Auch aus dem Vatikan
kommt grünes Licht für einen Runden Tisch gegen Kindesmißbrauch in Deutschland, an
dem alle großen gesellschaftlichen Kräfte vertreten sind. Die Vatikanzeitung „Osservatore
Romano“ lobt die deutsche Bildungsministerin Annette Schavan dafür, dass sie „Null
Toleranz“ für Mißbrauch an Schulen und Internaten fordert. Es sei richtig, jetzt „soviel
Klarheit zu schaffen wie möglich“ – und zwar an allen Schulen und Bildungseinrichtungen,
denn – so das Vatikanblatt – „diese schmerzhafte Frage betrifft ja nicht nur die katholischen
Einrichtungen“. „Vielleicht“ – so sagt es an diesem Dienstag Vatikansprecher Federico
Lombardi – „kann die schmerzhafte Erfahrung der Kirche eine nützliche Lehre auch für
andere sein.“ In einer Erklärung stellt sich der Jesuit, der den Vatikanischen Pressesaal
leitet, hinter die Initiative zu einem umfassenden Runden Tisch in Deutschland und
lobt die Entschlossenheit der deutschen Bischöfe zur Aufklärung des Geschehenen. Bundeskanzlerin
Angela Merkel habe Recht, wenn sie die „Ernsthaftigkeit und den Einsatz der deutschen
Kirche“ für Aufklärung würdige.
Natürlich, so Lombardi weiter, seien „Fehler
von kirchlichen Einrichtungen und Verantwortlichzen besonders abscheulich, weil die
Kirche ja eine besondere erzieherische und moralische Verantwortung hat“. Doch müsse
man die Frage auch „viel weiter stellen“ und die Anklagen nicht nur „auf die Kirche
konzentrieren“. Lombardi verweist auf offizielle Zahlen aus Österreich: In einem bestimmten
Zeitraum habe es dort 17 Missbrauchsfälle an kirchlichen, aber 510 an nicht-kirchlichen
Einrichtungen gegeben. „Es ist durchaus angezeigt, sich auch um letztere Gedanken
zu machen“, so der Papst-Sprecher.
Deutschland: Debatte über Verjährungsfristen Die
deutsche Familienministerin Kristina Schröder hat am Montag einen umfassenden Runden
Tisch zum Thema Missbrauch angekündigt – für den 23. April. Die Kirchen werden da
mit am Tisch sitzen, zusammen mit anderen wichtigen Vertretern gesellschaftlicher
Gruppen: Familienverbänden, Schulträgern, der freien Wohlfahrtspflege, der Ärzteschaft
und der Politik. Das Gremium soll Selbstverpflichtungen und Verhaltensregeln erarbeiten.
Schröders Zielvorgabe heißt:
„Was ist zu tun, wenn Übergriffe geschehen
sind, welche Faktoren fördern Übergriff auf Kinder, und wie können diese vermindert
werden? Das sind die Fragen, die an diesem Runden Tisch erörtert werden sollen.“
Mit
ihrer Initiative stellt sich die CDU-Ministerin Schröder gegen ihre Kabinettskollegin
von der FDP, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Die Justizministerin fordert weiter
einen Runden Tisch speziell mit der Kirche – und zwar, damit diese Entschädigungen
an Opfer zahlt. In diesem Punkt springt ihr auch SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles
bei. Skeptisch ist Leutheuser-Schnarrenberger hingegen, was die derzeitige Debatte
in der Politik um Gesetzesänderungen betrifft.
