Papst: Das Grabtuch zeigt den Beginn der Herrlichkeit im Leiden
Wir dokumentieren in einer Arbeitsübersetzung die Predigt des Papstes bei der Messe
auf der Piazza San Carlo in Turin. Liebe Schwestern und Brüder, ich freue mich,
an diesem Festtag bei euch zu sein, um die Eucharistie mit euch zu feiern. Ich grüße
alle, die hier versammelt sind, besonders den Hirten eurer Erzdiözese, Kardinal Severino
Poletto, dem ich für die herzlichen Worte danke, die er im Namen aller an mich gerichtet
hat. Danke! Ich grüße ebenfalls die anwesenden Erzbischöfe und Bischöfe, die Priester,
die Ordensleute und die Vertreter der geistlichen Bewegungen. Ich richte einen
respektvollen Gruß an den Bürgermeister, Dr. Sergio Chiamparino, dankbar für die freundliche
Begrüßung, und an die Vertreter der Regierung und der zivilen und militärischen Behörden,
mit besonderem Dank an alle, die großzügig ihre Zusammenarbeit für die Verwirklichung
meiner Pastoralreise angeboten haben. Ich denke ferner an die, die nicht anwesend
sein konnte, vor allem an die kranken und einsamen Menschen und die Menschen in Not.
Ich vertraue dem Herrn in dieser Eucharistiefeier die Stadt Turin und alle ihre Bewohner
an, in dieser Feier, die uns wie jeden Sonntag zur Teilnahme am Tisch der Wahrheit
des Wortes und des Brotes des ewigen Lebens einlädt. Wir befinden uns in der Osterzeit,
der Zeit der Verherrlichung Jesu. Das Evangelium, das wir soeben gehört haben, erinnert
uns daran, dass diese Verherrlichung durch das Leid gegangen ist. Im Ostergeheimnis
sind Leid und Verherrlichung vollständig verbunden, sie bilden eine untrennbare Einheit.
Jesus bestätigt: „Heute wird der Menschensohn verherrlicht, und Gott wird in ihm verherrlicht“
und er sagt es, als Judas den Abendmahlssaal verlässt, um seinen Plan des Verrates
umzusetzen, der zum Tod seines Meisters führen wird: Genau in diesem Moment beginnt
das Leiden Jesu. Der Evangelist Johannes lässt es uns klar verstehen: Er sagt nicht
etwa, dass Jesus erst nach seinem Leiden verherrlicht wurde, durch die Auferstehung,
sondern er zeigt uns, dass seine Verherrlichung mit dem Leiden selbst begann. In ihr
zeigt Jesus seine Herrlichkeit, welche die Herrlichkeit der Liebe ist, die sich selbst
ganz gibt. Er hat den Vater geliebt und seinen Willen erfüllt bis zum Ende, in einer
perfekten Gabe, und die Menschheit geliebt und für sie sein Leben gegeben. Wie er
so in seinem Leiden verherrlicht wird, ist Gott in ihm verherrlicht. Aber das Leiden
ist nur ein Beginn. Jesus sagt durch sie auch, dass seine Herrlichkeit auch in der
Zukunft liegt. So sagt der Herr in dem Moment, in dem er sein Verlassen dieser Welt
verkündigt, quasi wie ein Testament an seine Jünger, dass unter ihnen in einer neuen
Weise ein neues Gebot anwesend sei: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander!
Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“ Wenn wir einander lieben,
bleibt Jesus in unserer Mitte. Jesus spricht von einem neuen Gebot. Aber was ist
seine Neuheit? Schon im Alten Testament hat Gott sein Gebot der Liebe gegeben. Heute
aber wird dieses Gebot neu gegeben, und dabei macht Jesus eine sehr wichtige Hinzufügung:
„wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben“. Das Neue liegt genau
darin, im „lieben wie Jesus geliebt hat“. Das Alte Testament gibt uns kein Vorbild
der Liebe, sondern es gibt uns nur die Aufforderung, zu lieben. Jesus aber hat sich
selbst uns gegeben als Vorbild und Quelle der Liebe. Es ist eine Liebe ohne Grenzen,
universell, in der Lage, auch die negativen Umstände und alle Widerstände umzuformen,
um in der Liebe fortzuschreiten. In den vergangenen Jahrhunderten hat die Kirche
in Turin eine reiche Tradition von Heiligkeit und des großzügigen Dienstes am Nächsten
gesehen – wie sie der Kardinal-Erzbischof und der Bürgermeister uns ins Gedächtnis
gerufen haben – dank der Arbeit der eifrigen Priester und Ordensleute des kontemplativen
und aktiven Lebens und der Laien. Die Worte Jesu bekommen also eine besondere Resonanz
für diese Kirche, eine aktive und großzügige Kirche, beginnend mit ihren Priestern.
