Papst an Kulturschaffende – die Ansprache im Wortlaut
Verehrte Mitbrüder im bischöflichen Dienst, sehr geehrte Damen und Herren aus der
Politik und Vertreter des Geisteslebens, der Wissenschaft und der Kunst, liebe Freunde!
Es
ist mir eine große Freude, hier das ganze Spektrum der portugiesischen Kultur vor
mir zu haben, das Sie als Frauen und Männer, die in Forschung und Entwicklung der
verschiedenen Wissenszweige tätig sind, so würdig vertreten. Ihnen allen möchte ich
meine besondere Wertschätzung und Freundschaft ausdrücken in Anerkennung dessen, was
Sie tun und was Sie sind. Die Regierung, die hier durch die Frau Kulturministerin
vertreten ist – einen ehrerbietigen und dankbaren Gruß richte ich sie – ist mit verdienstvollem
Einsatz um den nationalen Vorrang der Kultur bedacht. Ich danke allen, die diese unsere
Begegnung ermöglicht haben, besonders der Bischöflichen Kultur-Kommission mit ihrem
Präsidenten, Bischof Manuel Clemente; ihm danke ich für seine herzlichen Willkommensgrüße
und für die Darstellung der vielstimmigen Situation der portugiesischen Kultur, die
hier durch einige ihrer herausragenden Protagonisten vertreten ist. Der Filmregisseur
Manoel de Oliveira, eine Persönlichkeit ehrwürdigen Alters und eindrucksvoller Karriere,
hat als ihr Wortführer ihre Gefühle und Erwartungen zum Ausdruck gebracht. Ihm gilt
mein Gruß voller Bewunderung und Zuneigung sowie mein herzlicher Dank für die Worte,
die er an mich gerichtet hat und in denen er die Sorgen und Stimmungen der Portugiesen
inmitten der Turbulenzen der Gesellschaft von heute erahnen ließ. In der Tat spiegelt
die Kultur heute eine „Spannung“ wider, die bisweilen Formen eines „Konfliktes“ zwischen
der Gegenwart und der Tradition annimmt. Die Dynamik der Gesellschaft setzt die Gegenwart
absolut, indem sie sie vom kulturellen Erbe der Vergangenheit loslöst und nicht beabsichtigt,
Zukunftsperspektiven zu entwerfen. Eine solche Aufwertung der „Gegenwart“ als Inspirationsquelle
sowohl des individuellen als auch des gesellschaftlichen Lebensgefühls widerspricht
der starken, zutiefst vom tausendjährigen Einfluß des Christentums geprägten kulturellen
Tradition des portugiesischen Volkes und einem Bewußtsein globaler Verantwortung;
diese ist im Abenteuer der Entdeckungen und im missionarischen Eifer, das Geschenk
des Glaubens mit anderen Völkern zu teilen, zum Tragen gekommen. Das christliche Ideal
der Universalität und der Brüderlichkeit hatte dieses gemeinsame Abenteuer inspiriert,
auch wenn die Einflüsse der Aufklärung und des Laizismus spürbar geworden waren. Die
besagte Tradition hat das hervorgebracht, was wir „Weisheit“ nennen können, d. h.
ein Lebens- und Geschichtsempfinden, zu dem eine ethische Ordnung und ein „Ideal“
gehörte, das Portugal zu erfüllen hatte – dieses Land, das immer bemüht war, Beziehungen
mit dem Rest der Welt zu knüpfen.
Die Kirche erscheint als die große Hüterin
einer gesunden und edlen Tradition, deren reichen Beitrag sie der Gesellschaft zugute
kommen läßt; diese respektiert und schätzt weiterhin ihren Dienst für das Allgemeinwohl,
entfernt sich aber von der erwähnten „Weisheit“, die Teil ihres Erbes ist. Dieser
„Konflikt“ zwischen der Tradition und der Gegenwart drückt sich in der Krise der Wahrheit
aus, aber sie allein kann für eine gelungene Existenz des Einzelnen wie des Volkes
Orientierung bieten und den Weg vorzeichnen. Ein Volk, das seine eigene Wahrheit nicht
mehr kennt, verliert sich schließlich in den Labyrinthen der Zeit und der Geschichte,
ohne klar umrissene Werte und ohne deutlich ausgedrückte Ziele. Liebe Freunde, in
bezug auf die Position der Kirche in der Welt muß mit großem Einsatz ein Lernprozeß
eingeleitet werden, durch den man der Gesellschaft hilft zu verstehen, daß die Verkündigung
der Wahrheit ein Dienst ist, den die Kirche der Gesellschaft anbietet, indem sie neue
Horizonte der Zukunft, der Größe und der Würde erschließt. In der Tat hat die Kirche
„zu allen Zeiten und unter allen Gegebenheiten eine Sendung der Wahrheit zu erfüllen
für eine Gesellschaft, die dem Menschen und seiner Würde und Berufung gerecht wird.
