Bei der Berliner Rechtsanwältin Ursula Raue und beim Canisius-Kolleg haben sich inzwischen
rund 100 Opfer von sexuellem Missbrauch gemeldet. Das erklärte Raue am Montag im RBB-Inforadio.
Sie präzisierte, dass es sich dabei auch um Schüler anderer Jesuiten-Schulen in Deutschland
handle. Auch aus dem Bistum Hildesheim wurden weitere verjährte Fälle gemeldet. Viele
hätten sich an die beiden Stellen in der Hauptstadt gemeldet, weil der Rektor des
Kollegs vor zwei Wochen Missbrauchsfälle öffentlich gemacht habe, so die Anwältin.
Raue kündigte an, genaue Zahlen im Laufe dieser Woche in einem Zwischenbericht zu
veröffentlichen. Sie arbeitet im Auftrag der Jesuiten, aber unabhängig von der Ordensleitung
an einer Aufklärung der Fälle. Derweil teilt das Bistum Hildesheim mit, neue Hinweise
auf sexuellen Missbrauch durch Geistliche erhalten zu haben. Dabei geht es überwiegend
um Beschuldigungen gegen die drei Jesuiten, die im Mittelpunkt des Skandals stehen.
Bis auf einen lägen alle neu gemeldeten Fälle 35 bis 50 Jahre zurück. Bischof Norbert
Trelle hatte in einem Brief mögliche Opfer aufgerufen, sich zu melden. Nach diesem
Aufruf seien die meisten Hinweise erfolgt. Der Augsburger Bischof Walter Mixa warnt
davor, Kindesmissbrauch zu einem vornehmlich kirchlichen Problem zu machen. In Deutschland
habe es seit 1995 insgesamt rund 210.000 polizeilich registrierte Fälle gegeben, sagte
der Bischof der „Augsburger Allgemeinen“ vom Dienstag. Der Anteil der Vorkommnisse
in kirchlichen Einrichtungen liege dabei in einem „verschwindend geringen“ Promille-Bereich.
Das solle aber keinen einzigen Fall verharmlosen, betonte der Bischof, rücke jedoch
die Verhältnisse ins rechte Licht. Die Kirche muss nach Ansicht Mixas klar sagen,
dass sexueller Missbrauch von Kindern ein „abscheuliches Verbrechen“ ist. Auch verstoße
ein Priester oder kirchlicher Mitarbeiter durch eine solche Tat gegen die Gebote Gottes
und seiner Kirche sowie gegen die Personenwürde des Menschen. Zugleich gelte es darauf
hinzuweisen, dass menschliche Sexualität entsprechend der kirchlichen Lehre eng verbunden
sein müsse mit Liebe, Vertrauen und gegenseitiger Achtung. Sie dürfe nicht zur einseitigen
Triebbefriedigung missbraucht werden. Die Kirche brauche eine offene Diskussion über
dieses Thema nicht zu scheuen. Die bayerische Justizministerin Beate Merk drängt
auf mehr Rechte für die Opfer von Missbrauch. Lange zurückliegende Taten sollten deutlich
später verjähren als bisher, sagte Merk der „Passauer Neuen Presse“ vom Montag. Bei
sexuellem Missbrauch von Kindern sei eine Verlängerung der strafrechtlichen Verjährungsfrist
auf 30 Jahre „unabdingbar“. Merk plädierte zudem dafür, die Frist wie im Zivilrecht
erst ab dem 21. Lebensjahr des Opfers beginnen zu lassen. Die Opfer sollten zivilrechtliche
Schadensersatzansprüche auch länger einklagen können. Die Bundesjustizministerin,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, widerspricht ihrer bayrischen Kollegin: Sie ist
gegen längere Verjährungsfristen bei Fällen von sexuellem Missbrauch. Dem „Kölner
Stadt-Anzeiger“ sagte die FDP-Politikerin, sie warne vor vorschnellen Schlüssen. Allerdings
sei sie über die Missbrauchsfälle an katholischen Schulen entsetzt. Leutheusser-Schnarrenberger
fordert eine umfassende Aufarbeitung, in welchem Ausmaß sexueller Missbrauch in Einrichtungen
der katholischen stattgefunden habe. Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth fordert
einen „grundlegend neuen und angemessenen Umgang mit Missbrauchsfällen in Institutionen
der katholischen Kirche. Dafür müssten der Papst und die Deutsche Bischofskonferenz
sorgen, erklärte Roth am Dienstag in Berlin. Sie warf der kirchlichen Seite vor, Missbrauchsfälle
langjährig vertuscht und verheimlicht zu haben. Zugleich stellte Roth die in den letzten
Wochen bekanntgewordenen Vorfälle in Bezug zur kirchlichen Morallehre. Man könne nicht
übersehen, „dass auch die antiquierte und restriktive Sexualmoral, wie die katholische
Kirche sie offiziell vertritt, zu einem solchen furchtbaren Komplex des Wegsehens
und der Verheimlichung führen kann“, meinte sie. Deshalb sei neben einer juristischen
Aufklärung und Wiedergutmachung auch moralische Selbstaufklärung notwendig. Roth nannte
das Ausmaß der Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg der Jesuiten in Berlin erschütternd.
Zu befürchten sei, dass dies erst die „Spitze eines Eisbergs“ in Deutschland und weltweit
sei. Es gehe um schwere Straftaten. Die Kirche müsse glaubhaft aufzeigen, wie sie
das schwere seelische Leid der Opfer wieder gut machen oder zumindest lindern und
wie sie eine Wiederholung solcher Fälle verhindern wolle. (kipa/rv/kna 16.02.2010
sk)