Kardinal Meisner: „Beim Beichten hebt uns Christus auf göttliches Niveau“
Wir dokumentieren hier den vollständigen Text des Vortrages von Kardinal Joachim Meisner
beim Internationalen Priestertreffen zum Abschluss des Priesterjahres in der Basilika
St. Paul vor den Mauern in Rom am 9. Juni 2010: „Conversione e missione“ – „Umkehr
und Mission“
Liebe Mitbrüder!
Ich werde mit Ihnen jetzt nicht eine
neue Buß- und Missionstheologie zu entfalten suchen. Aber ich möchte mich zusammen
mit Ihnen vom Evangelium selbst zur Umkehr führen lassen, um dann, vom Heiligen Geist
gesendet, den Menschen die Botschaft Christi zu überbringen. Auf diesem Weg möchte
ich jetzt zusammen mit Ihnen 15 gedankliche Schritte vorangehen.
1. Wir müssen
wieder – wie mein Vorgänger als Erzbischof von Köln, Joseph Kardinal Höffner, zu sagen
pflegte – eine „Geh-hin-Kirche“ werden. Das geht nicht auf Befehl. Dazu bewegt uns
der Heilige Geist. Einer der tragischsten Verluste, den unsere Kirche in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts erlitten hat, ist der Verlust des Heiligen Geistes im
Bußsakrament. Für uns Priester hatte das einen ungeheuren inneren Profilverlust zur
Folge. Wenn mich gläubige Christen fragen: „Wie können wir unseren Priestern helfen?“,
dann antworte ich ihnen immer: „Gehen Sie zu ihnen beichten!“. Dort, wo der Priester
nicht mehr Beichtvater ist, wird er zum religiösen Sozialarbeiter. Ihm fehlt dann
die Erfahrung großer pastoraler Erfolge, wo er mitwirken darf, dass ein Sünder auch
durch seine Hilfe den Beichtstuhl wieder als Geheiligter verlässt. Im Beichtstuhl
darf der Priester in die Herzen vieler Menschen schauen und bekommt von daher Impulse,
Ermutigungen und Anregungen für die eigene Christusnachfolge.
2. Vor den Toren
von Damaskus stürzt ein kleiner kranker Mann, der heilige Paulus, geblendet zu Boden.
Im 2. Korintherbrief zitiert er selbst den Eindruck seiner Gegner über seine Person,
er sei körperlich matt und rhetorisch schwach (vgl. 2 Kor 10,10). Den Städten Kleinasiens
und Europas aber wird in den nächsten Jahren durch diesen kleinen kranken Mann das
Evangelium verkündet werden. Die Wunder Gottes geschehen nie im Rampenlicht der Weltgeschichte.
Sie ereignen sich immer im Abseits, eben vor den Toren der Stadt, eben in der Verborgenheit
des Beichtstuhles. Das darf für uns alle ein großer Trost sein, die wir mit großen
Aufgaben betraut sind, aber gleichzeitig um unsere oftmals kleinen Möglichkeiten wissen.
Es gehört zur Strategie Gottes, mit kleinen Ursachen große Wirkungen hervorzurufen.
Paulus vor den Toren von Damaskus geschlagen, wird zum Eroberer der Städte Kleinasiens
und Europas. Seine Sendung ist die Sammlung der Berufenen in die Kirche, in die Ecclesia
Gottes, hinein. Obwohl sie – von außen gesehen – nur ein kleines bedrängtes Häufchen
ist, von innen angefochten, vergleicht Paulus sie mit dem Leib Christi, ja, er identifiziert
sie sogar mit dem Leib Christi, der eben die Kirche ist. Diese Möglichkeit aus den
Händen des Herrn zu empfangen, heißt in unserer menschlichen Erfahrung „Bekehrung“.
Die Kirche ist die „Ecclesia semper reformanda“, und darin sind der Priester und der
Bischof ein „semper reformandus“, der immer wieder – wie Paulus vor Damaskus – vom
hohen Ross gestoßen werden muss, um in die Arme des barmherzigen Gottes zu fallen,
der uns dann in die Welt hinein sendet.
