2010-01-18 15:40:58

Papstrede in der Synagoge – die Übersetzung


In seiner programmatischen Rede nannte Benedikt XVI. die Neuorientierung der katholischen Kirche im Konzil „unwiderruflich“. Mit Nachdruck beschwor er die Gemeinsamkeiten der beiden Religionen und forderte ihre Angehörigen auf, trotz bestehender Differenzen zusammen für eine bessere Welt zu arbeiten. (rv)
 
Wir dokumentieren die Ansprache des Papstes in einer deutschen Arbeitsübersetzung

Der Herr hat an Ihnen Großes getan,
Ja, Großes hat der Herr an uns getan,
Da waren wir fröhlich.
Seht doch, wie gut und schön ist es,
Wenn Brüder in Eintracht beisammen sind.


Verehrter Herr Oberrabiner der jüdischen Gemeinde in Rom,
verehrter Herr Präsident der Gemeinschaft der jüdischen Gemeinden Italiens,
verehrter Herr Präsident der jüdischen Gemeinschaft in Rom,
verehrte Herren Rabinner,
verehrte Repräsentanten des Staates und der Stadt,
liebe Freunde und Geschwister.

1. Die Psalmen, die wir am Anfang unseres Treffens im Großen Tempel der jüdischen Gemeinde Roms gehört haben, geben uns die geistliche Haltung vor, in der wir diesen so besonderen und freudigen Moment der Gnade leben können: das Lob des Herrn, der große Dinge für uns getan hat, der uns mit seiner Hèsed, seiner barmherzigen Liebe, gesammelt hat; und die Danksagung für das Geschenk, dass wir uns gemeinsam zusammenfinden können, um das Band, das uns vereint, noch fester zu machen und fortfahren zu können, den Weg der Versöhnung und der Brüderlichkeit zu gehen. Ich möchte vor allem meiner Dankbarkeit Ausdruck verleihen - an Sie, Herrn Oberrabiner Doktor Riccardo Di Segni, für Ihre an mich gerichtete Einladung und für die bedeutsamen Worte, die Sie an mich gerichtet haben. Ich danke auch dem Präsidenten der Gemeinschaft der jüdischen Gemeinden Italiens, Herrn Rechtsanwalt Renzo Gattegna, und der jüdischen Gemeinde Roms, Herrn Riccardo Pacifici, für die freundlichen Worte, die sie mir entgegengebracht haben. Ich denke auch an die hier vertretenen Regierungen und an alle hier Anwesenden und richte mich in besonderer Weise an die jüdische Gemeinde in Rom und an alle, die dazu beigetragen haben, dass dieser Augenblick der Begegnung und der Freundschaft, den wir gerade erleben, möglich werden konnte.
Als mein verehrter Vorgänger Johannes Paul II das erste Mal - als Christ und als Papst - vor knapp 24 Jahren zu Euch kam, wollte er einen deutlichen Beitrag zur Konsolidierung der guten Beziehungen zwischen unseren Gemeinschaften leisten, um so jedes Unverständnis und Vorurteil zu überwinden. Mein Besuch heute fügt sich in den vorgezeichneten Weg ein - um ihn zu bestätigen und ihn zu verstärken. Ich bin voller lebhafter Herzlichkeit hier unter euch, um euch und allen jüdischen Gemeinden weltweit die Wertschätzung und die Zuneigung des Bischofs und der Kirche von Rom wie überhaupt der ganzen katholischen Kirche zu bezeugen.

