Wiederholt sich die
Geschichte einfach? Letztes Jahr stand der Papst wegen der Piusbrüder im Kreuzfeuer
der Kritik – dieses Jahr sind es die Missbrauchsfälle. Und wieder ist ein großes Fremdeln
zu spüren zwischen dem Vatikan und den westlichen Gesellschaften. Natürlich kann man
mit dem Bewusstsein von heute kritisch darauf blicken, wie die Kirche in der Vergangenheit
mit Missbrauchsfällen umgegangen ist. Aber eines muss man auch mal sehen: Benedikt
XVI. hat es bei diesem Thema nie an Klarheit und Strenge fehlen lassen. Ein Dossier
von Stefan Kempis.
„Tiefe Scham“, ein Gefühl des „Verrats“, Anerkennen der
Schuld der Kirche, Strenge im Umgang mit den Tätern, Hilfe für die Opfer, moralische
Erneuerung des Klerus und der Gesellschaft – das sind seit seinem Amtsantritt vor
fünf Jahren die Kernpunkte im Denken Benedikts zum Thema Missbrauch. Immer wieder
hat er Klartext gesprochen, wenn das Thema in einer Ortskirche aufkam: in Irland,
den USA, Australien, Kanada. Nur eine Woche, nachdem der Skandal in diesem Frühjahr
auch die deutsche Ortskirche erreicht hat, sagt der Papst am 8. Februar 2010 vor seinem
Familienrat:
„Die Kirche hat sich, dem Beispiel Christi folgend, über Jahrhunderte
hinweg dem Schutz der Würde und der Rechte Minderjähriger verpflichtet. Und auf vielfältige
Art und Weise hat die Kirche für sie Sorge getragen. Leider gibt es verschiedene Fälle,
wo einige Glieder der Kirche diese Rechte verletzt haben und damit entgegen dieser
Verpflichtung handelten. Diese Handlungsweise missbilligt und verurteilt die Kirche.
Und das wird sie zu jeder Zeit tun! Die Fürsorge und die Lehre Jesu, der die Kinder
zu Vorbildern dafür erklärt hat, in das Reich Gottes zu gelangen, stehen uns als eindringlicher
Appell vor Augen, Kindern mit größtem Respekt und aufmerksamer Zuvorkommenheit zu
begegnen. Die scharfen Worte Jesu gegen diejenigen, die „einen dieser Kleinen zum
Bösen verführen“ (Mk 9,42), lehren uns, von dem Weg der Liebe und des Respekts im
Umgang mit Kindern niemals abzuweichen!“
Zurück an den Beginn des Pontifikats.
Es ist der 28. Oktober 2006, als Benedikt den irischen Bischöfen ins Stammbuch schreibt:
„Es
ist wichtig, die Wahrheit über das, was in der Vergangenheit geschehen ist, herauszufinden.
Dann muss alles getan werden, damit sich so etwas in Zukunft keinesfalls wiederholt;
alle Prinzipien der Gerechtigkeit müssen voll respektiert werden – und vor allem muss
den Opfern und allen, die von diesen schrecklichen Verbrechen betroffen sind, Heilung
vermittelt werden!“ Am 15. April 2008 bricht Benedikt XVI. zu einer Reise
in die USA auf – zu einer Ortskirche, die von furchtbaren Missbrauchsskandalen erschüttert
worden ist. Noch im Flugzeug sagt er zu Journalisten:
„Wir werden Pädophile
rigoros aus dem Priesterstand ausschließen – das ist absolut miteianander unvereinbar.
