2010-02-04 11:56:52

Pöttering: „Die Armut entschlossener bekämpfen!“


Der bekannte deutsche Europapolitiker Hans-Gerd Pöttering hat bei einem Besuch im Vatikan zu mehr Entschlossenheit im Kampf gegen die Armut aufgerufen. Bei der Vorstellung der Fastenbotschaft des Papstes im Vatikanischen Pressesaal meinte der frühere Präsident des EU-Parlaments wörtlich: „In unserem Verhältnis zu den anderen Völkern der Erde, vor allem zu den Ärmsten unter ihnen, steckt die Idee der Solidarität bestenfalls in den Kinderschuhen.“ Während Europa und die Welt schon heute unvorstellbare Summen für die Bekämpfung der Finanzkrise investiert hätten, lasse die Umsetzung der Nächstenliebe in anderen Bereichen, etwa beim Kampf gegen den Hunger in der Welt, „noch zu wünschen übrig“. Pöttering leitet seit Ende letzten Jahres die deutsche Konrad-Adenauer-Stiftung.

Wir dokumentieren hier den deutschen Text der Stellungnahme Pötterings.

„Es ist gut, dass uns die Kirche durch die Botschaft des Heiligen Vaters den geistlichen Zusammenhang ausleuchtet, in dem die Fastenzeit steht. Für uns Christen finden sich in dieser eindrucksvollen theologischen Auslegung Grund und Auftrag der Fastenzeit, auf dass wir im Bund mit unserem Schöpfer an unserer Verantwortung in der Welt arbeiten. So tiefgründig, wie der Heilige Vater in seiner Fastenbotschaft auf die religiöse Sichtweise der Gerechtigkeit eingegangen ist, kann ich als Politiker keineswegs sein. In aller Bescheidenheit möchte ich gleichwohl der an mich herangetragenen Bitte nachkommen, um mit Ihnen über einige politische Folgerungen aus der christlichen Lehre von der Gerechtigkeit nachzudenken.

Das Thema ist so alt wie das Philosophieren über die Politik selbst. Und es ist so aktuell wie nie in unserer heutigen Welt der Globalisierung und der Begegnung der Kulturen und Religionen. In der politischen Philosophie beginnt man gerne mit dem Rückblick auf die beiden großen Gestalten der Antike, auf Platon und Aristoteles. Schon in ihren Arbeiten finden wir bereits jene Aspekte des Gerechtigkeitsverständnisses, das der Heilige Vater als das innere und als das äußere Verständnis der menschlichen Gerechtigkeit bezeichnet hat. Platon sah Gerechtigkeit an als eine unveränderliche, überweltliche Idee, an der die Seele des einzelnen Menschen Anteil hat. Aristoteles betonte, dass Gerechtigkeit nicht nur eine innere Tugend sei, sondern immer auch in Bezug auf Andere gesehen werden müsse. Diesem Gedanken der Intersubjektivität entsprechen jene politischen Überlegungen, die wir heute mit Begriffen wie „ausgleichende Gerechtigkeit“ und „verteilende Gerechtigkeit“ bezeichnen. Auch unser großer Kirchenvater, Thomas von Aquin, hat erheblichen Anteil an dieser Deutung der Gerechtigkeitsidee. Der Heilige Vater hat darauf hingewiesen, dass eine vom Glauben an Gott entkoppelte und ins innerweltliche radikalisierte Form des Gedankens der Verteilungsgerechtigkeit ideologisch wird. Als Politiker möchte ich hinzufügen: Wir haben im gescheiterten Sozialismus erlebt, wohin dieses Denken führen kann.

Es kommt also auch in der politischen Betrachtung der Gerechtigkeit darauf an, die Balance zu wahren zwischen der Idee der Gerechtigkeit, die in der Seele jedes Menschen schlummert und der materiellen Wirklichkeit, die immer nur in Relation zum Anderen, zum Mitmenschen und zu der Ordnung, in der wir leben, gedacht werden kann.

Wie sehr diese Balance auseinander geraten kann, haben wir in den vergangenen zwei Jahrhunderten in Europa und in anderen Teilen der Welt immer wieder erfahren. Freiheit und Gleichheit wurden immerfort in einen Gegensatz zueinander gebracht, seitdem die Französische Revolution diese beiden Postulate auf ihre Fahne geschrieben hatte. Vernachlässigt wurde bei allem Streit um Freiheit und Gleichheit aber immer wieder die dritte Idee, die auf der Fahne der Französischen Revolution stand: die Brüderlichkeit. Politisch sprechen wir heute von "Solidarität". Theologisch sprachen wir schon immer von Nächstenliebe. In diesen Worten – Nächstenliebe, Solidarität, Brüderlichkeit – liegt der Schlüssel zu einem wahrhaftigen und unserer Zeit der Globalisierung angemessenen Verständnis für die Verantwortung der Christen in der Welt. Solidarität oder Nächstenliebe beinhaltet die Verantwortung, die universelle Würde jedes Menschen überall in der Welt und unter allen Umständen zu verteidigen und zu schützen.

