2010-04-09 13:13:35

D: „Aghet“ – Ein Dokumentarfilm gegen das Vergessen


RealAudioMP3 „Das Letzte, was ich von den Kindern sah, war der Sonderzug, der sie entführt. Und damit fiel der Schleier der Dunkelheit über sie – und über mich.“ Die Schweizer Krankenschwester Beatrice Rohner sieht die Waisenkinder im Jahr 1917 zum letzten Mal. Die Eltern der Kleinen, armenische Christen im Osmanischen Reich, sind damals bereits tot. Und mit ihnen 1,5 Millionen Angehörige dieser christlichen Minderheit in Konstantinopel und den sechs ostanatolischen Provinzen auf dem Gebiet der heutigen Türkei, die innerhalb von zwei Jahren fast vollständig ausgerottet wird. Kriegsverbündeter Deutschland schaut zu und webt mit am Mantel des Schweigens. Bis heute leugnet die türkische Regierung den Genozid, bis heute hat kein Staat der Welt von dem „Fast-EU-Land“ klare Rechenschaft gefordert.



Beatrice Rohner und andere Zeitzeugen konnten nicht vergessen. Sie schrieben die Bilder, die sich ins Gedächtnis brannten, nieder: in Briefen, Berichten und Tagebüchern. Fünfundneunzig Jahre nach dem Morden hat der deutsche Regisseur Eric Friedler diese Originalstimmen wieder zum Leben erweckt. „Wir geben diese schriftlichen Aussagen wieder. Nicht mehr und nicht weniger haben wir getan. Und diese Aussagen sprechen ihre eigene Sprache.“ In seinem Dokumentarfilm „Aghet“ (gesprochen „Achret“, übersetzt „die Katastrophe“) geben Schauspielergrößen wie Martina Gedeck, Gottfried John und Joachim Król den Zeugen des ersten Völkermordes des 20. Jahrhunderts ein Gesicht. „Es war das Ziel, diese Menschen, die damals im Osmanisch-Türkischen Reich anwesend waren – Krankenschwestern, Missionsschwestern, Missionsärzte, Missionare, Diplomaten, Botschafter, Politiker, Journalisten – die das, was sie gesehen und erlebt haben, schriftlich protokolliert haben, wieder lebendig werden zu lassen, um ganz authentische Aussagen, wie in einer Interviewsituation, wiederzugeben.“



Die Quellen zum Genozid schlummern weltweit in Archiven, auch ganz in der Nähe, zum Beispiel im politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin. In verschiedenen Ländern hat Friedler recherchiert und Historiker und Wissenschaftler befragt, um den Verlauf des Völkermords zu rekonstruieren. Auch Vertreter der armenischen Diaspora wie der ehemalige armenische Außenminister Rafi Hovannisian kommen zu Wort. Für deutsche Ohren ist das freilich nicht immer angenehm. „Wir bringen das ganz konsequent zur Sprache, dass Deutschland genau über alle Geschehnisse informiert war und vieles oder das meiste ignoriert hat aufgrund von Staatraison, weil Deutschland und das Osmanisch-türkische Reich damals Bündnispartner waren und strategisch-wirtschaftliche Überlegungen dominiert haben statt in irgendeiner Form einzuschreiten.“ Schauspieler Gottfried John nennt als deutscher General Kreß von Kressenstein die deutsche Mitverantwortung am Völkermord deutlich beim Namen. Der minimalistisch gehaltene Film deckt Schicht um Schicht die strikte Systematik eines unfassbaren Verbrechens auf.



Beklemmend und authentisch klingt es, wenn dabei auch bis heute unbesungene Heldinnen und Helden entdeckt und ihre Schicksale offenbart werden. „Wir haben in dem Film auch ganz klar Positionen wie die des Botschafters Graf Metternich, die alles genau gesehen haben und versucht haben zu intervenieren, die ihre Regierung mehrfach aufgefordert haben, den Geschehnissen Einhalt zu gebieten, die aber verzweifelt sind. Botschafter Metternich wurde abgezogen nach nur zehn Monaten, weil der türkische Bündnispartner ihn als untragbar erachtete, weiter in der Türkei zu verbleiben. Er musste wieder nach Deutschland zurückkehren, weil er ganz klar sagte, er wolle nicht weiter mit ansehen, wie der Bündnispartner weiter mordet.“ Widerständige Täter und mutige Chronisten – der Film zeichnet ein differenziertes Bild, ohne pauschal Schuld zuzuweisen. So lässt Regisseur Friedler zum Beispiel den Schriftsteller Amin T. Wagner, damals deutscher Sanitätsoffizier im Osmanischen Heer, davon erzählen, wie viele türkische Beamte sich den Mordbefehlen verweigerten.



Am 24. April gedenken Armenier weltweit dem Mord an ihrem Volk. Dass die Türkei nicht bis zum hundertsten Jahrestag des Genozids wartet, um Verantwortung zu übernehmen, dazu kann der Film „Aghet“ vielleicht ein Stück weit beitragen. Zwischen den Opfern und Tätern liegt die Geschichte. „Aghet“ ruft sie ins Gedächtnis. An diesem Freitag um 23.30 Uhr im Ersten Deutschen Fernsehen.



(rv 09.04.2010 pr)








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