2. Die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils ist für die Katholiken ein fester Bezugspunkt, an dem man sich in der Haltung und den Beziehungen zum jüdischen Volk ständig orientieren kann. Sie bedeutete eine neue, wichtige Etappe. Das Konzil hat entscheidend zu dem Entschluss beigetragen, einen unumkehrbaren Weg des Dialogs, der Brüderlichkeit und der Freundschaft einzuschlagen – einen Weg, der sich in diesen vierzig Jahren vertieft und entwickelt hat. Von den wichtigen und bedeutenden Schritten und Gesten möchte ich noch einmal den historischen Besuch meines Vorgängers seligen Angedenkens am 13 April 1986 erwähnen. Daneben waren da die zahlreichen Begegnungen, die er mit Vertretern des Judentums hatte, besonders während der internationalen apostolischen Reisen und der Wallfahrt im Heiligen Jahr 2000 ins Heilige Land. Dann sind da die Dokumente des Heiligen Stuhles, die nach der Erklärung Nostra Aetate wertvolle Orientierungen für eine positive Entwicklung der Beziehungen zwischen Katholiken und Juden gegeben haben. Auch ich, in diesen Jahren des Pontifikates, habe meine Zuneigung und Wertschätzung für das Volk des Bundes zeigen wollen. Ich halte in meinem Herzen alle Momente der Pilgerfahrt lebendig, die ich im Mai des letzten Jahres ins Heilige Land habe machen dürfen, ebenso wie die zahlreichen Treffen mit jüdischen Gemeinden und Organisationen, insbesondere jene in den Synagogen von Köln und New York.
Die Kirche hat es auch nicht unterlassent, die Versäumnisse ihrer Mitglieder zu beklagen und für alles um Verzeihung zu bitten, was in irgendeiner Weise den Wunden des Antisemitismus und des Antijudaismus hat Vorschub leisten können. Mögen diese Wunden für immer heilen!
Mir kommt wieder das schöne Gebet in den Sinn, das Papst Johannes Paul II am 26. März 2000 an der Klagemauer in Jerusalem gesprochen hat, das Wahrhaftigkeit und Einfachheit ausstrahlt, wenn es auf dem Grund unseres Herzens widerhallt:

Gott unserer Väter,
du hast Abraham und seine Nachkommen auserwählt,
deinen Namen zu den Völkern zu tragen:
Wir sind zutiefst betrübt über das Verhalten aller,
die im Laufe der Geschichte
deine Söhne und Töchter leiden ließen.
Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen,
dass echte Brüderlichkeit herrsche
mit dem Volk des Bundes.

3. Ein Blick in die Vergangenheit erlaubt es uns, im 20. Jahrhundert wirklich eine tragische Epoche für die Menschheit zu erkennen: blutige Kriege, die Zerstörung gesät haben; Tod und Schmerz, wie sie vorher nie geschehen waren; schreckliche Ideologien, die ihre Wurzeln in der Vergötzung des Menschen, der Rasse, des Staates hatten und die einmal mehr den Bruder zum Töten des Bruders gebracht haben. Das einzigartige und erschütternde Drama der Shoah bedeutete gewissermaßen den Höhepunkt eines Weges des Hasses, der entsteht, wenn der Mensch seinen Schöpfer vergisst und sich selbst in den Mittelpunkt des Universums stellt. Wie ich am 28. Mai 2006 während meines Besuches im Konzentrationslager Auschwitz, der immer noch zutiefst in mein Gedächtnis eingeprägt ist, ausgedrückt habe: „Die Machthaber des Dritten Reiches wollten das jüdische Volk in seiner Gesamtheit ausrotten“ und damit letztlich „mit dem Austilgen dieses Volkes auch diesen Gott töten, der einst Abraham berufen, der am Sinai gesprochen und dort die bleibend gültigen Maße des Menschseins aufgerichtet hat“.
Wie könnte ich hier nicht an die römischen Juden erinnern, die aus diesen Häusern gerissen und grausam in Auschwitz ermordet wurden? Wie könnte man ihre Gesichter, ihre Namen, die Tränen, all die Verzweiflung vergessen? Die Vernichtung des Volkes des mosaischen Bundes, zuerst nur angedroht, dann im Europa unter der Nazi-Herrschaft systematisch geplant und durchgeführt, erreichte in jenen Tagen tragischerweise auch Rom. Leider blieben viele gleichgültig – aber viele, auch unter Italiens Katholiken, haben, angetrieben vom Glauben und von der christlichen Lehre, doch mutig reagiert und die Arme geöffnet, um Juden zu helfen, wobei sie oft ihr eigenes Leben riskiert haben. Sie verdienen ein ewiges Gedächtnis. Auch der Heilige Stuhl leistete damals ein Werk der Hilfe, oft verborgen und diskret.
Die Erinnerung an diese Ereignisse muss uns antreiben, das Band, das uns eint, zu stärken, damit immer mehr Verständnis, Respekt und gegenseitige Annahme wachsen.

