Die Fastenzeit gibt
den Menschen die Möglichkeit zur nüchternen Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Lage.
Das sagt der deutsche Botschafter beim Heiligen Stuhl, Hans-Henning Horstmann in seiner
Monatskolumne für Radio Vatikan. In Westeuropa und Nordamerika haben die Menschen
seit bald 70 Jahren ein anhaltendes, beispielloses wirtschaftliches Wachstum und fortschreitenden
materiellen Wohlstand erlebt, so Horstmann. Doch nach der globalen Finanzkrise 2009
manifestiere sich nun eine Vertrauenskrise. Davon betroffen seien Staat, Gesellschaft
und Kirche. Die mageren Zeiten bieten aber eine neue Chance, so Horstmann:
„Als
die größte aber auch schönste Herausforderung sehe ich: glaubwürdig zu werden. Glaubwürdigkeit
schafft Vertrauen, Vertrauen bildet Zusammenhalt, Zusammenhalt gibt uns in den schlanken
Jahren Kraft zu intellektueller, kultureller, technologischer Erneuerung und mehr
als die Kraft zum Überleben: die Kraft zum gemeinsamen erfolgreichen Leben.“
(rv
27.02.2010 mg)
Hören und lesen Sie hier die Kolumne des Botschafters Hans-Henning
Horstmann
Sehr verehrte Hörerinnen, sehr verehrte Hörer,
der
mehrfach ausgezeichnete amerikanische Autor und Journalist Thomas Friedman qualifizierte
das Dilemma von Präsident Obama mit den Worten: „Nach 70 reichen Jahren folgen nun
70 magere“. Ich persönlich stimme dieser Analyse zu: Wir haben in Westeuropa und Nordamerika
seit bald 70 Jahren ein anhaltendes, beispielloses wirtschaftliches Wachstum und fortschreitenden
materiellen Wohlstand erlebt. Staatliche, unternehmerische und persönliche Haushalte
waren zwar Krisen und Rückschlägen ausgesetzt, aber: die wirtschaftliche und soziale
Erneuerungskraft wurde ernsthaft nicht in Frage gestellt. 2009 platzte die Kreditblase
und die westlichen und nördlichen Produktions- und Konsumgesellschaften waren und
sind in ihrer tiefsten Finanz-, Wirtschafts- und Vertrauenskrise.
Bis heute
haben wir den Weg aus diesen Krisen nicht gefunden. Im Gegenteil: die Vertrauenskrise
manifestiert sich in Staat, Gesellschaft und Kirche. Im rastlosen Einsatz sind Maß
und Mitte nicht immer erkennbar. Ein Blick auf den gegenwärtigen Zustand unserer Gesellschaften
in Europa und Amerika zeigt: die Halligen des Zusammenhalts und Zusammenwirkens von
Menschen guten Willens werden im Meer der Beliebigkeit nicht größer. Die Fastenzeit
gibt uns in Erwartung auf Ostern die Möglichkeit zur nüchternen Bestandsaufnahme und
Standortbestimmung: wie haben wir, jeder für sich oder in Familie, Gemeinschaften
und der Gesellschaft, die 70 reichen Jahre gestaltet, wie wollen wir die 70 mageren
Jahre gestalten.
Warum wird die Sozialenzyklika „Caritas in veritate“ von
Benedikt XVI. weltweit, insbesondere aber in Deutschland von Unternehmerinnen und
Unternehmern, in der Politik, in der Wissenschaft so oft zitiert und in Konferenzen
thematisiert? Weil wir auf der Suche nach Wegweisungen für ein Leben in Würde sind.
Wir suchen in der Zeit der sich beschleunigenden Globalisierung nach Gerechtigkeit
und nach den Kräften, die das Gemeinwohl stärken.