„Verjährungsfristen zu verlängern,
bringt für die Opfer, an denen Mißbrauch begangen wurde und wo diese Taten längst
verjährt sind, nichts – weil es rückwirkend keine Verlängerung der Verjährungsfrist
mit der Möglichkeit der Strafverfolgung gibt.“
Ähnlich sieht das der Strafrechtler
Stefan König – er sagte dem ZDF:
„Verjährungsfristen haben ja viele gute
Gründe. Einer davon ist, dass natürlich die Aufklärung eines Vorwurfs umso schwieriger
wird – besonders dann, wenn man Zeugen dafür braucht –, je mehr Zeit seit der angeblichen
Tat verstrichen ist.“
Für Kriminologen wie Christian Pfeiffer hingegen
hätten längere Verjährungsfristen den Vorteil, dass Täter auch nach längerer Zeit
noch zu Schadenersatz verpflichtet werden könnten:
„Im Prinzip ist das
richtig, weil gerade die Opfer aus einer Zeit, die Jahrzehnte zurückliegt und die
jetzt fünfzig oder sechzig sind, endlich die Freiheit haben, darüber zu reden: Früher
konnten sie das beim besten Willen nicht. Denen sollten wir entgegenkommen und die
Möglichkeit verschaffen, dass sie zum Beispiel die Kosten für eine Therapie, die
sie jetzt machen, vom Täter ersetzt bekommen!“
Justizministerin kritisiert
Kirche und Vatikan Nachdem der Runde Tisch nun beschlossene Sache ist,
verlagert sich die Debatte in Deutschland immer mehr zum Thema Entschädigungen. Die
Justizministerin nennt solche Entschädigungen, die die Kirche an Opfer aus früheren
Jahrzehnten leisten solle, „ein Stück Gerechtigkeit gegenüber den Opfern, auch wenn
sich das erlittene Unrecht materiell nicht aufwiegen lässt“. Die Ministerin übte erneut
Kritik an der katholischen Kirche und insbesondere am Vatikan. Sie kritisierte, es
gebe, insbesondere bei katholischen Schulen, eine Schweigemauer, die Missbrauch und
Misshandlungen verdeckt habe. Verantwortlich dafür sei auch eine Direktive der vatikanischen
Glaubenskongregation von 2001, nach der auch schwere Missbrauchsfälle zuallererst
der päpstlichen Geheimhaltung unterlägen. Ein Ministeriumssprecher fügte hinzu, die
Justizministerin halte den Willen der Kirche zur Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden
für weiterhin nicht ausreichend.
Der Regensburger katholische Bischof Gerhard
Ludwig Müller hat Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger scharf kritisiert.
Die Behauptung der Ministerin, die katholische Kirche in Deutschland behindere in
Fällen sexuellen Missbrauchs die Aufklärung von Straftaten, sei „unwahr und ehrenrührig“,
erklärte Müller am Dienstag. Der Bischof forderte die Ministerin auf, Beweise für
ihre Anschuldigungen vorzulegen oder andernfalls „ihre Amtsautorität nicht für derartige
Übergriffe zu instrumentalisieren“. Müller wies insbesondere Leutheusser-Schnarrenbergers
Behauptung zurück, dass es an katholischen Schulen eine Schweigemauer gebe, die die
Aufklärung von Straftaten erschwere oder gar verhindere. In allen deutschen Diözesen
werde nach den Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz „jeder Hinweis auf eine
Missbrauchsstraftat umgehend und genauestens geprüft“, betonte der Bischof. Erhärte
sich der Verdacht, werde der mutmaßliche Täter zur Selbstanzeige aufgefordert, im
Falle einer Verweigerung die Staatsanwaltschaft informiert. Auch Bundeskanzlerin
Angela Merkel (CDU) befürwortet unterdessen eine „breite und intensive Diskussion“
in Sachen Kindesmissbrauch. Vor einer Gesetzesinitiative würden aber zunächst Experten
in den Ministerien über ein geeignetes Vorgehen beraten, sagte ihr Regierungssprecher
Ulrich Wilhelm.
Dt. Bischöfe: Wir arbeiten mit Justiz zusammen „Die
Kirche unterstützt die staatlichen Strafverfolgungsbehörden bei der Verfolgung sexuellen
Missbrauchs Minderjähriger durch Geistliche vorbehaltlos.“ Darauf weist die Deutsche
Bischofskonferenz an diesem Dienstag hin. Die Kirche „fordert Geistliche zu einer
Selbstanzeige auf, wenn Anhaltspunkte für eine Tat vorliegen, und informiert von sich
aus die Strafverfolgungsbehörden“, so der Sprecher der Bischofskonferenz, Matthias
Kopp. Auf die Anzeige und die Information der Justiz werde „nur unter außerordentlichen
Umständen verzichtet, etwa wenn es dem ausdrücklichen Wunsch des Opfers entspricht“.