Wenn wir Freiheit bewahren wollen und wenn wir Gerechtigkeit mehren wollen, so müssen wir den Wert der Brüderlichkeit, der Solidarität in die Mitte unseres politischen Denkens führen. In der Europäischen Union haben wir im Geist der Solidarität ein einzigartiges politisches Wunder vollbracht, das am Ende des Zweiten Weltkrieges kaum jemand für möglich gehalten hätte. Mit der Wiedervereinigung Europas nach dem Ende des Kalten Krieges haben wir uns in dem Prinzip der Solidarität zwischen den Staaten und den Völkern der alten und der neuen Europäische Union bewährt. Zuletzt haben die gemeinsamen Maßnahmen zur Bekämpfung der Finanzkrise gezeigt, dass Gemeinschaftsdenken und gemeinsame Politik in der Europäischen Union möglich sind.

Dennoch hat die Kraft der Solidarität im Innern Europas seit der Wiedervereinigung eher wieder nachgelassen. In unserem Verhältnis zu den anderen Völkern der Erde, vor allem zu den Ärmsten unter ihnen, steckt die Idee der Solidarität bestenfalls in den Kinderschuhen. Während Europa und die Welt schon heute unvorstellbare Summen für die Bekämpfung der Finanzkrise investiert haben, lässt die Umsetzung der Nächstenliebe in anderen Bereichen, etwa beim Kampf gegen den Hunger in der Welt, noch zu wünschen übrig. Die Tatkraft, mit der in Europa und in der Welt auf die Finanzkrise reagiert wurde, zeigt, dass internationale Zusammenarbeit große Herausforderungen bewältigen kann. Eine ähnliche Entschlossenheit wäre auch beim Kampf gegen die weltweite Armut notwendig. Europa und die internationale Staatengemeinschaft sind moralisch verpflichtet, hierbei weitere Verantwortung zu übernehmen. 2010 als "europäisches Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung" bietet einen idealen Rahmen für ein verstärktes und wirkungsvolles Engagement der Europäischen Union für die Ärmsten dieser Erde.

Hier muss die Politik ansetzen, um die Fastenbotschaft des Heiligen Vaters anzunehmen: Wir brauchen wieder einen europäischen Geist der Solidarität. Und wir benötigen mehr denn je einen europäischen Geist der Solidarität mit allen Völkern und Kulturen dieser einen Welt. Dieses sind die beiden wichtigsten sozialethischen Aufgaben, vor denen die Europäische Union steht. Dabei geht es nicht nur um die Zurverfügungstellung materieller Mittel, obwohl diese so wichtig sind. An erster Stelle geht es um eine geistige Erneuerung, die die europäische Politik leiten muss: Es geht darum, dass wir im Sinne des Solidaritätsgedankens an die Aufgaben herangehen, die vor uns liegen. Und es geht darum, dass wir im Sinne des Solidaritätsgedankens die Möglichkeiten nutzen, die wir im vergleichsweise wohlhabenden und privilegierten Europa besitzen, damit Gerechtigkeit für möglichst viele Menschen erfahrbar wird. Denn dort, wo Gerechtigkeit Wirklichkeit wird, wird auch der Wert der Freiheit gestärkt.

„Entwicklung ist der neue Name für Friede“, so hat es Papst Paul VI 1967 in seiner Enzyklika „Populorum progressio“ formuliert. Heute, so meine ich, müssen wir einen Schritt weitergehen und sagen „Solidarität ist der neue Name für Frieden“. Indem wir dies so formulieren, bringen wir Freiheit und Gleichheit wieder in das ihnen angemessene Verhältnis zur Solidarität. Damit findet das Streben nach Gerechtigkeit seine tiefste ethische Wurzel, die Wurzel der Brüderlichkeit und, christlich gesprochen, der Nächstenliebe. In diesem Sinne verstehe ich den Auftrag des Heiligen Vaters und seine Auslegung der Fastenbotschaft 2010 im Geiste der Gerechtigkeitsidee.

