Dass im Januar in
Haiti die Erde gebebt hat, daran ist Voodoo schuld. Sagen viele US-Protestanten, etwa
der Fernsehprediger Robertson. Wohl noch nicht einmal der Islam hat einen so üblen
Ruf im Westen wie Voodoo, die Religion Haitis. Was ist davon zu halten? Das erklärt
uns Dimitri Bechack, ein Anthropologe und Ethnologe aus Paris
„Voodoo ist
eine Religion, die ursprünglich aus dem afrikanischen Benin kommt und die mit dem
Sklavenhandel dann nach Haiti kam, also nach Santo Domingo. Die haitianische Geschichte
behauptet, dass es beim Sklavenaufstand von Haiti im August 1791 eine Voodoo-Zeremonie
gegeben hat. Voodoo gehört also zur Geschichte Haitis und zum Aufbau dieses Landes.
Heute heißt es, dass in Haiti die Hälfte der Bevölkerung katholisch ist; zwischen
zwanzig und dreißig Prozent sind Protestanten – und die Voodoo-Anhänger sind 100 Prozent!
Das bedeutet: Das ist eine Bewegung, die die Religionsgrenze sozusagen sprengt – manche
sagen: Es ist die Matrix der haitianischen Kultur. Heute findet sich diese Religion
überall, wo es Immigranten aus Haiti gibt, und seit 1986 hat sie sich strukturell
verändert.“
„Das war der Abgang von Duvalier; der Diktator Francois
Duvalier hatte eine ganze Reihe von Voodoo-Elementen mit seiner Herrschaft verknüpft.
Als er dann 1986 ins Exil musste, haben die Menschen gegen viele Symbole seiner Herrschaft
revoltiert, und vor allem gegen die Voodoo-Tempel. Es dauerte dann ein Jahr, bis die
Verfassung Voodoo-Praktiken nicht mehr unter Strafe stellte. Seit damals beobachten
wir die Gründung vieler Voodoo-Gruppen und –Zirkel. 2008 wurde dann ein Oberer Voodoo-Führer
gewählt.“
„Man muss erst katholisch getauft sein, um in Voodoo eingeführt
zu werden. Eine Voodoo-Zeremonie hat als erstes das Ziel, die Geister zu ernähren.
Die Geister sind die Mittler zwischen den Menschen und dem guten Gott; Voodoo-Anhänger
glauben an Gott, an einen Gott. Aber um in Verbindung mit ihm zu treten, braucht man
die Geister. Die Voodoo-Zeremonien stimmen also diese Geister gnädig, geben ihnen
zu essen, durch Opfer zum Beispiel oder durch Trance: Solche Trance zeigt an, dass
die Geister herabgestiegen sind zu den Menschen. Es ist eine ziemlich komplexe Religion
mit zahlreichen Riten, und je nach Region in Haiti sehr unterschiedlich. Übrigens
gibt es noch eine starke Übereinstimmung zwischen Voodoo und dem katholischen Glauben:
Die Voodoo-Geister werden nämlich durch Bildnisse der katholischen Heiligen verehrt.
Schon in der Sklavenzeit nutzten ja die Sklaven die Heiligenbildchen, um Gott zu verehren;
sobald sie in der Kolonie Santo Domingo ankamen, wurden sie getauft. Und alle Voodoo-Riten
beginnen mit katholischen Gebeten.“
„Heute hat Voodoo in Haiti Konkurrenz
– und zwar vor allem von protestantischer Seite. Am 23. Februar – nach dem verheerenden
Erdbeben – haben wir erlebt, dass eine evangelikale Gruppe in Cité-Soleil eine Voodoo-Zeremonie
überfallen und mit Steinen beworfen hat. Die katholische Kirche hat Voodoo immer rigoros
bekämpft, vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts und dann wieder 1941-42: Damals
führte sie eine Kampagne gegen Voodoo durch und zerstörte dabei zahlreiche Tempel.
Auch der Staat in Haiti hat Voodoo lange entschieden bekämpft – bis zu Duvalier. Dieser
hat Voodoo in seine Machtstruktur mit eingebaut. Was wir nach dem Erdbeben vom Januar
erleben, ist ein Kampf der Protestanten gegen Voodoo. Das hat mit der Rolle zu tun,
die Voodoo während und nach der Staatsgründung von Haiti gespielt hat: Weil Voodoo
von Anfang an bestimmend war für die Herausbildung Haitis nach dem Sklavenaufstand,
assoziieren viele Protestanten alle Übel Haitis mit Voodoo. In dieser Hinsicht hat
das Erdbeben Spannungen verstärkt, die es vorher schon gab. Voodoo versucht nicht,
andere zu seiner Religion zu bekehren. Die Protestanten hingegen versuchen, Voodoo
auszurotten und die Gläubigen für sich zu gewinnen.“
„Das gelingt ihnen
auch bis zu einem gewissen Punkt; es gibt viele Übertritte von Voodoo-Anhängern zum
Protestantismus – und zwar, weil viele Voodoo-Adepten sich der Verwünschungspraktiken
nicht mehr zu erwehren wissen. Ich habe eine ganze Reihe früherer Voodoo-Anhänger
getroffen, die wegen solcher Verwünschungspraktiken zum Protestantismus übergetreten
sind. Seit 2003 ist Voodoo per Dekret als Nationalreligion anerkannt – seitdem gibt
es eine noch stärkere Konkurrenz unter den Religionen in Haiti. Eigentlich würde man
sich vom Staat eine eher neutrale Haltung erwarten, etwa wie im laizistischen Frankreich;
aber in Haiti hängen einige staatliche Organismen eng mit Voodoo zusammen. Dafür sind
dann aber auch wieder wichtige Vertreter des Protestantismus in den politischen Instanzen
vertreten und die Voodoo-Leute nicht. Voodoo fordert im Moment zum Beispiel einen
Platz im nationalen Wahlrat. Sie versuchen, mehr Platz in der Politik zu bekommen.“
„Das
Erdbeben hat eigentlich nur die religiösen Überzeugungen verstärkt, die schon da waren.
Für die Protestanten ist Voodoo daran schuld, dass es das Erdbeben gegeben hat. Schon
vor dem Erdbeben wurde Voodoo für alle Übel in Haiti verantwortlich gemacht. Ich glaube
nicht, dass es zwischen den Protestanten und Voodoo zu einem – wie der oberste Voodoo-Führer
angekündigt hat – „offenen Krieg“ kommen wird; daran haben eigentlich beide Seiten
kein Interesse. Voodoo ist eher auf dem Rückzug im Moment. Allerdings muss man diese
Eskalation schon im Auge behalten: Der Angriff von Evangelikalen auf eine Voodoo-Zeremonie
am 23. Februar war das erste Mal, vorher war die Gewalt nur verbal gewesen, in der
Presse vor allem. Im Wesentlichen sind die Voodoo-Anhänger aber daran gewöhnt, immer
in der Defensive zu sein: Oft hat man, wenn es Probleme oder Katastrophen in Haiti
gegeben hat, die Voodoo-Anhänger und Voodoo-Tempel angegriffen.“