Auch der staatliche Gesetzgeber respektiere den Wunsch des Opfers und habe unter anderem
deshalb „darauf verzichtet, bei den entsprechenden Straftaten eine Anzeigepflicht
einzuführen“. „Unabhängig von dem staatlichen Verfahren gibt es ein eigenes kirchliches
Strafverfahren, das vom Kirchenrecht geregelt wird“, erklärt Kopp weiter. „Der sexuelle
Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche ist nach kirchlichem Recht eine besonders
schwere Straftat.“ Die Einzelheiten des Verfahrens lege ein Rundschreiben der vatikanischen
Kongregation für die Glaubenslehre von 2001 fest. Die Akten der kirchlichen Verfahren
würden in Rom geführt und würden vertraulich behandelt – aber: „Die kirchliche Unterstützung
der staatlichen Strafverfolgungsbehörden bleibt davon unberührt.“
Der Bischofssprecher
bedauert, dass „die Zuordnung von staatlichem und kirchlichem Strafverfahren immer
wieder falsch dargestellt wird“. Er stellt darum noch einmal klar: „Im Fall des Verdachts
sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch einen Geistlichen gibt es ein staatliches
und ein kirchliches Strafverfahren. Sie betreffen verschiedene Rechtskreise und sind
voneinander völlig getrennt und unabhängig. Das kirchliche Verfahren ist selbstverständlich
dem staatlichen Verfahren nicht vorgeordnet. Der Ausgang des kirchlichen Verfahrens
hat weder Einfluss auf das staatliche Verfahren noch auf die kirchliche Unterstützung
der staatlichen Strafverfolgungsbehörden.“
Runder Tisch: Pro und Contra Die
FDP-Bundestagsfraktion hat die geplante personelle Besetzung des Runden Tisches gegen
Kindesmissbrauch durch Bundesfamilienministerin Kristina Schröder deutlich kritisiert.
Dass Schröder Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) nicht
eingeladen habe, „brüskiert nicht nur die Bundesjustizministerin, sondern auch die
Opfer sexuellen Missbrauchs“: Das erklärte der Parlamentarische Geschäftsführer der
FDP-Bundestagsfraktion, Christian Ahrendt, in Berlin. Den Opfern sei „mit der offensichtlich
mit heißer Nadel gestrickten Konzeption des Runden Tisches nicht geholfen“, so der
FDP-Politiker.
Der Münchner Erzbischof Reinhard Marx hingegen hat den Runden
Tisch begrüßt. Es sei gut, Vertreter aller relevanten Gruppen dazu einzuladen, sagte
Marx dem „Münchner Merkur“. Dem Skandal des Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen
müsse auf breiter Front entgegengetreten werden. Auf die Frage, warum die Bischöfe
so lange gebraucht hätten, um Stellung zu beziehen, verwies Marx auf eine Absprache
unter den Bischöfen. Auf der Bischofskonferenz hätten alle noch einmal ausgiebig mit
Fachleuten darüber reden wollen. Danach sollte eine gemeinsame Erklärung abgegeben
werden. „Im Nachhinein weiß ich nicht, ob das richtig war“, räumt der Erzbischof ein.
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken begrüßt die Initiative der Bundesregierung
zu einem Runden Tisch gegen Kindesmissbrauch. Der Vorstoß sei „absolut notwendig und
richtig“, erklärte Verbandspräsident Alois Glück am Dienstag in einem Radiointerview.
Neben der Aufklärung der Fälle und der Hilfe für die Opfer sei die zentrale Frage,
wie man die Vorbeugung verstärken könne. Das betreffe alle, die mit Jugendlichen arbeiten,
so der CSU-Politiker. Der ZdK-Präsident forderte die katholische Kirche zugleich zur
entschiedenen Aufarbeitung der jetzt bekanntgewordenen Missbrauchsfälle auf. Der erste
Ansatz dürfe nicht sein, die Kirche zu schonen.
Ratzinger: Wenn ich
gewusst hätte... Der Bamberger katholische Erzbischof Ludwig Schick hat
sich für eine Verschärfung des Strafrechts bei Fällen von sexuellem Missbrauch an
Kindern und Jugendlichen ausgesprochen. Die Verjährungsfristen sollten auf mindestens
30 Jahre verlängert werden, forderte Schick am Dienstag in Bamberg. Da Missbrauchsdelikte
erst später als andere offenbar würden, sei ein solcher Schritt nötig. Die Gerichte
würden somit wieder in die Lage versetzt, Straftaten wegen Missbrauchs aufzuklären.
Weiter plädierte der Erzbischof dafür, bei jedem begründeten Verdacht sofort die Staatsanwaltschaft
zu verständigen. Schick wörtlich: „Das Wichtigste sind die Opfer. Ihnen muss die Justiz
Gerechtigkeit zukommen lassen.“
Der frühere Regensburger Domkapellmeister Georg
Ratzinger hat eingeräumt, von den früheren Prügel-Praktiken in der Internatsvorschule
der „Regensburger Domspatzen“ gewusst zu haben. Der Bruder von Papst Benedikt XVI.
sagte der „Passauer Neuen Presse“ mit Blick auf den Internatsleiter: „Wenn ich gewusst
hätte, mit welch übertriebener Heftigkeit er vorging, dann hätte ich schon damals
etwas gesagt.“ Er verurteile das Geschehene und bitte die Opfer um Verzeihung.