Uns das neue Gebot gebend fordert Jesus uns auf, seine Liebe zu leben, die ein glaubhaftes
Zeichen ist, wirkmächtig und eloquent, um der Welt das Kommen des Reiches Gottes zu
verkünden. Natürlich sind wir in unseren eigenen Kräften schwach und begrenzt.
In uns gibt es immer einen Widerstand gegen die Liebe und in unserer Existenz gibt
es viele Schwierigkeiten, die Trennung, Ablehnung und Streit zur Folge haben. Aber
der Herr hat uns versprochen, in unserem Leben anwesend zu sein und uns fähig zu machen
für diese großzügige und totale Liebe, die alle unsere Widerstände überwinden kann.
Wenn wir mit Christus eins sind, können wir auf diese Weise wirklich leben. Den Nächsten
lieben wie Jesus uns geliebt hat, ist nur mit der Kraft möglich, die uns die Nähe
zu ihm bringt, besonders in der Eucharistie, in der sich auf wirkliche Weise sein
Opfer der Liebe zeigt, das Liebe bringt. Ich möchte ein Wort der Ermutigung besonders
an die Priester und die Diakone in dieser Kirche richten, die sich mit Großzügigkeit
der seelsorgerischen Arbeit widmen, und auch an die Ordensleute. Manchmal kann das
Arbeiten im Weinberg des Herrn ermüdend sein; die Verpflichtungen vermehren sich,
der Bedürfnisse sind viele, und an Problemen fehlt es nicht: Wisst, dass man täglich
aus der Liebesbeziehung mit Gott im Gebet die Kraft zur prophetischen Weitergabe der
Erlösung zieht; zentriert eure Existenz neu auf das Wesentliche des Evangeliums, kultiviert
eine wirkliche Dimension der Gemeinschaft und der Brüderlichkeit unter euch, in euren
Gemeinschaften, in den Beziehungen mit dem Volk Gottes; bezeugt im Dienst die Kraft
der Liebe die vom Höchsten kommt. Die erste Lesung, die wir gehört haben, stellt
uns eine besondere Weise der Verherrlichung Jesu vor: Das Apostolat und seine Früchte.
Paulus und Barnabas, gegen Ende ihrer ersten Pastoralreise, kehren zurück in die Stadt,
die sie schon besucht haben und ermuntern erneut die Jünger und ermahnen sie, fest
im Glauben zu stehen, so dass sie, wie sie selbst sagen, durch viele Drangsale ins
Reich Gottes gelangen. Das christliche Leben, liebe Schwestern und Brüder, ist nicht
einfach; ich weiß, dass es auch in Turin genug Schwierigkeiten, Probleme und Sorgen
gibt: Ich denke im Besonderen an die, die ihr Leben unter Bedingungen der Instabilität
leben, auf Grund des Fehlens von Arbeit, der Unsicherheit der Zukunft, des physischen
oder moralischen Leidens. Ich denke an die Familien, an die Jugend, an die alten Menschen,
die in Einsamkeit leben, an diejenigen am Rande der Gesellschaft, an die Immigranten.