3. Darum genügt es nicht, dass wir
in unserer pastoralen Arbeit nur Korrekturen an den Strukturen unserer Kirche vornehmen
wollen, um sie augenscheinlich attraktiver zu machen. Das reicht nicht! Was Not tut,
ist eine Bekehrung des Herzens, meines Herzens. Nur ein bekehrter Paulus konnte die
Welt verändern, nicht aber ein Ingenieur kirchlicher Strukturen. Der Priester ist
durch die Aufnahme in die Lebensweise Jesu so von ihm bewohnt, dass Jesus im Priester
für andere berührbar wird. Bei Johannes 14,23 lesen wir: „Wenn jemand mich liebt,
wird er an meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm
kommen und bei ihm wohnen“ (Joh 14,23). Das ist nicht nur ein schönes Bild! Wenn das
Herz des Priesters Gott liebt und die Gnade hat, so kommt der dreieinige Gott persönlich
und schlägt seine Wohnung im Herzen des Priesters auf. Gewiss, Gott ist allgegenwärtig.
Gott wohnt überall. Die ganze Welt ist wie eine große Kirche Gottes, aber das Herz
des Priesters ist wie ein Tabernakel in der Kirche. Dort wohnt Gott in geheimnisvoller
und besonderer Weise.
4. Das größte Hindernis, Christus durch uns berührbar
werden zu lassen, ist die Sünde. Sie verhindert die Gegenwart des Herrn in unserem
Dasein, und darum ist nichts notwendiger für uns als die Bekehrung, und zwar auch
um der Mission willen. Es geht dabei – bringen wir es auf einen Punkt – um das Bußsakrament.
Ein Priester, der nicht häufig auf beiden Seiten des Beichtgitters anzutreffen ist,
leidet auf Dauer Schaden an seiner Seele und an seiner Mission. Hier liegt sicher
eine wesentliche Ursache für die vielfältigen Krisen, in die das Priestertum in den
letzten 50 Jahren geraten ist. Das ist ja die besondere Gnade des Priestertums, dass
der Priester auf beiden Seiten des Beichtgitters zu Hause sein kann: als Bekennender
und als Vergebender. Wo sich der Priester vom Beichtstuhl entfernt, dort gerät er
in eine schwerwiegende Identitätskrise. Das Bußsakrament ist der bevorzugte Ort für
die Vertiefung der Identität des Priesters, der dazu berufen ist, sich selbst und
die Gläubigen zurück zu binden an die Fülle Christi.
Im hohepriesterlichen
Gebet spricht Jesus zu seinem und unserem Vater über diese Identität: „Ich bitte nicht,
dass du sie aus der Welt nimmst, sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst. Sie sind
nicht von der Welt, wie ich auch nicht von der Welt bin. Heilige sie in der Wahrheit;
dein Wort ist Wahrheit“ (Joh 17,15-17). Es geht im Bußsakrament um die Wahrheit in
uns. Wie kommt es, dass wir der Wahrheit nicht gern ins Gesicht schauen?
5. Wir
müssen uns daher fragen lassen: Haben wir denn noch nicht die Freude erfahren, einen
Fehler zu erkennen, ihn einzugestehen und den von uns Beleidigten aufzusuchen? – „Ich
will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe mich gegen
den Himmel und gegen dich versündigt“ (Lk 15,18). – Kennen wir nicht die Freude, dann
zu sehen, wie der Andere die Arme gleich dem Vater des verlorenen Sohnes ausbreitet:
„Der Vater sah ihn schon von weitem kommen, und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief
dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn“ (Lk 15,20). Können wir denn
nicht die Freude des Vaters darüber erahnen, dass er uns wieder gefunden hat: „Und
sie begannen, ein fröhliches Fest zu feiern“ (Lk 15,24)? Da dieses Fest jedes Mal,
wenn wir zurückkehren, im Himmel begangen wird, warum kehren wir dann nicht häufiger
zurück? Warum sind wir – ich spreche in Menschenweise – so geizig gegenüber Gott und
den Heiligen des Himmels und lassen ihnen so selten die Freude, ein Fest zu feiern,
weil wir uns vom Herrn, vom Vater, ans Herz drücken ließen?