Neue
und alte Fälle Das Bistum Limburg klärt die Missbrauchsvorwürfe in der
Diözese weiter auf. Benno Grimm, der Missbrauchsbeauftragte des Bistums, untersucht
derzeit Verdachtsfälle gegen fünf weitere Priester und kirchliche Mitarbeiter. Auch
bei den neuen Fällen hat die Diözese alle Informationen an die Staatsanwaltschaft
übermittelt. Die aktuell bekannt gewordenen Vorwürfe reichen weit zurück: Sie sollen
sich in den 50-er, 60-er und 70-er Jahren ereignet haben. Einige der Beschuldigten
sind mittlerweile verstorben. Strafrechtlich sind die Taten bereits verjährt. Die
Diözese setzt nach eigenen Angaben trotzdem alles daran, jeden Verdachtsfall rigoros
aufzuklären. Im Zuge der Untersuchungen ist zudem ein weiterer Fall in den Blick geraten:
In den 70-er Jahren gab es ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den damaligen
Leiter des Musischen Internates in Hadamar. Der frühere Leiter der Limburger Domsingknaben
ist im Jahr 2002 gestorben. Er wurde nicht strafrechtlich verurteilt.
Am Bonner
Jesuitengymnasium sollen zwischen 1946 und 2005 sechs Jesuitenpatres Schüler sexuell
missbraucht haben. Das teilte der kommissarische Rektor, Pater Ulrich Rabe, am Dienstag
in Bonn mit. Er bezieht sich auf einen Zwischenbericht, der am Montag dem Kollegium,
Elternvertretern und der Missbrauchs-Beauftragten der Jesuiten, Ursula Raue, vorgelegt
worden war. Den Zwischenbericht erstellt hatte nach den Angaben eine interne Arbeitsgruppe
mit Repräsentanten von Eltern, Lehrern, Schul- und Internatsleitung und Mitgliedern
der Jesuitenkommunität. Laut Rabe wurden bislang Aussagen von 30 verschiedene Personen
gesammelt, „die in der Schilderung der Erheblichkeit der Übergriffe sehr unterschiedlich
sind“. Die Spannweite der Beschuldigungen reiche von Aussagen über den allgemeinen
Erziehungsstil bis hin zu Berichten über heftigen und wiederholten sexuellen Missbrauch.
Die drastischsten Schilderungen bezögen sich auf die 50-er und 60-er Jahre. Die Autoren
des Berichts fordern laut Rabe den Provinzial der Deutschen Jesuiten auf, eine externe
Stelle zur Überprüfung früherer Entscheidungsträger einzurichten. Sie solle klären,
inwieweit Bereichsleiter, Rektoren oder Provinziale ihrer Leitungs- und Aufsichtsfunktion
im Umgang mit Vorwürfen oder eventuellen Kenntnissen sexueller Übergriffe gerecht
geworden seien. Der Anfang Februar zurückgetretene Rektor, Pater Theo Schneider, solle
sich sobald wie möglich zu seiner Verantwortung in seiner Leitungs- und Aufsichtsfunktion
öffentlich äußern. Weiter verlangt die Arbeitsgruppe die Benennung externer Fachleute
als Ombudsleute, an die sich künftige Opfer sexueller Gewalt wenden können.
Debatte
reißt nicht ab Angesichts immer neuer Fälle von Gewalt und sexuellem Missbrauch
an Schulen – und nicht mehr nur kirchlichen – drängen Politik und Verbände auf rückhaltlose
Aufklärung. Schon in den nächsten Tagen wollen die Länderminister mit Bundesbildungsministerin
Annette Schavan über die Frage des Kindesmissbrauchs sprechen. Der Deutsche Lehrerverband
fordert die Ernennung von Sonderbeauftragten durch alle Kultusminister, um Hinweisen
in Zusammenarbeit mit der örtlichen Schulaufsicht zügig nachzugehen.
Der Vorsitzende
des neu gegründeten katholischen Arbeitskreises in der CSU, Thomas Goppel, verlangt,
dass die Kirche bei der Aufklärung der Missbrauchsfälle jetzt nachlegt. Das sagte
er im Gespräch mit dem Münchener Kirchenradio. Andererseits dürfe das Fehlverhalten
einiger weniger in der Kirche nicht zur Verteufelung der ganzen Institution führen.
Das hätten vor allem die Schüler und Eltern in Kloster Ettal klar gemacht, wofür er
noch dankbarer sei als für den Aufklärungswillen von Erzbischof Marx. Der Gesprächskreis
„ChristSoziale Katholiken in der CSU“ ist am Montag offiziell gegründet worden. Er
will sich dafür einsetzen, dass katholische Positionen in der Gesellschaft nicht verloren
gehen. (rv/zdf/kna/kirchenradio muenchen)