4. Unsere Nähe und geistliche Bruderschaft finden in der Heiligen Schrift - in hebräisch i Sifre Qodesh, oder: die Bücher der Heiligkeit - ihr solides, ewiges Fundament. Wir teilen gemeinsame Wurzeln und ein reiches geistliches Erbe. Die Kirche, Gottesvolk des Neuen Bundes, entdeckt, wenn sie ihr eigenes Geheimnis betrachtet, ihr enges Band zu den Juden, die auserwählt sind vom HERRN, vor allen anderen sein Wort anzunehmen. Im Unterschied zu den anderen nicht-christlichen Religionen stellt der jüdische Glaube schon eine Antwort auf die Offenbarung Gottes im Alten Bund dar. Das jüdische Volk besitzt „die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bundesordnungen, ihm ist das Gesetz gegeben, der Gottesdienst und die Verheißungen, sie haben die Väter, und dem Fleisch nach entstammt ihnen der Christus" (Röm 9,4-5), denn „unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt" (Röm 11,29) bergleiche Katechismus der katholischen Kirche 839).

5. Aus unserem gemeinsamen Erbe von Gesetz und Propheten ergeben sich zahlreiche Implikationen. Ich will einige hervorheben: vor allem die Solidarität, die die Kirche und das jüdische Volk in ihrer eigenen geistlichen Identität aneinanderbindet. Sie drängt die Christen dazu, neuen Respekt für die jüdische Interpretation des Alten Testaments zu zeigen. Dann ist da die zentrale Bedeutung der Zehn Gebote, des „Zehnworts“ als gemeinsame ethische Botschaft von ewiger Gültigkeit für Israel, die Kirche, die Nichtglaubenden und die ganze Menschheit. Und schließlich ist da der Einsatz für das Reich des Höchsten in der Sorge für die Schöpfung, die Gott dem Menschen anvertraut hat, damit er sie verantwortlich hüte und pflege.

6. Der Dekalog - das Zehnwort oder die Zehn Gebote - der aus der Thora des Mose stammt, stellt eine Fackel der Ethik, der Hoffnung und des Dialoges dar, einen Polarstern des Glaubens und der Moral des Gottesvolkes, und er erleuchtet und leitet auch den Weg der Christen. Er stellt einen Leuchtturm und eine Lebensnorm in Gerechtigkeit und Liebe dar, eine ethische „magna Charta" für die ganze Menschheit - Das "Zehnwort" bringt Licht in die Unterscheidung zwischen Gut und Schlecht, wahr und falsch, gerecht und ungerecht, auch gemäß des rechten Gewissens jeder menschlichen Person. Jesus selbst hat es mehrfach wiederholt, indem er unterstrich, dass ein mühsamer Einsatz auf dem Weg der Gebote nötig sei: „Wenn Du aber das Leben erlangen willst, halte die Gebote". In dieser Perspektive gibt es verschiedene Felder der Zusammenarbeit und des gemeinsamen Zeugnisses. Ich möchte an drei besonders wichtige Punkte für unsere Zeit erinnern:
Die Zehn Gebote fordern, den einzigen HERRN anzuerkennen, gegen die Versuchung, sich andere Götter zu schaffen und sich goldene Kälber zu machen. In unserer Welt kennen viele Menschen Gott nicht und halten ihn für überflüssig, ohne Relevanz für ihr Leben; so sind andere und neue Götter geschaffen worden und der Mensch verneigt sich vor ihnen. In unserer Gesellschaft muss die Öffnung auf die transzendente Dimension wieder geweckt werden. Den einzigen Gott zu bezeugen, das ist ein wertvoller Dienst, den Juden und Christen gemeinsam anbieten können.
Die Zehn Gebote fordern den Respekt und den Schutz des Lebens gegen jede Ungerechtigkeit und Ausnutzung ein, indem sie den Wert jeder menschlichen Person anerkennen, geschaffen als Bild und Gleichnis Gottes. Wie oft werden noch - in jedem Teil der Welt, nah und fern - die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte mit Füßen getreten. Gemeinsam den höchsten Wert des Lebens gegen jeden Egoismus zu bezeugen, ist ein Anbieten eines wichtigen Beitrages für eine Welt, in der Gerechtigkeit und Frieden herrschen – der Shalom, der von Gesetzgebern, Propheten und Weisen Israels angekündigt worden ist.
Die Zehn Gebote fordern ein, die Heiligkeit der Familie zu bewahren und zu fördern, in der das persönliche und gegenseitige „Ja“, treu und definitiv zwischen Mann und der Frau, Raum der Zukunft erschließt: für die authentische Menschlichkeit beider und zur gleichen Zeit für das Geschenk neuen Lebens. Zu bezeugen, dass die Familie die essentielle Grundeinheit der Gesellschaft und der erste wichtigste Kontext ist, in dem die menschlichen Tugenden gelernt und ausgeübt werden, ist ein wertvoller Dienst der für die Gestaltung einer Welt mit einem menschlicheren Antlitz angeboten werden muss.

