, Kultur und Hautfarbe. Für immer muss auf Gewalt, politische, kulturelle oder wirtschaftliche Überheblichkeit verzichtet werden, auf Tyrannei und Unterdrückung. Der Mensch muss als Schöpfung Gottes geachtet werden: Das ist es, was wir alle lernen müssen."

(rv/faz/div 15.07.2010 tb)







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