Solidarität ist nicht abstrakt, sie muss konkret werden. Heute stellen wir fest, dass reiche Länder immer reicher, arme Länder immer ärmer werden. Zwei Milliarden Menschen leben mit weniger als 1,5 US-Dollar pro Tag. Es ist nicht zu erwarten, so sehr es wünschenswert wäre, dass die reichen Länder ihre Entwicklungshilfe schnell drastisch aufstocken werden. Um an die notwendigen finanziellen Mittel zu kommen müssen wir deshalb auch neue Wege gehen. Ein vielversprechendes Beispiel dafür ist das Projekt „UNITAID“, das eng an die Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen angegliedert ist und dessen Ziel es ist, AIDS, Malaria, Tuberkulose und andere Krankheiten in 93 der ärmsten Länder der Welt zu bekämpfen. Einen Großteil der Gelder erwirtschaftet "UNITAID" durch eine geringe Sonderabgabe auf Flugtickets. Mit einem Aufschlag von ein oder zwei US-Dollar pro Ticket konnte in den 15 teilnehmenden Staaten in den vergangenen drei Jahren und drei Monaten ein Betrag von 1,5 Milliarden US-Dollar gesammelt werden. Ich möchte vorschlagen, diese Initiative auf alle Länder und Fluggesellschaften auszuweiten. Die Flugreisenden können sich diese geringfügige Erhöhung ihrer Tickets leisten. Mit zusätzlichen Milliardenbeträgen könnten wir die Not in der Welt zu lindern helfen.

Andererseits bin ich zutiefst davon überzeugt, dass die Aufgabe der globalen Solidarität nicht nur ein materielles Anliegen ist. Gerechtigkeit und Frieden, Ausgleich und Anerkennung wird es zwischen den Völkern und Staaten dieser Welt nur geben, wenn wir auch in unserem Dialog über den Glauben und die Grundlagen der Kultur solidarisch, brüderlich verfahren. Dabei werden wir auch über das Gerechtigkeitsverständnis sprechen, das den unterschiedlichen Kulturen und Religionen innewohnt. Der hebräische Begriff des Sedaqah, von dem der Heilige Vater in seiner Fastenbotschaft gesprochen hat, schließt, wenn ich es richtig verstehe, auch den Gedanken der Gemeinschaftstreue ein. Dieser alte jüdische Gedanke kann uns helfen, neu über den Sinn wechselseitiger Verpflichtungen nachzudenken, über das rechte Verhältnis von Rechten und Pflichten. Im Islam wird der Gerechtigkeitsbegriff wie selbstverständlich aus dem Koran abgeleitet. Das säkularisierte Europa wird im interkulturellen und interreligiösen Dialog also auch erfahren, dass Gerechtigkeitsbegriffe in anderen Kulturen geradezu natürlich und selbstverständlich religiös geprägt worden sind. So ist es ja auch gewissermaßen in der Tradition der christlichen Prägung des Gerechtigkeitsbegriffs gewesen und übrigens auch in der christlichen Prägung von Freiheit und von Solidarität. Vielfach haben wir den Zusammenhang von religiösen Begründungen und politischen Begriffen vergessen. Es wird uns aber gut tun, auch im interkulturellen und interreligiösen Dialog die Schätze dieser Tradition neu zu entdecken. Das hat nichts mit Fundamentalismus zu tun, aber sehr viel mit der Aktualitätskraft unserer eigenen Wurzeln. Wo uns diese Aktualisierung unserer eigenen kulturellen und religiösen Wurzeln gelingt, werden wir auch in der heutigen weitgehend säkularisierten Europäischen Union in christlicher Verantwortung gute Politik machen können.

Wechselseitiger Respekt im interkulturellen Dialog bedeutet nicht, die Augen vor unüberwindbaren Gegensätzen zu verschließen. Aber wir werden nur dann in der Welt des 21. Jahrhunderts den Fanatismus derer stoppen, die mit Gewalt diese Welt verändern wollen, wenn wir ihnen den geistigen Boden entziehen, auf dem sie viele Menschen guten Willens manipulieren können. Wir benötigen deshalb einen aufrichtigen Dialog der Solidarität von Christen und Muslimen, von Christen und Juden. Wir benötigen ihn zwischen den Privilegierten, die in Wohlstand und materieller Freiheit leben und jenen, die am Rande des sozialen und kulturellen Daseins stehen, die abseits bleiben von Wirtschaftswachstum und technologischen Möglichkeiten. Wir müssen den Gedanken der Solidarität zu einem politischen Projekt schmieden, das uns einlädt zum Dialog über alle Mauern hinweg, die unsere Welt heute trennen. Nur Solidarität kann den Weg weisen in ein Mehr an Freiheit und Gerechtigkeit für immer mehr Menschen auf dieser Welt.

Politik, die aus christlichem Verständnis des Menschen handelt, sollte in dieser Frage nie in ihrem Ehrgeiz nachlassen. Der Heilige Vater hat uns auf zwei wesentliche Folgerungen aus dem christlichen Verständnis von Gerechtigkeit hingewiesen: Die Selbstgenügsamkeit aufgeben und in Demut unsere Aufgabe annehmen. Dies ist der Kompass für jede Politik, die sich in christlicher Verantwortung sieht – in dieser Fastenzeit 2010 und weit darüber hinaus in diesem 21. Jahrhundert mit den vor uns liegenden großen Aufgaben der Gestaltung der Globalisierung.“







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