Der bekannte deutsche Europapolitiker Hans-Gerd Pöttering hat bei einem Besuch im
Vatikan zu mehr Entschlossenheit im Kampf gegen die Armut aufgerufen. Bei der Vorstellung
der Fastenbotschaft des Papstes im Vatikanischen Pressesaal meinte der frühere Präsident
des EU-Parlaments wörtlich: „In unserem Verhältnis zu den anderen Völkern der Erde,
vor allem zu den Ärmsten unter ihnen, steckt die Idee der Solidarität bestenfalls
in den Kinderschuhen.“ Während Europa und die Welt schon heute unvorstellbare Summen
für die Bekämpfung der Finanzkrise investiert hätten, lasse die Umsetzung der Nächstenliebe
in anderen Bereichen, etwa beim Kampf gegen den Hunger in der Welt, „noch zu wünschen
übrig“. Pöttering leitet seit Ende letzten Jahres die deutsche Konrad-Adenauer-Stiftung.
Wir
dokumentieren hier den deutschen Text der Stellungnahme Pötterings.
„Es
ist gut, dass uns die Kirche durch die Botschaft des Heiligen Vaters den geistlichen
Zusammenhang ausleuchtet, in dem die Fastenzeit steht. Für uns Christen finden sich
in dieser eindrucksvollen theologischen Auslegung Grund und Auftrag der Fastenzeit,
auf dass wir im Bund mit unserem Schöpfer an unserer Verantwortung in der Welt arbeiten.
So tiefgründig, wie der Heilige Vater in seiner Fastenbotschaft auf die religiöse
Sichtweise der Gerechtigkeit eingegangen ist, kann ich als Politiker keineswegs sein.
In aller Bescheidenheit möchte ich gleichwohl der an mich herangetragenen Bitte nachkommen,
um mit Ihnen über einige politische Folgerungen aus der christlichen Lehre von der
Gerechtigkeit nachzudenken.
Das Thema ist so alt wie das Philosophieren über
die Politik selbst. Und es ist so aktuell wie nie in unserer heutigen Welt der Globalisierung
und der Begegnung der Kulturen und Religionen. In der politischen Philosophie beginnt
man gerne mit dem Rückblick auf die beiden großen Gestalten der Antike, auf Platon
und Aristoteles. Schon in ihren Arbeiten finden wir bereits jene Aspekte des Gerechtigkeitsverständnisses,
das der Heilige Vater als das innere und als das äußere Verständnis der menschlichen
Gerechtigkeit bezeichnet hat. Platon sah Gerechtigkeit an als eine unveränderliche,
überweltliche Idee, an der die Seele des einzelnen Menschen Anteil hat. Aristoteles
betonte, dass Gerechtigkeit nicht nur eine innere Tugend sei, sondern immer auch in
Bezug auf Andere gesehen werden müsse. Diesem Gedanken der Intersubjektivität entsprechen
jene politischen Überlegungen, die wir heute mit Begriffen wie „ausgleichende Gerechtigkeit“
und „verteilende Gerechtigkeit“ bezeichnen. Auch unser großer Kirchenvater, Thomas
von Aquin, hat erheblichen Anteil an dieser Deutung der Gerechtigkeitsidee. Der Heilige
Vater hat darauf hingewiesen, dass eine vom Glauben an Gott entkoppelte und ins innerweltliche
radikalisierte Form des Gedankens der Verteilungsgerechtigkeit ideologisch wird. Als
Politiker möchte ich hinzufügen: Wir haben im gescheiterten Sozialismus erlebt, wohin
dieses Denken führen kann.
Es kommt also auch in der politischen Betrachtung
der Gerechtigkeit darauf an, die Balance zu wahren zwischen der Idee der Gerechtigkeit,
die in der Seele jedes Menschen schlummert und der materiellen Wirklichkeit, die immer
nur in Relation zum Anderen, zum Mitmenschen und zu der Ordnung, in der wir leben,
gedacht werden kann.
Wie sehr diese Balance auseinander geraten kann, haben
wir in den vergangenen zwei Jahrhunderten in Europa und in anderen Teilen der Welt
immer wieder erfahren. Freiheit und Gleichheit wurden immerfort in einen Gegensatz
zueinander gebracht, seitdem die Französische Revolution diese beiden Postulate auf
ihre Fahne geschrieben hatte. Vernachlässigt wurde bei allem Streit um Freiheit und
Gleichheit aber immer wieder die dritte Idee, die auf der Fahne der Französischen
Revolution stand: die Brüderlichkeit. Politisch sprechen wir heute von "Solidarität".
Theologisch sprachen wir schon immer von Nächstenliebe. In diesen Worten – Nächstenliebe,
Solidarität, Brüderlichkeit – liegt der Schlüssel zu einem wahrhaftigen und unserer
Zeit der Globalisierung angemessenen Verständnis für die Verantwortung der Christen
in der Welt. Solidarität oder Nächstenliebe beinhaltet die Verantwortung, die universelle
Würde jedes Menschen überall in der Welt und unter allen Umständen zu verteidigen
und zu schützen.