6. Wir lieben
diese ausdrückliche Vergebung oft nicht. Und doch zeigt sich Gott niemals so sehr
als Gott, als wenn er vergibt. Gott ist die Liebe! Er ist Schenken in Person! Er verschenkt
die Gnade der Vergebung. Aber am stärksten ist jene Liebe, die das Haupthindernis
der Liebe überwindet: die Sünde. Die größte Gnade ist die Begnadigung, und die kostbarste
Gabe ist die Vergabung, die Vergebung. Gäbe es keine Sünder, die der Verzeihung mehr
bedürfen als des täglichen Brotes, wir würden die Tiefe des göttlichen Herzens gar
nicht kennen. Der Herr betont es ausdrücklich: „Ich sage euch: Ebenso wird auch im
Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig
Gerechte die es nicht nötig haben umzukehren“ (Lk 15,7). Wie kommt es – fragen wir
nochmals –, dass ein Sakrament, das so große Freude im Himmel hervorruft, so viel
Abneigung auf Erden weckt? Das liegt an unserem Stolz, der ständigen Neigung unseres
Herzens sich zu verschanzen, sich selbst zu genügen, sich zu isolieren, sich auf sich
selbst zurückzuziehen. Was ziehen wir eigentlich vor, Sünder zu sein, denen Gott verzeiht,
oder scheinbar ohne Sünde zu sein, d.h. in der Illusion der Selbstgerechtigkeit zu
leben – ohne die Offenbarung der Liebe Gottes? Reicht es wirklich, zufrieden zu sein
mit sich selbst? Was sind wir denn ohne Gott? Nur eine kindliche Demut, wie sie die
Heiligen haben, lässt uns fröhlich den Vergleich zwischen unserer Unwürdigkeit und
der Herrlichkeit Gottes ertragen.
7. Es ist nicht der Sinn der Beichte, dass
wir im Vergessen unserer Sünden nicht mehr an Gott denken. Die Beichte schenkt uns
vielmehr Zugang in ein Leben, wo man an nichts anderes mehr denken kann als an Gott.
Gott sagt in uns: „Du hast doch nur gesündigt, weil du nicht glauben kannst, dass
ich dich genug liebe, dass mir genug an dir liegt, dass in mir genug Zärtlichkeit
für dich ist, dass ich mich genug freue über die geringste Geste, die mir deine Zustimmung
bezeugt, um dir alles zu verzeihen, was du in die Beichte hineinbringst. Wissen wir
um eine solche Verzeihung, um eine solche Liebe, dann werden wir geradezu überflutet
sein von Freude und Dankbarkeit, sodass uns dann auch allmählich die Lust zum Sündigen
vergeht und die Beichte zu einem regelmäßigen Ereignis der Freude in unserem Leben
wird. Beichten gehen heißt, hingehen und die Liebe zu Gott ein wenig herzlicher zu
gestalten, sich erneut sagen zu lassen und wirksam zu erfahren – denn Beichte ist
ja nicht nur Zuspruch von außen –, dass Gott uns liebt; beichten heißt, wieder anfangen,
daran zu glauben und zugleich entdecken, dass wir bisher niemals tief genug daran
geglaubt haben, und dass man hierfür um Verzeihung bitten muss. Vor Jesus fühlt man
sich als Sünder, man entdeckt sich als Sünder, der nicht seinen Erwartungen entspricht.
Beichten heißt, sich vom Herrn auf sein göttliches Niveau heben zu lassen.
8. Der
verlorene Sohn verlässt das väterliche Haus, weil er ungläubig geworden ist. Er hat
keinen Glauben mehr an die Liebe des Vaters, die ihm genügen würde, und daher verlangt
er sein Erbteil, um seine Angelegenheit ganz allein zu ordnen. Als er sich entschließt,
zurückzukehren und um Verzeihung zu bitten, ist sein Herz noch tot. Er glaubt, er
werde nicht mehr geliebt, er sei nicht mehr Sohn. Nur, um nicht Hungers zu sterben,
kommt er zurück. Das nennen wir unvollkommene Reue! Aber der Vater erwartet ihn seit
langem. Seit langem erfreut ihn nichts mehr als der Gedanke, der Sohn könnte eines
Tages heimkommen. Sobald er ihn entdeckt, eilt er ihm entgegen, umarmt ihn, lässt
ihm nicht einmal die Zeit, sein Geständnis zu beenden und ruft die Diener herbei,
damit sie ihn kleiden, nähren und pflegen. Weil man ihm so große Liebe erzeigt, beginnt
der Sohn in diesem Augenblick, sie auch zu verspüren, von ihr erfüllt zu werden. Eine
ungeahnte Reue überkommt ihn. Das ist die vollkommene Reue. Erst als ihn der Vater
umarmt, ermisst er seine Undankbarkeit, seine Unverschämtheit und seine Ungerechtigkeit.
