2010-02-27 10:59:41

Horstmann: „Fastenzeit bietet eine Chance“


RealAudioMP3 Die Fastenzeit gibt den Menschen die Möglichkeit zur nüchternen Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Lage. Das sagt der deutsche Botschafter beim Heiligen Stuhl, Hans-Henning Horstmann in seiner Monatskolumne für Radio Vatikan. In Westeuropa und Nordamerika haben die Menschen seit bald 70 Jahren ein anhaltendes, beispielloses wirtschaftliches Wachstum und fortschreitenden materiellen Wohlstand erlebt, so Horstmann. Doch nach der globalen Finanzkrise 2009 manifestiere sich nun eine Vertrauenskrise. Davon betroffen seien Staat, Gesellschaft und Kirche. Die mageren Zeiten bieten aber eine neue Chance, so Horstmann:

„Als die größte aber auch schönste Herausforderung sehe ich: glaubwürdig zu werden. Glaubwürdigkeit schafft Vertrauen, Vertrauen bildet Zusammenhalt, Zusammenhalt gibt uns in den schlanken Jahren Kraft zu intellektueller, kultureller, technologischer Erneuerung und mehr als die Kraft zum Überleben: die Kraft zum gemeinsamen erfolgreichen Leben.“

(rv 27.02.2010 mg)

Hören und lesen Sie hier die Kolumne des Botschafters Hans-Henning Horstmann

 
Sehr verehrte Hörerinnen, sehr verehrte Hörer,

der mehrfach ausgezeichnete amerikanische Autor und Journalist Thomas Friedman qualifizierte das Dilemma von Präsident Obama mit den Worten: „Nach 70 reichen Jahren folgen nun 70 magere“. Ich persönlich stimme dieser Analyse zu: Wir haben in Westeuropa und Nordamerika seit bald 70 Jahren ein anhaltendes, beispielloses wirtschaftliches Wachstum und fortschreitenden materiellen Wohlstand erlebt. Staatliche, unternehmerische und persönliche Haushalte waren zwar Krisen und Rückschlägen ausgesetzt, aber: die wirtschaftliche und soziale Erneuerungskraft wurde ernsthaft nicht in Frage gestellt. 2009 platzte die Kreditblase und die westlichen und nördlichen Produktions- und Konsumgesellschaften waren und sind in ihrer tiefsten Finanz-, Wirtschafts- und Vertrauenskrise.

Bis heute haben wir den Weg aus diesen Krisen nicht gefunden. Im Gegenteil: die Vertrauenskrise manifestiert sich in Staat, Gesellschaft und Kirche. Im rastlosen Einsatz sind Maß und Mitte nicht immer erkennbar. Ein Blick auf den gegenwärtigen Zustand unserer Gesellschaften in Europa und Amerika zeigt: die Halligen des Zusammenhalts und Zusammenwirkens von Menschen guten Willens werden im Meer der Beliebigkeit nicht größer. Die Fastenzeit gibt uns in Erwartung auf Ostern die Möglichkeit zur nüchternen Bestandsaufnahme und Standortbestimmung: wie haben wir, jeder für sich oder in Familie, Gemeinschaften und der Gesellschaft, die 70 reichen Jahre gestaltet, wie wollen wir die 70 mageren Jahre gestalten.

Warum wird die Sozialenzyklika „Caritas in veritate“ von Benedikt XVI. weltweit, insbesondere aber in Deutschland von Unternehmerinnen und Unternehmern, in der Politik, in der Wissenschaft so oft zitiert und in Konferenzen thematisiert? Weil wir auf der Suche nach Wegweisungen für ein Leben in Würde sind. Wir suchen in der Zeit der sich beschleunigenden Globalisierung nach Gerechtigkeit und nach den Kräften, die das Gemeinwohl stärken.

Aus meiner Sicht gibt uns unser Grundgesetz, die Charta der Vereinten Nationen, aber eben auch „Caritas in veritate" für die begonnenen 70 mageren Jahre Weg- und auch konkrete Handlungsanweisungen, z.B.:

1. Die Würde des Menschen ist unantastbar - auch meine eigene und dazu bin ich persönlich zu verantwortungsvollem Tun und Unterlassen aufgefordert.

2. Wertbewusstes Leben schafft den Citoyen - ich sehe oft einen weitaus größeren Anteil von Bewohnern eines Staates als Bürger eines Staates.

3. Ich bin überzeugt, dass die vielfältigen nationalen und internationalen Organisationen und Initiativen zu solidarischem Tun und unsere soziale Marktwirtschaft auch in Zukunft belastbare Lebenswege ermöglichen.

4. Voraussetzung für das Wohl einer Gesellschaft ist Wahrhaftigkeit und Vertrauen - dies sind nicht gerade die Kennzeichen unserer Zeit. Doch ich kenne viele junge Menschen, die in religiöser Tradition und in der Tradition von Vernunft, Liebe und Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten.

5. Wir haben 1989 und 1990 die Teilung Europas überwunden und in 20 Jahren das große Friedensprojekt der europäischen Einigung gestärkt und gefestigt. Die Europäische Union ist gerade jetzt mehr denn je gefordert, nicht in nationale Reflexe zurückzufallen, sondern in Europa Solidarität zu zeigen und ihrer weltweiten Verantwortung für den Frieden gerecht zu werden. In 60 Jahren haben wir trotz Irritationen und Krisen an der europäischen Friedenspolitik festgehalten. Ich sehe zu diesem Weg keine Alternative.

6. Der 11. September 2001 war eine Katastrophe, die nicht monokausal zu erklären ist. Diese Katastrophe und ihre Folgen werden zurzeit leider prioritär mit Gewalt bekämpft. Notwendig ist eine umfassende Sicherheitsstrategie, wie sie Deutschland und seine Partner seit Jahrzehnten kennen. Die Elemente dieser Strategie sind u.a.: soziale Sicherheit, ökologisches Gleichgewicht, Freiheit, Gerechtigkeit und der prioritäre Einsatz friedlicher Mittel - z.B. Dialog und partnerschaftliche Zusammenarbeit auf allen Gebieten. Die Gemeinschaft Sant´Egidio ist uns hier Vorbild.

7. Wir verfügen über eine Vielfalt schöner und großartiger Sprachen - nur die Art, wie wir sie entweder als Waffen oder verschleiernd, beschönigend benutzen, wird ihrem Reichtum nicht gerecht. Wir brauchen unsere Sprachen zum gegenseitigen Verständnis.

8. Auch die kulturelle Vielfalt, in der Welt, in Europa und in Deutschland kann uns in der künftigen Zeit durch gegenseitige Anregung und Bereicherung nur helfen. Und: Investitionen in Kultur und kultureller Dialog sind notwendiger denn je. Die Kraft der Kultur für den einzelnen Menschen und für die menschliche Gemeinschaft kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

9. Eine noch bis heute gültige Meinungsumfrage des Allensbach-Institutes aus dem Jahr 2006 stellte die einfache Frage: „Wer sagt die Wahrheit?" Antworten: 78 Prozent: der Hausarzt / Medizinmann, 76 Prozent: der Priester, 2 Prozent: die Politik, 2 Prozent: die Unternehmer, etwas über 3 Prozent: Beamte und Journalisten.

Als die größte aber auch schönste Herausforderung sehe ich: glaubwürdig zu werden. Glaubwürdigkeit schafft Vertrauen, Vertrauen bildet Zusammenhalt, Zusammenhalt gibt uns in den schlanken Jahren Kraft zu intellektueller, kultureller, technologischer Erneuerung und mehr als die Kraft zum Überleben: die Kraft zum gemeinsamen erfolgreichen Leben.







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