Auf das vergangene
Wochenende haben nicht nur die Turiner schon lange gewartet: Nach ganzen zehn Jahren
ist das berühmte Grabtuch endlich wieder einmal zu sehen. Bis zum 23. Mai wird es
im Dom der oberitalienischen Industriestadt ausgestellt. Veronica Pohl hat die Eröffnungsmesse
für Radio Vatikan besucht:
Eine Schönheit ist der karge Domplatz von Turin
nicht. Seinen Schatz trägt die Kathedrale im Verborgenen – gewöhnlichen Falls wenigstens:
Hinter dem Presbyterium wird seit 1578 jenes Tuch aufbewahrt, das zahllose Gläubige
als das Grabtuch Jesu verehren. Einige Tausend Pilger sind an diesem Samstag nach
Turin gereist, um dabei zu sein, wenn die Santa Sindone nach zehn Jahren in Dunkelheit
erstmals wieder zur Verehrung bereitgestellt wird. Der Dom, bislang waren nur die
vierzehn barocken Seitenaltäre erleuchtet, erstrahlt plötzlich in hellem Licht –
und im Zentrum des Altarraums hängt längs das Grabtuch, lichtdurchflutet. „Das Grabtuch
ist kein Gottesbeweis, kein Beweis für die Auferstehung Jesu Christi, und hat uns
doch so viel zu sagen“, betont der Erzbischof von Turin, Kardinal Severino Poletto,
in seiner Predigt in dem überfüllten Gotteshaus:
„Dabei stellt das Grabtuch
keine Notwendigkeit für den Glauben an Christus dar. Von Christus zeugt schon das
Evangelium. Aber sein geheimnisvolles Antlitz kann dem Glauben und dem Gebet der
Gläubigen eine Hilfestellung geben. Denn es lädt uns ein, über die Passion Christi
nachzusinnen, die uns in den Wundmalen sichtbar vor Augen tritt. Daran ist seine Liebe
zu uns Menschen ablesbar – aus dieser Liebe heraus hat er für uns gelitten und einen
so hohen Preis gezahlt bis hin zu seinem Tod am Kreuz.“
Dabei fordere das
Grabtuch seinen Betrachter zu uneingeschränkter Humanität, zu Mitleid und Mitmenschlichkeit
heraus, unterstreicht Kardinal Poletto weiter. Immer wieder deutet der Turiner Erzbischof
während seiner Predigt auf das Grabtuch hinter ihm. Und so ist es ganz wörtlich zu
verstehen, wenn er erklärt:
„Wir können nicht vor dieser Reliquie stehen
und unberührt bleiben von den Millionen Menschen, die hungern, von den Kriegen dieser
Welt, die so viel Blut fordern, oder von den zahllosen Kindern und Frauen, die unter
Brutalität und Gewalt leiden. Genauso sind wir einfach gezwungen, vor diesem Abbild
der Hingabe Christi an uns an all jene Menschen denken, die vor allem in den Metropolen
der Entwicklungsländer unter unmenschlichen Bedingungen leben. Wir sind dazu aufgefordert,
im Angesicht von Krieg, Folter, Terrorismus und Kriminalität aus Nächstenliebe heraus
entschieden für die Menschenrechte einzutreten.“
Mit
bis zu 2 Millionen Besuchern rechnet Turin in den kommenden sechs Wochen. Über 90
Prozent der erwarteten Grabtuchpilger sind Italiener. Doch inzwischen sind auch Pilgergruppen
aus dem deutschsprachigen Raum eingetroffen. Am späten Sonntagabend hat Kardinal Christoph
Schönborn eine erste Messe vor dem Grabtuch gefeiert. Die Reliquie lade den Betrachter
ein, wie Thomas auf die Wundmale Jesu zu blicken, so der Wiener Erzbischof:
„Heute sind wir alle mit diesem Apostel Thomas vor der Sindone, vor dem Grabtuch.
Und auch, wenn wir es nicht mit den Händen berühren können, können wir es mit unseren
Blicken berühren.Ja, es stimmt schon: „Selig, die nicht sehen, und doch glauben!“
Aber was für ein wunderbares Geschenk hat uns der Herr gemacht, dass wir in unserem
Glauben unterstützt sind, durch das, was wir hier sehen können.“