[…] Die Treue zum Menschen erfordert die Treue zur Wahrheit, die allein Garant der
Freiheit (vgl. Joh 8, 32) und der Möglichkeit einer ganzheitlichen menschlichen
Entwicklung ist. Darum sucht die Kirche die Wahrheit, verkündet sie unermüdlich und
erkennt sie an, wo immer sie sich offenbart. Diese Sendung der Wahrheit ist für die
Kirche unverzichtbar“ (Enz. Caritas in veritate, 9). Für eine Gesellschaft,
die mehrheitlich aus Katholiken besteht und deren Kultur zutiefst vom Christentum
geprägt ist, erweist sich der Versuch, die Wahrheit außerhalb von Jesus Christus zu
finden, als dramatisch. Für uns Christen ist die Wahrheit göttlich; sie ist der ewige
»Logos«, der menschliche Gestalt angenommen hat in Jesus Christus, der objektiv
feststellen konnte: „Ich bin die Wahrheit“ (Joh 14, 6). Das Nebeneinander,
das die Kirche in ihrem unverrückbaren Festhalten am Ewigkeitscharakter der Wahrheit,
einerseits, und in der Achtung gegenüber anderen „Wahrheiten“ bzw. der Wahrheit der
anderen, andererseits, erlebt, ist für sie eine Lehrzeit. In dieser dialogisierenden
Achtung können sich der Vermittlung der Wahrheit neue Türen öffnen.
Papst Paul
VI. hat geschrieben: „Die Kirche muß zu einem Dialog mit der Welt kommen, in der sie
nun einmal lebt. Die Kirche macht sich selbst zum Wort, zur Botschaft, zum Dialog“
(Enz. Ecclesiam suam, 67). In der Tat stellt der Dialog, in dem die beteiligten
Parteien ohne Doppelzüngigkeit und respektvoll einander begegnen, heute eine Priorität
in der Welt dar, der sich die Kirche nicht entziehen möchte. Das bezeugt gerade auch
die Präsenz des Heiligen Stuhls in verschiedenen internationalen Organen wie zum Beispiel
dem Nord-Süd-Zentrum des Europarates, der vor 20 Jahren hier in Lissabon errichtet
wurde und dessen Angelpunkt der interkulturelle Dialog ist mit dem Ziel, die Zusammenarbeit
zwischen Europa, dem südlichen Mittelmeerraum und Afrika zu fördern und eine Weltbürgerschaft
zu bilden, die auf die Menschenrechte und die Verantwortung der Bürger gegründet ist,
unabhängig von ihrer ethnischen und politischen Zugehörigkeit und respektvoll gegenüber
ihrer religiösen Überzeugung. Angesichts der kulturellen Verschiedenheit muß dafür
gesorgt werden, daß die Menschen nicht nur die Existenz der Kultur der anderen akzeptieren,
sondern auch danach trachten, sich von ihr bereichern zu lassen sowie umgekehrt ihr
das anzubieten, was sie selbst an Gutem, Wahrem und Schönem besitzen.
Es ist
dies ein Augenblick, der unsere besten Kräfte, prophetischen Mut und die erneuerte
Fähigkeit erfordert, „der Welt neue Welten aufzuzeigen“, wie Euer Nationaldichter
sagen würde (Luigi di Camões, Os Lusíades, II, 45). Sie, die Sie Kultur in
all ihren Formen schaffen, Gedanken entwickeln und die Meinungen bilden – „dank Ihres
Talentes haben Sie die Möglichkeit, zu den Herzen der Menschen zu sprechen, einzelne
und gemeinsame Sensibilitäten zu berühren, Träume und Hoffnungen wachzurufen und Horizonte
von Wissen und menschlichem Engagement zu erweitern. […] Und fürchten Sie sich nicht,
sich der ersten und letzten Quelle der Schönheit zu nähern und in den Dialog mit den
Gläubigen zu treten, mit denen, die sich wie Sie als Pilger in dieser Welt und in
der Geschichte fühlen, unterwegs zur unendlichen Schönheit“ (Ansprache an die Künstler,
21.11.2009).
Gerade mit dem Ziel, „die moderne Welt in Kontakt mit den lebensspendenden
und ewigen Energien des Evangeliums zu bringen“ (Johannes XXIII, Apost. Konst. Humanae
salutis, 3), wurde das Zweite Vatikanische Konzil durchgeführt. In ihm hat die
Kirche, ausgehend von einem neuen Bewußtsein der katholischen Überlieferung, die Kritiken,
die jenen Kräften zugrundeliegen, welche die Moderne, d. h. die Reformation und die
Aufklärung, kennzeichnen, angenommen, analysiert, verwandelt und überwunden. So hat
die Kirche von sich aus das Beste der Forderungen der Moderne aufgenommen und umgebildet,
indem sie sie einerseits übertraf und andererseits ihre Fehler und Sackgassen vermied.
Das Konzilsgeschehen hat die Voraussetzungen für eine authentische katholische Erneuerung
und für eine neue Zivilisation – die „Zivilisation der Liebe“ – geschaffen, als evangeliumsgemäßen
Dienst am Menschen und an der Gesellschaft.
Liebe Freunde, die Kirche sieht
in der aktuellen Kultur ihren vorrangigen Auftrag darin, die Suche nach der Wahrheit
und folglich nach Gott wachzuhalten; die Menschen dahin zu bringen, über die vorletzten
Dinge hinauszublicken und nach den letzten zu suchen. Ich lade Sie ein, die Gotteserkenntnis
zu vertiefen, ihn so zu erkennen, wie er sich in Jesus Christus für unsere vollkommene
Selbstverwirklichung offenbart hat. Schaffen Sie Schönes, vor allem aber lassen Sie
Ihr Leben zum Ort des Schönen werden. Möge die seit Jahrhunderten von den Seefahrern
auf dem Ozean und heute von den Seefahrern auf der Suche nach dem Guten, nach der
Wahrheit und nach der Schönheit verehrte Muttergottes von Belém Ihre Fürsprecherin
sein.