Dann erst kommt er wirklich zurück, wird er wieder Sohn, dem Vater gegenüber offen
und vertrauend, wird er wieder lebendig: „Dein Bruder war tot und lebt wieder“ (Lk
15,32), sagt der Vater daher dem zu Hause gebliebenen Sohn. 9. Der ältere Sohn,
der Gerechte, hat eine ähnliche Wandlung erfahren – so möchten wir das Gleichnis hoffnungsvoll
weiterdenken. Der Fall dieses Sohnes ist aber sehr viel schwieriger. Man darf nicht
sagen, dass Gott die Sünder mehr liebt als die Gerechten! Eine Mutter liebt das kranke
Kind, dem sie ihre besondere Sorge zuwendet, nicht mehr als die gesunden Kinder, die
sie allein spielen lässt, denen sie ihre – nicht weniger tiefe - Liebe aber auf andere
Weise bekundet. Soweit die Menschen sich weigern, ihre Sünden anzuerkennen und zu
bekennen, soweit sie stolze Sünder sind, zieht Gott ihnen die demütigen Sünder vor.
Mit allen hat er Geduld.
Auch mit dem daheim gebliebenen Sohn hat der Vater
Geduld. Er bittet ihn, und er redet ihm gut zu: „Mein Kind, du bist immer bei mir,
und alles, was mein ist, ist auch dein. Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und
ein Fest feiern“ (Lk 15,31). Die Verzeihung der Hartherzigkeit des Älteren wird dabei
noch nicht einmal ausgesprochen, sondern ist impliziert. Wie groß muss die Beschämung
des älteren Sohnes vor solcher Milde sein. Alles hatte er vorhergesehen, nur nicht
diese demütige Zärtlichkeit des Vaters. Plötzlich findet er sich entwaffnet, verwirrt,
teilnehmend an der allgemeinen Freude. Und er fragt sich, wie er nur daran denken
konnte, absichtlich fern zu bleiben, wie er es nur einen Augenblick lang habe vorziehen
können, ganz allein unglücklich zu sein, während alle einander liebten und einander
verziehen. Glücklicherweise ist der Vater da und erwischt ihn rechtzeitig. Zum Glück
ist der Vater nicht wie er! Zum Glück ist der Vater viel besser als sie alle zusammen!
Gott allein kann die Sünden vergeben. Er allein vermag diese Geste der Gnade, der
Freude und des Überflusses der Liebe zu vollziehen. Darum ist das Bußsakrament die
Quelle permanenter Erneuerung und Revitalisierung unseres priesterlichen Seins.
10. Für
mich wird darum die geistliche Reife für den Empfang des Weihesakramentes eines Priesteramtskandidaten
darin deutlich, dass er regelmäßig, und zwar mindestens im Rhythmus von einem Monat,
das Bußsakrament empfängt. Denn im Bußsakrament begegne ich dem barmherzigen Vater
mit den kostbarsten Gaben, die er zu vergeben hat, nämlich die Vergabung, die Vergebung
und die Begnadigung. Wenn aber einer durch seine mangelnde Beichtpraxis dem Vater
sagt: „Behalte deine kostbaren Gaben für dich! Ich brauche dich und deine Gaben nicht!“,
dann hört er auf, Sohn zu sein, indem er ihm sein Vatersein aufkündigt, weil er ihm
seine kostbarsten Gaben nicht mehr abnimmt. Und wenn man nicht mehr Sohn des himmlischen
Vaters ist, kann man nicht Priester werden, denn der Priester ist durch die Taufe
zunächst einmal Sohn des Vaters, und dann ist er durch die Priesterweihe mit Christus
Sohn mit dem Sohn. Dann erst kann er den Menschen wirklich Bruder sein.
