2010-05-05 14:49:59

Caravaggio: „Kein gehetzter Krimineller, sondern ein phänomenaler Geist!“


RealAudioMP3 Michelangelo Merisi ist den meisten Rombesuchern vermeintlich gänzlich unbekannt – und doch hat wohl jeder von ihnen schon einmal vor einem Gemälde jenes Barockmalers gestanden, der nach dem Herkunftsort seiner Eltern schlicht Caravaggio genannt wird. Seine Bilder sind derzeit nicht nur in einzelnen römischen Kirchen und Museen zu sehen: Die Scuderie del Quirinale haben ihm zu seinem 400. Todestag im Juli dieses Jahres eine eigene Ausstellung gewidmet, die Besucherrekorde verzeichnet. Sicherlich, seine Bilder mit ihren ausdrucksstarken Figurenzeichnungen sprechen Bände. Doch wie lässt sich die immense Anziehungskraft, die der Maler heute noch besitzt, näher bestimmen? Wir haben mit der Direktorin der Bibliotheca Hertziana in Rom und Mitherausgeberin des Austellungskataloges, Sybille Ebert Schifferer, gesprochen. Sie sieht den „Mythos Caravaggio“ so:

„Das ist so gigantisch geworden, dass man es sich schon gar nicht mehr erklären kann. Die Attraktivität des Künstlers liegt sicherlich in der populär sehr weit verbreiteten Meinung über sein wildes Leben. Und da man in der Regel ja in weiten Kreisen kunstinteressierter Bevölkerung nicht so wahnsinnig viel Barockkunst aus dieser Zeit kennt, glaubt man, dass seine Bilder besonders grausam und heftig seien und verbindet das mit seiner Biographie. Und das hat natürlich etwas überaus Romantisches.“
 
Die Biographie Caravaggios liefert in der Tat eine entsprechende Vorlage. Während eines Festes zum Jahrestag der Papstwahl Pauls V. war er im Mai 1606 in einen Straßenkampf geraten. Der Sohn des Kommandanten der als Staatsgefängnis dienenden Egelsburg wurde dabei mit einem Schwerthieb so schwer verletzt, dass er kurz darauf starb. Die Kunsthistorikerin entmystifiziert die Legendenbildung um den Unfall allerdings:

„Wir wissen aus den Polizeiakten, dass er doch offenbar sehr reizbar war, was seine Ehre betraf. Wenn er einen Gesichtsverlust drohen sah, dann hat er sofort sehr aggressiv reagiert – mit kleineren Delikten, die damals zu den üblichen Ehrenhändeln zählten und in Rom täglich dutzendfach passierten. Das muss man also auch einordnen, dieses Auffahrende, dieses Erpichtsein auf die eigenen Ehre war jetzt keine Besonderheit von Caravaggio. Dann gibt es ein paar Quellen, zeitgenössische und spätere, die sagen: Er ist doch ein bisschen bizarr! Aber das darf man nicht überbewerten. Und wir wissen auch nicht, ob nicht damals bei dieser enormen Konkurrenzsituation auf dem Kunstmarkt, Künstler nicht ein bisschen versucht haben, sich selbst zu stilisieren. Aus späterer Zeit kennen wir das von Künstlern ja auch.“ 
Unter seinen Zeitgenossen sei beispielsweise auch Annibale Carracci von verwegenem Ruf gewesen. Der Künstler könne zudem gemeinsam mit Caravaggio, der ihn sehr schätzte, als Begründer der römischen Barockmalerei gelten. Zu Caravaggio selbst erläutert Prof. Ebert-Schifferer:

„Er hat, ganz anders als die Manieristen, sehr stark auf das Naturmodell gesehen. Was noch nicht unbedingt heißt, dass alle Modelle im Atelier zu gegen waren, wenn er malte. Das ist ja auch so eine langläufige Vorstellung, die ganz sicher nicht stimmt. Er hat sehr intensiv Modelle studiert und versucht, sowohl den Forderungen der Kunsttheorie der Zeit, als auch der gegenreformatorischen Bilderlehre entsprechend seine Figuren und sein Geschehen möglichst naturnah darzustellen, damit sie auch ein unbelesener, einfacher Mensch unmittelbar versteht. Das macht ja auch die Unmittelbarkeit seiner Bilder aus.“
 
Diese große Unmittelbarkeit sei manchen Kirchenvertretern zu unorthodox gewesen, hört und liest man zu Caravaggio immer wieder…

„Es heißt ja immer, dass der Klerus seine Altarbilder abgelehnt habe, doch das lässt sich nicht mehr nachweisen. Was nicht heißt, dass man nachweisen kann, dass sie nicht abgelehnt wurden. Aber es gibt, wenn man es genau betrachtet, keine Zurückweisung. Außer beim „Marientod“, der jetzt im Louvre hängt. Der wurde aber zunächst von den Auftraggebern abgenommen und für gut befunden, also auf den Altar gehängt. Dann ging Caravaggio aus der Stadt und das Gerücht wurde laut, hier sei eine Kurtisane ganz erkennbar portraitiert. Und das war absolut inakzeptabel für die betroffene kirchliche Institution. Ob das Gerücht nun stimmte, oder nicht, sie musste das Gemälde abnehmen.“ 
Dabei habe es sich allerdings um einen Einzelfall gehandelt, unterstreicht die Direktorin. Das große Stirnrunzeln, mit dem die Gemälde Caravaggios im Laufe der Zeit immer wieder einmal kritisch beäugt wurden, sei zu seinen Lebzeiten ausgeblieben:

„Es wird ihm ja aus späterer Sicht und aus einer anderen Art der Frömmigkeit heraus oft vorgeworfen, die Figuren auf seinen Altarbildern seien zu plebejisch, zu zerlumpt, so etwas zieme sich nicht. Das war in seiner Zeit ganz anders. Denn da zielte die vorherrschende Frömmigkeit darauf ab, das jeder Gläubige sich gewahr sein musste, dass das heilige Geschehen, das ja biblisch so weit entfernt ist, auch im Hier und Jetzt eigentlich jederzeit jedem geschehen könnte, ohne Ansehen der Person. Und darin liegt, glaube ich, begründet, dass Caravaggio oft einfache Leute als Motiv gewählt hat. Und das verbindet das heilige Geschehen mit dem Profanen. Das war aber theologisch erwünscht und wurde damals auch nicht als anstößig empfunden.“ 
Und so habe die Popularität Caravaggios schon zu dessen Lebzeiten einen wahren Siegeszug gehalten. Die Kirche habe dabei als Auftraggeber eine übergeordnete Rolle gespielt.

„Er hat es ja doch innerhalb von sechs, sieben Jahren geschafft, was sehr schnell ist, in Rom an die Spitze der drei Malerstars der Stadt zu kommen. Es gab viele Maler, die damals von auswärts nach Rom kamen, in der Hoffnung, dort Karriere zu machen, und es nie geschafft haben. Und er hat es ziemlich schnell geschafft und auch sehr schnell sehr gut daran verdient. Seine Auftraggeber waren, solange er in Rom war, nie der Papst selbst, auch wenn er das vielleicht gehofft hat. Aber zu den Auftraggebern zählten hohe Kleriker. Es waren sehr viele Kurienbeamte dabei, die bei ihm Bilder für ihre Privatkapellen bestellten. Er hatte die Protektion so mächtiger Kardinäle wie del Monte.“ 
Die Gretchenfrage beantworte das allerdings hinsichtlich Caravaggio noch nicht, meint Prof. Ebert-Schifferer:

„Wie sein persönliches Verhältnis zur Kirche ist, das können wir nicht sagen. Denn man muss nicht selber fromm sein, um so fromme Bilder zu malen, wie er es getan hat. Aber es legt natürlich den Schluss nah, dass ihm die Frömmigkeit und die Theologie der Zeit nicht unbekannt waren. Er ist auch darin aufgewachsen. Ob er sich innerlich letztlich doch davon distanziert hat, oder nicht, das können wir nicht wissen.“ 
Sichergestellt sei hingegen der Vorbildcharakter, den das Werk Caravaggios ziemlich schnell besessen habe:
„Seine römische Zeit hat vor allem auf ausländische Künstler, die nach Rom kamen, ungeheuren Einfluss ausgeübt. Besonders auf Holländer und Franzosen. Das hat den sogenannten Utrechter Caravaggismus begründet. Die Leute sind dann nach Hause zurückgegangen, haben ihn aber oft nicht so richtig verstanden. Sie haben hauptsächlich Genrebilder gemalt – in Holland brauchte man schließlich nicht so viele Altarbilder – und eigentlich Sujets erfunden, die Caravaggio so gar nicht gemeint hat. Sie haben auch dieses scharfe Hell-Dunkel, diese Halbfiguren und dieses etwas Plebejische mitgenommen. Das hat in Holland groß Furore gemacht, ungefähr zwei Jahrzehnte lang, auch in Frankreich. Und er hat in Neapel, wo es eigentlich gar keine nennenswerte Kunstentwicklung gab, bis er kam, wirklich die neapolitanische Barockmalerei begründet. Das hat dort dreißig Jahre lang vorgehalten.“
 
Vor dem Hintergrund des Gesamtwerks, das Caravaggio hinterlassen hat, formuliert die Kunsthistorikerin folgendes Anliegen:

„Selbst für die wissenschaftliche Diskussion muss man sich wünschen, dass das Bild von dem gehetzten Kriminellen doch endlich mal zurückgedrängt wird. Weil die Tendenz besteht, das immer in den Werken zu lesen. Und dass man sich so auf die Werke konzentriert, dass mal heraus kommt, dass dieser Mann ein unglaublich intelligenter und visuell raffinierter Maler war. Ob er jetzt intellektuell schriftlich gebildet war, obwohl er da sicherlich nicht ungebildet war, das will ich damit gar nicht sagen. Aber ein Künstler arbeitet ja mit seinem Sehsinn und mit seinem Bildgedächtnis. Und das war phänomenal. Und es würde mich freuen, wenn die Intelligenz dieser Bilder etwas mehr in den Vordergrund träte.“
 
Und schließlich verrät Sibylle Ebert-Schifferer auch, welches Caravaggio-Gemälde sie ganz persönlich favorisiert:

„Das ist, wenn man sich so intensiv damit beschäftigt hat, natürlich schwer zu entscheiden. Aber ich würde doch für die Pilgermadonna, also die Loreto-Madonna, in S. Agostino plädieren. Dort gehe ich auch immer wieder vorbei. Die ungeheure Stille und Ruhe und Selbstverständlichkeit, die dieses Bild hat... Mit diesen beiden knienden Pilgern davor, die ja exakt die Haltung dessen einnehmen, der eigentlich vor dem Altar knien sollte, ist das Ganze so integriert in den Raum und den Alltag, einfach in die Alltagserfahrung, dass einem das Geschehen nahekommt und einen rührt. Auch, wenn man gar nicht katholisch ist.“
 
Die Ausstellung am Quirinale ist noch bis zum 13. Juni zu sehen. Und auf diejenigen Caravaggio-Verehrer, die es nicht binnen dieser Frist nach Rom schaffen, wartet die Loreto-Madonna geduldig in S. Agostino, wo sie, verwoben mit dem ruhmvollen Aufstieg des Barockkünstlers, ihren angestammten Platz hat.

(rv 05.05.2010 vp)







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