Die Selbstgeißelung – woher kommt sie, wozu dient sie?
Der Postulator im Seligsprechungsverfahren für Johannes Paul II. schreibt in einem
neuen Buch, dass der verstorbene Papst aus Polen sich gelegentlich selbst gegeißelt
hat. Woher kommt diese Art der Bußpraxis, und wozu genau dient sie?
Verleugne
dich selbst, um Jesus nachzufolgen – das war durch alle Jahrhunderte hindurch ein
Grund-Impuls großer Christen, gestützt auf das Wort Jesu: „Wer mein Jünger sein will,
der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach” (Mt 16,24;
vgl. auch Mk 8,34 und Lk 9,25). Begriffe wie Abtötung, Buße oder Sühne stoßen heute
eher auf Befremden. Und doch gehören sie letztlich zur Radikalität des Christentums
und sind übrigens gar nicht nur auf den christlichen Bereich beschränkt: Man denke
nur an die Selbstgeißelungen von Schiiten. Im Christentum geht es allerdings nicht
nur, wie bei anderen Religionen, um Abtötung aus ethischen Gründen. Vielmehr ist eine
Selbstgeißelung - wie andere Buß- oder Sühnewerke - der Versuch, sich in das Erlösungsleiden
Jesu Christi mit hineinzuschreiben – und sich mystisch mit dem leidenden Herrn zu
vereinen.
Historisches Vorbild der Askese ist im Christentum vor allem Johannes
der Täufer: Auf ihn beriefen sich ab dem 3. Jahrhundert die Wüstenväter in Ägypten,
die viele Bußpraktiken entwickelten, und später die verschiedenen Formen des Mönchtums
in der Kirche. Aus dem rauhen Büßergewand, das schon im frühen Christentum bezeugt
ist, entwickelt sich über viele Umwege der Bußgürtel, der vor allem von Mitgliedern
der Dritten Orden des Hl. Franziskus und des Hl. Dominikus bis ins 20. Jahrhundert
hinein verwendet wird. Die Selbstgeißelung allerdings ist der Bibel und der frühen
Kirche fremd; sie tauchte anfangs nur als Strafmittel in Mönchsregeln auf. Erst im
8. Jahrhundert scheint die freiwillige Selbstgeißelung aufzukommen; im 11. Jahrhundert
wirbt der heilige Petrus Damiani für diese Bußpraxis. Allerdings gibt es – so stellt
ein Experte fest – „eine gefährliche Entgleisung in der unruhigen Zeit des Spätmittelalters“,
als sich inmitten von Seuchen und Weltuntergangs-Ängsten Geißlerzüge „wie eine Epidemie“
in Europa auszubreiten beginnen. Vor allem das Jahr 1348/49 zur Zeit der Großen Pest
bringt „eine so große Zahl von Mißbräuchen bei diesen Zügen“, daß Papst Klemens VI.
die ganze Bewegung verbietet – auch weil sie eine antikirchliche Richtung genommen
hat. Damit ist aber keineswegs die (private) Geißelung als asketische Übung geächtet.
Eine weitere Verbreitung findet der Gebrauch der Geißel dann zur Zeit der
katholischen Reform, begünstigt vor allem durch die Jesuiten. Diese Praxis hat, so
ein Experte, „dann ihren Sinn, wenn sie Teil eines ausgewogenen Bemühens des Menschen
um sittliche Vervollkommnung in der Christusnachfolge ist“. Darum gehört zu ihr eigentlich
zwingend die Begleitung durch einen geistlichen Berater, um Fehlentwicklungen und
Fanatismus vorzubeugen. Noch im 20. Jahrhundert kannten praktisch alle religiösen
Familien Abtötungen in irgendeiner Form. „Es mag sein, daß ihr starker Rückgang in
den letzten 30-40 Jahren zusammenhängt mit dem Rückgang der geistlichen Führung, an
die ja das Bemühen um das asketische Leben stark geknüpft ist.“