Ja, das Leben bringt es mit sich, dass wir vielen Schwierigkeiten und Problemen gegenüberstehen,
aber es ist genau die Sicherheit, die aus dem Glauben kommt, die Sicherheit, dass
wir nicht allein sind, dass Gott jeden Einzelnen von uns ohne Unterschied in seiner
Liebe liebt, die uns dieses Entgegentreten, das Leben und Überwinden der Mühe der
täglichen Probleme, möglich macht. Der Zustand der universellen Liebe des auferstandenen
Christus brachte die Apostel dazu, aus sich selbst herauszugehen, das Wort Gottes
zu verbreiten und sich ohne Zurückhaltung für den Nächsten einzusetzen, mit Mut, Freude
und Unbeschwertheit. Der Auferstandene besitzt eine Kraft der Liebe, die alle Begrenzung
überwindet, die nicht vor einem Hindernis stehen bleibt. Und die christliche Gemeinde,
besonders in der pastoral herausfordernden Realität, soll ein konkretes Instrument
dieser Liebe Gottes sein. Ich ermahne die Familien, die christliche Dimension der
Liebe in den einfachen Dingen des täglichen Lebens zu leben, in den Familienbeziehungen
die Trennungen und Missverständnisse zu überwinden, in der Pflege des Glaubens, der
neu die Gemeinschaft stark macht. Auch in der reichen und differenzierten Welt der
Universitäten und der Kultur fehlt es nicht am Zeugnis der Liebe, von der das heutige
Evangelium spricht: In der Fähigkeit, aufmerksam aufeinander zu hören, und im demütigen
Dialog in der Suche der Wahrheit. Sicher, es ist dieselbe Wahrheit, die zu uns kommt
und die uns erfasst. Ich möchte auch die Bemühungen derer ermutigen – auch, wenn es
schwer ist – die zur Leitung der öffentlichen Dinge berufen sind: Die Zusammenarbeit
zur Verfolgung des Gemeinwohls und des immer menschlicher und lebenswerter Werdens
der Stadt ist ein Zeichen, dass das christliche Menschenbild sich nie gegen die Freiheit
richtet, aber für eine größere Fülle steht, die nur in einer „Zivilisation der Liebe“
wirklich werden kann. Allen, besonders der Jugend, möchte ich sagen: Verliert nie
die Hoffnung, die vom auferstandenen Christus komme, vom Sieg Gottes über Sünde und
Tod. Die zweite Lesung zeigt uns heute das letztendliche Ergebnis der Auferstehung
Jesu: Es ist das neue Jerusalem, die heilige Stadt, die von Himmel herab kommt, von
Gott, geschmückt wie eine Braut für den Bräutigam. Er, der gekreuzigt wurde, der unser
Leiden geteilt hat, wie es uns in sprechender Weise auch das heilige Grabtuch ins
Gedächtnis bringt; er ist es, der auferstanden ist und alle in seiner Liebe vereinen
will. Es ist eine großartige Hoffnung, stark, fest – wie das Buch der Offenbahrung
sagt: „Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein,
keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.” Sagt
uns das heilige Grabtuch nicht genau diese Botschaft? In ihm sehen wir wie in Spiegeln
unseren Schmerz im Leiden Christi. „Passio Christi. Passio hominis.“ Genau deswegen
ist es ein Zeichen der Hoffnung: Christus hat das Kreuz auf sich genommen, um das
Böse zu verhindern, um uns ahnen zu lassen, dass Ostern ein Vorgriff ist auf jenen
Moment, in dem jede Träne getrocknet wird, in dem es keinen Tod und auch kein Leid
oder Schreien oder Schmerzen mehr geben wird. Der Text aus der Offenbarung endet
mit der Bestätigung: „Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu.“
Das erste wirklich Neue, was Gott gemacht hat, ist die Auferstehung Jesu, seine himmlische
Verherrlichung. Es ist der Beginn einer ganzen Serie von „neuen Dingen“, an denen
auch wir teilhaben. „Neue Dinge“, das ist eine Welt voller Freude, in der es kein
Leiden gibt, weder Streit noch Hass, und in der alles Leid überwunden ist. Wo es nur
die Liebe gibt, die von Gott kommt und alles verwandelt. Liebe Kirche von Turin,
ich bin zu euch gekommen um euch im Glauben zu stärken. Ich möchte euch ermahnen,
mit Kraft und mit Zuneigung fest in dem Glauben zu stehen, den ihr empfangen habt
und der dem Leben Sinn gibt, und nie das Licht der Hoffnung in den auferstandenen
Christus zu verlieren, der fähig ist, die Wirklichkeit zu verwandeln und alles neu
zu machen. Lebt in der Stadt, den Vierteln, den Gemeinschaften, den Familien einfach
und konkret die Liebe Gottes: „Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander
lieben.“ Amen