Wenn wir Freiheit bewahren wollen und wenn wir Gerechtigkeit
mehren wollen, so müssen wir den Wert der Brüderlichkeit, der Solidarität in die Mitte
unseres politischen Denkens führen. In der Europäischen Union haben wir im Geist der
Solidarität ein einzigartiges politisches Wunder vollbracht, das am Ende des Zweiten
Weltkrieges kaum jemand für möglich gehalten hätte. Mit der Wiedervereinigung Europas
nach dem Ende des Kalten Krieges haben wir uns in dem Prinzip der Solidarität zwischen
den Staaten und den Völkern der alten und der neuen Europäische Union bewährt. Zuletzt
haben die gemeinsamen Maßnahmen zur Bekämpfung der Finanzkrise gezeigt, dass Gemeinschaftsdenken
und gemeinsame Politik in der Europäischen Union möglich sind.
Dennoch hat
die Kraft der Solidarität im Innern Europas seit der Wiedervereinigung eher wieder
nachgelassen. In unserem Verhältnis zu den anderen Völkern der Erde, vor allem zu
den Ärmsten unter ihnen, steckt die Idee der Solidarität bestenfalls in den Kinderschuhen.
Während Europa und die Welt schon heute unvorstellbare Summen für die Bekämpfung der
Finanzkrise investiert haben, lässt die Umsetzung der Nächstenliebe in anderen Bereichen,
etwa beim Kampf gegen den Hunger in der Welt, noch zu wünschen übrig. Die Tatkraft,
mit der in Europa und in der Welt auf die Finanzkrise reagiert wurde, zeigt, dass
internationale Zusammenarbeit große Herausforderungen bewältigen kann. Eine ähnliche
Entschlossenheit wäre auch beim Kampf gegen die weltweite Armut notwendig. Europa
und die internationale Staatengemeinschaft sind moralisch verpflichtet, hierbei weitere
Verantwortung zu übernehmen. 2010 als "europäisches Jahr zur Bekämpfung von Armut
und sozialer Ausgrenzung" bietet einen idealen Rahmen für ein verstärktes und wirkungsvolles
Engagement der Europäischen Union für die Ärmsten dieser Erde.
Hier muss die
Politik ansetzen, um die Fastenbotschaft des Heiligen Vaters anzunehmen: Wir brauchen
wieder einen europäischen Geist der Solidarität. Und wir benötigen mehr denn je einen
europäischen Geist der Solidarität mit allen Völkern und Kulturen dieser einen Welt.
Dieses sind die beiden wichtigsten sozialethischen Aufgaben, vor denen die Europäische
Union steht. Dabei geht es nicht nur um die Zurverfügungstellung materieller Mittel,
obwohl diese so wichtig sind. An erster Stelle geht es um eine geistige Erneuerung,
die die europäische Politik leiten muss: Es geht darum, dass wir im Sinne des Solidaritätsgedankens
an die Aufgaben herangehen, die vor uns liegen. Und es geht darum, dass wir im Sinne
des Solidaritätsgedankens die Möglichkeiten nutzen, die wir im vergleichsweise wohlhabenden
und privilegierten Europa besitzen, damit Gerechtigkeit für möglichst viele Menschen
erfahrbar wird. Denn dort, wo Gerechtigkeit Wirklichkeit wird, wird auch der Wert
der Freiheit gestärkt.
„Entwicklung ist der neue Name für Friede“, so hat es
Papst Paul VI 1967 in seiner Enzyklika „Populorum progressio“ formuliert. Heute, so
meine ich, müssen wir einen Schritt weitergehen und sagen „Solidarität ist der neue
Name für Frieden“. Indem wir dies so formulieren, bringen wir Freiheit und Gleichheit
wieder in das ihnen angemessene Verhältnis zur Solidarität. Damit findet das Streben
nach Gerechtigkeit seine tiefste ethische Wurzel, die Wurzel der Brüderlichkeit und,
christlich gesprochen, der Nächstenliebe. In diesem Sinne verstehe ich den Auftrag
des Heiligen Vaters und seine Auslegung der Fastenbotschaft 2010 im Geiste der Gerechtigkeitsidee.
Solidarität
ist nicht abstrakt, sie muss konkret werden. Heute stellen wir fest, dass reiche Länder
immer reicher, arme Länder immer ärmer werden. Zwei Milliarden Menschen leben mit
weniger als 1,5 US-Dollar pro Tag. Es ist nicht zu erwarten, so sehr es wünschenswert
wäre, dass die reichen Länder ihre Entwicklungshilfe schnell drastisch aufstocken
werden. Um an die notwendigen finanziellen Mittel zu kommen müssen wir deshalb auch
neue Wege gehen. Ein vielversprechendes Beispiel dafür ist das Projekt „UNITAID“,
das eng an die Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen angegliedert ist
und dessen Ziel es ist, AIDS, Malaria, Tuberkulose und andere Krankheiten in 93 der
ärmsten Länder der Welt zu bekämpfen. Einen Großteil der Gelder erwirtschaftet "UNITAID"
durch eine geringe Sonderabgabe auf Flugtickets. Mit einem Aufschlag von ein oder
zwei US-Dollar pro Ticket konnte in den 15 teilnehmenden Staaten in den vergangenen
drei Jahren und drei Monaten ein Betrag von 1,5 Milliarden US-Dollar gesammelt werden.
