Die Gewaltwelle in
Kirgistan ist etwas abgeklungen, das stellt die Region aber vor neue Herausforderungen.
So schätzt die CARE-Mitarbeiterin Sandra Bulling die Lage vor Ort ein. Für ihr Hilfswerk
macht sie sich in der Krisenregion ein Bild, um die richtigen Hilfsmaßnahmen zu Wege
zu bringen. Und das tut Not: Denn viele der Zehntausenden Flüchtlinge sind inzwischen
in ihre Heimatorte zurückgekehrt – und stehen vor ihren abgebrannten Häusern und damit
vor dem Nichts. Bulling betont, dass die Heimkehrer neben dem Allernötigsten, wie
frischem Trinkwasser, Grundnahrungsmitteln und einer Unterkunft, dringend auch seelische
Zuwendung brauchen:
„Wichtig ist jetzt vor allem auch die Traumaverarbeitung.
Gerade auch für Kinder und Familien, die ja dramatische Tage erlebt haben. Viele haben
Angehörige verloren, viele haben auch die Gewalt mit eigenen Augen gesehen. Und jetzt
ist es natürlich nicht einfach für diese Menschen, zurückzukehren und diejenigen Menschen
als Nachbarn zu haben, die die Gewalt ausgeübt haben.“ Viele der
usbekischen Flüchtlinge werfen den kirgisischen Sicherheitskräften vor, sich auf die
Seite der Kirgisen gestellt und damit den ethnischen Konflikt zusätzlich angeheizt
zu haben. Darin liegt nach wie vor Zündstoff, bestätigt die Helferin:
„Das
Problem ist, dass man hier in Kirgisien keine wirklich verlässlichen Informationen
darüber erhält, was der Hindergrund dieser Gewalt ist. Ob die Gewalt instrumentalisiert
wurde von politischen Gruppen, ob irgendwelche Drogenclans oder mafiösen Strukturen
dahinterstecken – das sind sehr viele Gerüchte, die hier momentan durch die Hauptstadt
gehen. Und jeder spekuliert natürlich anders. Solang es also keine unabhängige Untersuchungskommission
gibt, ist es sehr schwer, etwas Genaues darüber zu sagen, was dahinter steckt.“ Beide
Bevölkerungsgruppen, Usbeken und Kirgisen, müssten jetzt aber jenseits der Frage um
die Verantwortung für die Eskalation nach vorne schauen:
„Was aber offensichtlich
ist, sind die Wunden, die diese Gewalt in die Seele der Menschen gerissen hat. Ganz
wichtig ist auch, dass die Hilfe, die geleistet wird, an beide Teile geht – also nicht
nur an die Vertriebenen Usbeken, sondern auch an die Kirgisen, die eben auch unter
der Gewalt gelitten haben, beispielsweise durch Racheakte der Usbeken. In so einer
Situation hilft es auch, die lokalen Führer mit einzubeziehen, die Regierungen also,
aber auch die traditionellen religiösen Führer an einen Tisch zu bringen. Dass es
vielleicht auch Diskussionsgruppen in der Bevölkerung geben kann.“ Entscheidend
für den weiteren Verlauf im Krisengebiet sei die Abstimmung über eine neue Verfassung,
die am Donnerstag begonnen hat, erklärt Bulling. Bereits drei Tage vor dem Haupttag
am Sonntag hätten mehrere Tausend Bürger ihre Stimme abgegeben, meldeten örtlichen
Medien. Auch Kirgisen im benachbarten Kasachstan und in Russland hätten schon abgestimmt.
„Es
ist sehr schwer vorhersagbar, was noch passieren kann. Es kann sein, dass die Gewalt
jeden Augenblick wieder losgeht. Insofern sagen alle Organisationen hier vor Ort,
auch von den Vereinten Nationen: Wartet das Referendum ab! Das Leben in Osch und Jalalabad
normalisiert sich wieder ein wenig. Das heißt, die ersten Geschäfte und einzelne Banken
haben wieder geöffnet. Man sieht auch wieder Menschen auf den Straßen und hofft, dass
es ruhig bleibt.“ Vor den gewaltsamen Ausschreitungen in dem ethnischen
Konflikt waren nach Angaben Usbekistans über 80.000 Menschen in das Nachbarland und
an dessen Grenze geflohen. Die meisten Flüchtlinge sind nach Angaben der usbekischen
Behörden Frauen, Kinder und Angehörige der usbekischen Minderheit gewesen. Papst Benedikt
XVI. hatte beim Angelusgebet am vergangenen Sonntag zum Frieden in Kirgistan aufgerufen.
„Ich rufe alle ethnischen Gruppen des Landes auf, auf Provokationen und Gewalt zu
verzichten“, so der Papst wörtlich.