Wer pädophil ist, kann kein Priester sein! Auf diesem ersten Niveau können wir Gerechtigkeit
herstellen und den Opfern helfen, die so schwer geprüft sind. Und dann ist da noch
eine seelsorgliche Ebene: Die Opfer brauchen Heilung und Hilfe, Betreuung und Versöhnung.“
Einen
Tag später trifft der Papst die Bischöfe der USA in Washington und spricht von „tiefer
Scham“ angesichts der Skandale. Das „zutiefst unmoralische Verhalten vieler Priester“
bereite ihm „enormen Schmerz“, das nicht einfache Thema sei von der Kirche – so Benedikt
wörtlich – „oft auf die schlechtestmögliche Weise gehandhabt worden“. Er drängt die
Oberhirten, „Maßnahmen und Strategien“ zum Schutz der „Verletzlichsten“, nämlich der
Kinder, zu ergreifen:
„Kinder verdienen es, mit einem gesunden Bild von
Sexualität und ihrer Rolle in den menschlichen Beziehungen aufzuwachsen. Man sollte
ihnen die degradierenden Bilder und die vulgäre Manipulation der Sexualität, die heute
vorherrscht, ersparen; sie haben ein Recht darauf, zu den authentischen moralischen
Werten erzogen zu werden, die in der Würde der menschlichen Person verwurzelt sind.“
Wieder
einen Tag später kommt Benedikt auf das Thema zurück – bei der großen Messe im „Nationals
Stadium“ der US-Hauptstadt:
„Mir fehlen die Worte, um den Schmerz und den
Schaden zu beschreiben, den solcher Missbrauch anrichtet! Es ist wichtig, dass allen
Betroffenen liebevolle pastorale Aufmerksamkeit geschenkt wird. Der Schaden, der im
Innern der Kirche angerichtet ist, läßt sich kaum in Worte fassen. Aber es sind auch
schon große Anstrengungen unternommen worden, um diese tragische Situation ehrlich
und gerecht anzugehen. Es muss sichergestellt werden, dass die Kinder, die unseren
größten Schatz ausmachen, in einem sicheren Umfeld aufwachsen!“ Noch am gleichen
Tag empfängt der Papst in der Nuntiatur in Washington einige Missbrauchsopfer, hört
ihnen zu, tröstet sie, spricht auch mit ihren Angehörigen. Es ist ein privater Moment,
bei dem keine Kameras zuschauen. Drei Monate später dann ein ähnliches Bild – diesmal
in Australien, wo Benedikt am Weltjugendtag teilnimmt. In Sydney trifft er sich am
21. Juli am Rand einer Messe mit einer Opfergruppe. Schon auf dem Hinflug hat er am
12. Juli erneut Pädophilie scharf verurteilt – und auch eine gewisse Denkrichtung,
die in den letzten Jahrzehnten versucht hat, Pädophilie hoffähig zu machen:
„Nun,
da muß ich ganz klar sein: das war niemals eine katholische Lehre. Es gibt Dinge,
die immer schlecht sind, und Pädophilie ist immer schlecht. In unserer Ausbildung,
in den Seminarien, in der ständigen Weiterbildung der Priester müssen wir den Priestern
helfen, ... Helfer und nicht Feinde unserer Mitmenschen ... zu sein. Daher werden
wir alles in unserer Macht Stehende tun, um zu erklären, was die Lehre der Kirche
ist, und in der Ausbildung und Vorbereitung von Priestern helfen, in der ständigen
Weiterbildung, und wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um die Opfer zu
heilen und zu versöhnen. Ich denke, dies ist der wesentliche Inhalt des Wortes »um
Entschuldigung bitten«. Ich denke, daß es besser und wichtiger ist, den Inhalt der
Formel zu geben, und ich bin der Ansicht, daß der Inhalt besagen muß, was in unserem
Verhalten unzureichend war, was wir in diesem Moment tun sollen, wie wir es verhindern
und wie wir alle heilen und versöhnen können.“
Das ist ein aufschlußreiches
Zitat des Papstes auch angesichts der jetzigen Skandale: Der Papst sucht nicht die
symbolträchtige, aber schnelle Geste der Entschuldigung – auch wenn das in diesem
Moment seiner Popularität sicher aufhelfen könnte. Er will stattdessen zeigen, dass
die Kirche wirklich aus den Skandalen lernt und das Problem an der Wurzel angeht.
Zu einem Treffen mit Missbrauchs-Opfern ist Benedikt auch künftig bereit – das schreibt
er in seinem Brief an die irischen Katholiken vom März. Unser Fazit: Nein, Benedikt
XVI. hat nicht geschwiegen zum Thema Missbrauch. Von Anfang an nicht.