11. Der
Umstieg von der Umkehr in die Mission kann sich zunächst darin zeigen, dass ich von
der einen Seite des Beichtgitters auf die andere wechsele, von der Seite des Pönitenten
auf die Seite des Beichtvaters. Der Verlust des Bußsakramentes ist die Wurzel vieler
Übel im Leben der Kirche und im Leben des Priesters. Und die so genannte Krise des
Bußsakramentes liegt nicht nur darin begründet, dass die Leute nicht mehr zum Beichten
kommen, sondern dass wir Priester nicht mehr im Beichtstuhl präsent sind. Ein besetzter
Beichtstuhl in einer leeren Kirche ist das ergreifendste Symbol für die wartende Geduld
Gottes. So ist Gott. Er wartet auf uns lebenslang. Ich kenne aus meiner 35-jährigen
bischöflichen Tätigkeit ergreifende Beispiele, wo Priester täglich im Beichtstuhl
präsent waren, ohne dass ein Pönitent gekommen ist, – bis dann aber der Erste oder
die Erste nach Monaten oder Jahren des Wartens kam. Damit war, wie man so sagt, der
Knoten geplatzt. Dann wurde der Beichtstuhl reichlich frequentiert. Hier wird der
Priester angefordert, aus aller äußeren Planungsarbeit der Seelsorge mit Gruppen umzusteigen
in die persönliche Not eines Menschen. Und hier hat er zunächst nicht zu reden, sondern
zu hören. Eine eiternde Wunde am Körper kann nur heilen, wenn sie sich ausbluten kann.
Ein verwundetes Herz des Menschen kann nur geheilt werden, wenn es sich ausbluten,
d.h. aussprechen kann. Und es kann sich nur aussprechen, wenn jemand zuhört, und zwar
in dieser absoluten Diskretion des Bußsakramentes. Für den Beichtvater gilt zunächst
einmal, nicht zu reden, sondern zu hören. Wie viel innere Anregung für seine eigene
Christusnachfolge erfährt und erhält der Beichtvater gerade in seiner Tätigkeit bei
der Spendung des Bußsakramentes, wenn er spürt und erfährt, wie weit ihm einfache
katholische Männer, Frauen und Kinder in der Christusnachfolge voraus sind.
12. Wenn
uns dieser wesentliche Bereich des priesterlichen Dienstes weitgehend verloren geht,
sinken wir Priester leicht auf eine Beamtenmentalität oder auf das Niveau einer reinen
Pastoraltechnik herab. Unsere Verortung diesseits und jenseits des Beichtgitters
bringt uns durch unser Zeugnis dazu, Christus für die Menschen berührbar werden zu
lassen. Um es zunächst an einem Negativbeispiel deutlich zu machen: Wer mit radioaktiver
Materie in Berührung kommt, wird selbst radioaktiv verseucht. Wenn ein solcher nun
einen anderen berührt, dann wird er ebenfalls von seiner Radioaktivität negativ angesteckt.
Nun aber das Beispiel positiv: Wer mit Christus in Berührung kommt, der wird christoaktiv.
Und wenn der Priester dann als ein solcher Christoaktiver mit anderen Menschen in
Berührung kommt, dann werden sie selbstverständlich von seiner Christoaktivität angesteckt.
Das ist Mission, wie sie von Anfang an im Christentum präsent war. Die Menschen drängten
sich um die Person Jesu herum, um ihn zu berühren, und wenn es nur der Saum seines
Gewandes war. Und selbst, wenn es dieser nur von hinten war, dann wurden sie gesund:
„Denn es ging eine Kraft von ihm aus, die alle heilte“ (Lk 6,19).
13. Uns laufen
die Menschen oft davon, sie drängen sich nicht mehr um uns, um mit uns in Berührung
zu kommen. Im Gegenteil, sie laufen uns davon. Damit das nicht geschieht, müssen wir
uns konkret fragen: Was berühren die Menschen denn, wenn sie mit mir in Berührung
kommen? – Jesus Christus in seiner unermesslichen Liebe zu den Menschen, oder irgendwelche
theologischen Privatmeinungen oder Gejammer über die Zustände in der Kirche und der
Welt? Berühren sie bei uns Jesus Christus? Wenn das der Fall ist, dann kommen die
Menschen. Sie sprechen untereinander von einem solchen Priester. Sie bringen es in
solche Ausdrücke wie „Mit dem kann man reden. Der versteht mich. Der kann einem wirklich
helfen“. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Menschen nach solchen Priestern
Sehnsucht haben, in denen sie authentisch Christus begegnen, der sie frei macht von
allen Verstrickungen und sie an seine Person bindet.