Aus meiner Sicht gibt uns
unser Grundgesetz, die Charta der Vereinten Nationen, aber eben auch „Caritas in veritate"
für die begonnenen 70 mageren Jahre Weg- und auch konkrete Handlungsanweisungen, z.B.:
1. Die Würde des Menschen ist unantastbar - auch meine eigene und dazu bin
ich persönlich zu verantwortungsvollem Tun und Unterlassen aufgefordert.
2. Wertbewusstes
Leben schafft den Citoyen - ich sehe oft einen weitaus größeren Anteil von Bewohnern
eines Staates als Bürger eines Staates.
3. Ich bin überzeugt, dass die vielfältigen
nationalen und internationalen Organisationen und Initiativen zu solidarischem Tun
und unsere soziale Marktwirtschaft auch in Zukunft belastbare Lebenswege ermöglichen.
4. Voraussetzung für das Wohl einer Gesellschaft ist Wahrhaftigkeit und Vertrauen
- dies sind nicht gerade die Kennzeichen unserer Zeit. Doch ich kenne viele junge
Menschen, die in religiöser Tradition und in der Tradition von Vernunft, Liebe und
Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten.
5. Wir haben 1989 und 1990 die Teilung
Europas überwunden und in 20 Jahren das große Friedensprojekt der europäischen Einigung
gestärkt und gefestigt. Die Europäische Union ist gerade jetzt mehr denn je gefordert,
nicht in nationale Reflexe zurückzufallen, sondern in Europa Solidarität zu zeigen
und ihrer weltweiten Verantwortung für den Frieden gerecht zu werden. In 60 Jahren
haben wir trotz Irritationen und Krisen an der europäischen Friedenspolitik festgehalten.
Ich sehe zu diesem Weg keine Alternative.
6. Der 11. September 2001 war eine
Katastrophe, die nicht monokausal zu erklären ist. Diese Katastrophe und ihre Folgen
werden zurzeit leider prioritär mit Gewalt bekämpft. Notwendig ist eine umfassende
Sicherheitsstrategie, wie sie Deutschland und seine Partner seit Jahrzehnten kennen.
Die Elemente dieser Strategie sind u.a.: soziale Sicherheit, ökologisches Gleichgewicht,
Freiheit, Gerechtigkeit und der prioritäre Einsatz friedlicher Mittel - z.B. Dialog
und partnerschaftliche Zusammenarbeit auf allen Gebieten. Die Gemeinschaft Sant´Egidio
ist uns hier Vorbild.
7. Wir verfügen über eine Vielfalt schöner und großartiger
Sprachen - nur die Art, wie wir sie entweder als Waffen oder verschleiernd, beschönigend
benutzen, wird ihrem Reichtum nicht gerecht. Wir brauchen unsere Sprachen zum gegenseitigen
Verständnis.
8. Auch die kulturelle Vielfalt, in der Welt, in Europa und in
Deutschland kann uns in der künftigen Zeit durch gegenseitige Anregung und Bereicherung
nur helfen. Und: Investitionen in Kultur und kultureller Dialog sind notwendiger denn
je. Die Kraft der Kultur für den einzelnen Menschen und für die menschliche Gemeinschaft
kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.
9. Eine noch bis heute gültige Meinungsumfrage
des Allensbach-Institutes aus dem Jahr 2006 stellte die einfache Frage: „Wer sagt
die Wahrheit?" Antworten: 78 Prozent: der Hausarzt / Medizinmann, 76 Prozent: der
Priester, 2 Prozent: die Politik, 2 Prozent: die Unternehmer, etwas über 3 Prozent:
Beamte und Journalisten.
Als die größte aber auch schönste Herausforderung
sehe ich: glaubwürdig zu werden. Glaubwürdigkeit schafft Vertrauen, Vertrauen bildet
Zusammenhalt, Zusammenhalt gibt uns in den schlanken Jahren Kraft zu intellektueller,
kultureller, technologischer Erneuerung und mehr als die Kraft zum Überleben: die
Kraft zum gemeinsamen erfolgreichen Leben.