„Lieber Hans“ – so
beginnt ein ungewöhnlicher Brief, den die Vatikanzeitung „Osservatore Romano“ an diesem
Freitag auf der Titelseite abdruckt. Der Brief richtet sich an den kritischen Schweizer
Theologen Hans Küng – und stammt aus der Feder von dessen erstem Verleger in Italien,
Pier Giordano Cabra. Dieser kritisiert einen Aufsatz Küngs zum fünften Amtsjubiläum
von Papst Benedikt. Cabra findet, dass der in Tübingen lehrende Küng „zu sehr,
wenn nicht gar ausschließlich nach strukturellen Reformen ruft“. Er vermisse einen
„Hinweis auf den Skandal des Kreuzes, der bleibt, auch wenn alle anderen Skandale
wegfallen“; einen „Hinweis auf die Ernsthaftigkeit der Nachfolge Christi, die immer
skandalöse Züge hat“; auf „die Liebe Gottes, die man häufig gegen den Strom leben
und verbreiten muss“; und nicht zuletzt einen Hinweis „auf die Notwendigkeit von Buße
und Demut“. Denn „das Problem des christlichen Zeugnisses“ könne doch wohl nicht „durch
kirchliche Ingenieursarbeit gelöst“ werden, so der Verleger. Er vermisse bei Küng
auch eine faire Einschätzung des Papstes, „der die Erneuerung der Herzen im Geist
des Evangeliums will und danach erst die Erneuerung der Strukturen“. Hans Küng vernachlässige
den „Primat der Liebe“, wie er im ersten Korintherbrief besungen werde. Was fehle
in Küngs Text, das seien „Großherzigkeit und Wohlwollen“, „Anerkennung für die Leistung
anderer“. Cabra wörtlich: „Wenn dein Brief etwas mehr vom Lob auf die Liebe inspiriert
gewesen wäre, hätte dies vielleicht zu einem evangeliumsgemäßeren Glückwunsch an einen
früheren Kollegen geführt.“ Außerdem wäre Küngs Beitrag unter dieser Voraussetzung
auch für die Kirche fruchtbringender gewesen, die sich gegenwärtig in einer schwierigen
Situation befinde. Der italienische Verleger stimmt Küng jedoch zu, dass in der Kirche
gegenwärtig Reformbedarf bestehe. Auffallend an dem Schreiben ist der milde, ja
heitere Ton: „Ich schätze deine imponierende Arbeit weiterhin“, schreibt Cabra. Da
ist Küng, der ja selbst auch mit scharfen Worten und Forderungen nicht geizt, durchaus
auch andere Töne aus dem Vatikan gewöhnt.