14. Damit wir recht verzeihen
können, brauchen wir viel Liebe. Die einzige Verzeihung, die wir recht gewähren könnten,
ist jene, die wir von Gott empfangen haben. Nur wenn man den barmherzigen Vater erfahren
hat, wird man barmherziger Bruder der Menschen. Wer nicht verzeiht, der liebt nicht.
Wer wenig verzeiht, der liebt auch wenig. Wer viel verzeiht, der liebt viel. Wenn
man den Beichtstuhl als Ausgangspunkt unserer Mission verlässt, von welcher Seite
des Beichtstuhls auch immer, aber besonders von der Seite des Pönitenten, dann möchte
man am liebsten alle umarmen, sie um Verzeihung bitten. Ich selbst habe so beglückend
Gottes verzeihende Liebe erfahren, dass ich nur dringend bitten kann: „Nimm auch du
seine Verzeihung an! Nimm einen Teil der Verzeihung, an der ich nun Überfluss habe.
Vergib mir, dass ich sie dir so schlecht anbiete!“. Man geht mit der gleichen Bewegung
wieder in die Liebe Gottes und in die Bruderliebe hinein, in die Vereinigung mit Gott
und mit der Kirche, von der man sich durch die Sünde ausgeschlossen hatte. Wir können
und müssen alle Menschen lieben, wenn Gott uns aufs Neue zu lieben gelehrt hat. Wäre
es nicht so, dann wäre es ein Zeichen dafür, dass wir falsch gebeichtet haben und
daher nochmals beichten müssten.
Der wohl größte Beichtvater unserer Kirche
ist der heilige Pfarrer von Ars. Ihm verdanken wir das Priesterjahr und damit unsere
jetzige Zusammenkunft als Priester und Bischöfe mit dem Heiligen Vater hier in Rom.
Mit diesem heiligen Pfarrer habe ich über das Geheimnis der heiligen Beichte nachgedacht.
Denn sein täglicher Dienst der Versöhnung im Beichtstuhl in Ars ließ ihn zum großen
Weltmissionar werden. Man sagt, er habe als Beichtvater die Französische Revolution
geistlich überwunden. Was mir im geistlichen Dialog mit Jean-Marie Vianney aufgegangen
ist, das habe ich hier verkündet. Dabei hat er mich noch an etwas ganz Wichtiges erinnert:
15. Wir
lieben alle, wir verzeihen allen! Hüten wir uns indessen, einen zu vergessen! Ein
Wesen existiert nämlich, das uns enttäuscht und belastet, ein Wesen, mit dem wir ständig
unzufrieden sind. Und das sind wir selbst. Wir haben uns oft so satt. Wir sind unserer
Mittelmäßigkeit überdrüssig und müde unserer eigenen Monotonie. Wir leben in einem
Zustand der Kälte und sogar einer unglaublichen Gleichgültigkeit gegenüber diesem
nächsten Nächsten, den Gott uns anvertraut, damit wir ihn von seiner Vergebung berühren
lassen. Und das sind wir selbst. Es heißt doch, dass wir unseren Nächsten lieben sollen
wie uns selbst (vgl. Lev 19,18). Wir sollen also auch uns lieben, wie wir unseren
Nächsten zu lieben suchen. Dann müssen wir Gott bitten, uns zu lehren, dass wir uns
selber verzeihen: den Ärger unseres Stolzes, die Enttäuschungen unseres Ehrgeizes.
Bitten wir ihn, dass die Güte, die Zärtlichkeit, die Nachsicht und das unerhörte Vertrauen,
womit er uns verzeiht, uns so weit gewinnen, dass wir den Überdruss an uns selbst
los werden, der uns überall hin begleitet und uns oft nicht einmal beschämt. Wir können
die Liebe Gottes zu uns nicht erkennen, ohne die Meinung im Hinblick auch auf uns
selbst zu ändern, ohne Gott selbst zu uns Recht zu geben, wenn er uns liebt. Die Verzeihung
Gottes versöhnt uns mit ihm, mit uns, mit unseren Menschenbrüdern und -schwestern
und mit der ganzen Welt. Sie macht uns zu authentischen Missionaren. Glaubt ihr das,
liebe Brüder? -- Probiert es aus – heute noch!!