Ich möchte vorschlagen, diese Initiative auf alle Länder und Fluggesellschaften auszuweiten.
Die Flugreisenden können sich diese geringfügige Erhöhung ihrer Tickets leisten. Mit
zusätzlichen Milliardenbeträgen könnten wir die Not in der Welt zu lindern helfen.
Andererseits bin ich zutiefst davon überzeugt, dass die Aufgabe der globalen
Solidarität nicht nur ein materielles Anliegen ist. Gerechtigkeit und Frieden, Ausgleich
und Anerkennung wird es zwischen den Völkern und Staaten dieser Welt nur geben, wenn
wir auch in unserem Dialog über den Glauben und die Grundlagen der Kultur solidarisch,
brüderlich verfahren. Dabei werden wir auch über das Gerechtigkeitsverständnis sprechen,
das den unterschiedlichen Kulturen und Religionen innewohnt. Der hebräische Begriff
des Sedaqah, von dem der Heilige Vater in seiner Fastenbotschaft gesprochen hat, schließt,
wenn ich es richtig verstehe, auch den Gedanken der Gemeinschaftstreue ein. Dieser
alte jüdische Gedanke kann uns helfen, neu über den Sinn wechselseitiger Verpflichtungen
nachzudenken, über das rechte Verhältnis von Rechten und Pflichten. Im Islam wird
der Gerechtigkeitsbegriff wie selbstverständlich aus dem Koran abgeleitet. Das säkularisierte
Europa wird im interkulturellen und interreligiösen Dialog also auch erfahren, dass
Gerechtigkeitsbegriffe in anderen Kulturen geradezu natürlich und selbstverständlich
religiös geprägt worden sind. So ist es ja auch gewissermaßen in der Tradition der
christlichen Prägung des Gerechtigkeitsbegriffs gewesen und übrigens auch in der christlichen
Prägung von Freiheit und von Solidarität. Vielfach haben wir den Zusammenhang von
religiösen Begründungen und politischen Begriffen vergessen. Es wird uns aber gut
tun, auch im interkulturellen und interreligiösen Dialog die Schätze dieser Tradition
neu zu entdecken. Das hat nichts mit Fundamentalismus zu tun, aber sehr viel mit der
Aktualitätskraft unserer eigenen Wurzeln. Wo uns diese Aktualisierung unserer eigenen
kulturellen und religiösen Wurzeln gelingt, werden wir auch in der heutigen weitgehend
säkularisierten Europäischen Union in christlicher Verantwortung gute Politik machen
können.
Wechselseitiger Respekt im interkulturellen Dialog bedeutet nicht,
die Augen vor unüberwindbaren Gegensätzen zu verschließen. Aber wir werden nur dann
in der Welt des 21. Jahrhunderts den Fanatismus derer stoppen, die mit Gewalt diese
Welt verändern wollen, wenn wir ihnen den geistigen Boden entziehen, auf dem sie viele
Menschen guten Willens manipulieren können. Wir benötigen deshalb einen aufrichtigen
Dialog der Solidarität von Christen und Muslimen, von Christen und Juden. Wir benötigen
ihn zwischen den Privilegierten, die in Wohlstand und materieller Freiheit leben und
jenen, die am Rande des sozialen und kulturellen Daseins stehen, die abseits bleiben
von Wirtschaftswachstum und technologischen Möglichkeiten. Wir müssen den Gedanken
der Solidarität zu einem politischen Projekt schmieden, das uns einlädt zum Dialog
über alle Mauern hinweg, die unsere Welt heute trennen. Nur Solidarität kann den Weg
weisen in ein Mehr an Freiheit und Gerechtigkeit für immer mehr Menschen auf dieser
Welt.
Politik, die aus christlichem Verständnis des Menschen handelt, sollte
in dieser Frage nie in ihrem Ehrgeiz nachlassen. Der Heilige Vater hat uns auf zwei
wesentliche Folgerungen aus dem christlichen Verständnis von Gerechtigkeit hingewiesen:
Die Selbstgenügsamkeit aufgeben und in Demut unsere Aufgabe annehmen. Dies ist der
Kompass für jede Politik, die sich in christlicher Verantwortung sieht – in dieser
Fastenzeit 2010 und weit darüber hinaus in diesem 21. Jahrhundert mit den vor uns
liegenden großen Aufgaben der Gestaltung der Globalisierung.“