7. Wie Mose im Schemà lehrt (Dt 6,5; Lv 19,34) - und Jesus im Evangelium bestätigt (Mk 12,19-31): alle Gebote lassen sich in der Liebe zu Gott und in der Barmherzigkeit gegenüber dem Nächsten zusammenfassen. Diese Regel nimmt Christen und Juden in die Pflicht, heute eine besondere Großzügigkeit für die Armen walten zu lassen, für Frauen und Kindern, für Fremde, Kranke, Schwache, Notleidende. In der jüdischen Tradition gibt es einen wundervollen Satz der Väter Israels: „Simon der Gerechte pflegte zu sagen, Die Welt gründet sich auf drei Dinge: die Torah, den Kult und die Werke der Barmherzigkeit.“ Mit der Ausübung der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit sind Juden und Christen dazu gerufen, das kommende Reich des Höchsten zu verkünden und von diesem Zeugnis zu geben und zu beten und jeden Tag voller Hoffnung zu wirken.

8. In dieser Richtung können wir gemeinsam Schritte verwirklichen. Dabei sind wir uns der Differenzen, die zwischen uns sind, bewusst, auch aber ebenso auch der Tatsache, dass, wenn wir es schaffen unsere Herzen und unsere Hände zu vereinen, um dem Ruf des HERRN zu antworten, sein Licht uns nahe kommen wird, um alle Völker der Erde zu erleuchten. Der Weg, den wir in den vergangenen vierzig Jahren mit dem Gemeinsamen Internationalen katholisch-jüdischen Komitee und in den letzten Jahren auch mit der Gemischten Kommission des Heiligen Stuhles und des Israelischen Oberrabbinates zurückgelegt haben, ist ein Zeichen des gemeinsamen Willens den offenen und ehrlichen Dialog fortzusetzen. Am morgigen Tag wird die Gemischte Komissision ihr neuntes Treffen hier in Rom halten zum Thema „Die katholische und jüdische Lehre über das Geschaffene und die Umwelt"; wir wünschen ihnen einen erfolgreichen Dialog bei einem so wichtigen und aktuellen Thema.

9. Christen und Juden haben zum größten Teil ein gemeinsames geistliches Erbe, sie beten zum gleichen HERRN, haben die gleichen Wurzeln, aber kennen sich oft nicht gut genug. Es liegt also an uns, als Antwort auf den Ruf Gottes, dafür zu arbeiten, dass der Raum des Dialoges immer offen bleibt, der Raum des gegenseitigen Respekts, des Wachsens in der Freundschaft, des gemeinsamen Zeugnisses im Angesicht der Herausforderungen unserer Zeit. Das alles läd uns ein für das Wohl der Menschheit zusammenzuarbeiten, in diese Welt, geschaffen von Gott, dem Allmächtigen und Erbarmer.

10. Schließlich ein eigenes Wort für unser Stadt Rom, wo seit 2.000 Jahren die katholische Gemeinschaft mir ihrem Bischof und die jüdische Gemeinschaft mit ihrer Oberrabbiner zusammenleben; dieses Zusammenleben soll von einem Wachsen in der geschwisterlichen Liebe belebt sein, das sich auch in immer engerer Zusammenarbeit ausdrückt, um ein wertvollen Beitrag für die Lösung der Probleme und Schwierigkeiten anzubieten.
Ich erbitte vom Herrn das wertvolle Geschenk des Friedens in der ganzen Welt, vor allem im Heiligen Land. Möge er unsere Freundschaft stärken und unsere Eintracht noch enger machen
Zu meiner Pilgerfahrt im letzten Mai in Jerusalem an der Klagemauer habe ich zu jenem, der alles vermag, gebetet: „Sende deinen Frieden ins heilige Land, in den Orient, in jede menschliche Familie, bewege die Herzen derer, die deinen Namen anrufen, damit die demütig den Weg der Gerechtigkeit und des Erbarmens gehen“. Erneut lobe und danke ich Ihn für unser Treffen. Möge Er unsere Freundschaft stärken und unsere Eintracht noch enger machen.

Diese Arbeitsübersetzung für Radio Vatikan erstellte Marc-Stephan Giese SJ. Die einzig offizielle Übersetzung der Papstpredigt finden Sie wie immer in der deutschen Ausgabe der Vatikanzeitung „L’Osservatore Romano”.

(rv 18.01.2010 ord/mg)








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