2010-01-11 12:47:04

Süditalien: „Nero precario - Man kann Tiere erschießen, aber doch keine Menschen!"


RealAudioMP3 In Italien hatten sich in der Debatte um illegale Einwanderer die Wogen gerade erst geglättet. Nun kochen sie wieder hoch. Anlass ist eine Revolte von Erntearbeitern in Kalabrien im Süden des Landes. Nach Schüssen auf zwei ihrer Leute am letzten Donnerstag gingen die afrikanischen Migranten in der Stadt Rosarno auf die Barrikaden.

Wie Freiwild
Gewalttätige Auseinandersetzungen folgten. Über 50 Verletzte, darunter Afrikaner, Sicherheitskräfte und italienische Bürger – so die traurige Bilanz. In den Folgetagen kam es in der Gegend zu weiteren Attacken auf Afrikaner – die Migranten fühlten sich wie Freiwild. Im Interview mit „Repubblica TV“ ließen die Erntehelfer ihrer Wut und Verunsicherung freien Lauf.

„Man kann Tiere erschießen, aber doch keine Menschen! Die Hautfarbe sollte doch keine Rolle spielen. Geht nur mal nach Afrika. In Marokko rührt niemand Italiener an. Wir respektieren nämlich andere Menschen.“ – (Beifall der anderen) ...sagt der 34-jährige Ahmed aus Marokko. Er und seine Kollegen sehen sich als Opfer eines rassistischen Übergriffes. „In der Bibel und im Koran steht: Wir sind gleich! Wir sind nicht zum Unruhestiften in Italien (zustimmende Rufe der anderen), sondern zum Arbeiten, wir wollen Geld verdienen, das wir nach Hause schicken können. Ich will hier nicht die Caritas um Brot und Milch anbetteln – das interessiert mich nicht, ich will nur arbeiten und Respekt!“

Falsche Toleranz?
Gefallene Obstpreise und Arbeitslosigkeit dürften die Aggressionsbereitschaft der Erntehelfer verschärft haben. Für den italienischen Innenminister Roberto Maroni ist die Eskalation Folge von „falscher Toleranz“. Der Verfechter des so genannten „Sicherheitspaketes“ kündigte in einem Interview (Sky Tg24) direkt die Abschiebung der illegalen Migranten an. Kirche und Caritas nahmen die Afrikaner in Schutz. Benedikt XVI. erinnerte im Sonntagsgebet erneut an die Menschenwürde, wenn auch Gewalt, so der Papst, „nie und für niemanden“ ein Weg sein dürfe, Schwierigkeiten zu lösen. Die Situation der Erntehelfer in Kalabrien sei vor allem „wegen ihrer schweren Arbeitsbedingungen belastend“, so der vatikanische Staatssekretär Tarcisio Bertone. Pino Demasi, Generalvikar der Diözese Oppido-Palmi (bei Rosarno), findet noch klarere Worte. Fakt sei doch, dass sich die Einwanderer in der Mangel der Mafia befänden.

„Auf der einen Seite gibt es da die lokale Mafia, die so genannte ’Ndrangheta, die diese Bürger unterbuttert und sie bis aufs Letzte ausnutzt. Sie zwingt sie, an diesem schrecklichen Orten zu leben und bezahlt sie kaum. Und auf der anderen Seite gibt es da die Menschen guten Willens aus der Region, die ein Netzwerk der Solidarität aufbauen und die Migranten schützen wollen.“

In Baracken ohne Strom und fließendes Wasser, zusammengepfercht wie die Tiere - so lebten die Arbeiter in einer verlassenen Fabrik bei Rosarno. Der Lohn von circa 25, - Euro pro Tag reichte grade fürs Überleben, ein Teil davon, so die Einwanderer, ginge an Familien und Angehörige in den afrikanischen Heimatländern. „Falsche Toleranz“ gegenüber wem, muss man fragen, gegenüber afrikanischen Illegalen oder italienischen Heckenschützen, wütenden Arbeitern oder ausbeuterischen Plantagenbesitzern? Wo Rechtspopulisten rassistische Schlagworte bemühen, bemühen sich Kirche und Menschenrechtsorganisationen um eine breitere Debatte. Siziliens Caritas rief zuletzt mit einer provokanten Weihnachtsaktion zu mehr Solidarität gegenüber Einwanderern auf. So fehlten In der Weihnachtskrippe im Dom von Agrigent die drei Könige. Kaspar, Melchior und Balthasar – war dort zu lesen – seien „zusammen mit anderen Einwanderern an der Grenze abgewiesen“ worden.

„Ich kann mich doch nicht von einem Gipskind in der Krippe rühren lassen, das mich an die Ereignisse von vor 2000 Jahren erinnert und andererseits vor echten Kindern, die im Mittelmeer umkommen, gleichgültig bleiben – von solchen armen Kleinen sind ja so viele gestorben! Ich kriege diese beiden Dinge jedenfalls nicht zusammen…“

…so der Erzbischof von Agrigent, Francesco Montenegro, aufgebracht. Auch ohne politische Lösungen ist Italiens Kirche in Punkto Einwanderung keineswegs weltfremd. Schließlich sind es gerade kirchliche oder kirchennahe Einrichtungen, die konkrete Hilfe leisten und nicht zuletzt auch die Bewusstseinbildung der Bevölkerung vorantreiben. Mailands Erzbischof, Kardinal Dionigi Tettamanzi, appellierte in der Messe zum Dreikönigsfest an die Bevölkerung:

„Wir brauchen mehr Einheit unter uns. Und wir brauchen Entschiedenheit und den energischen Willen, in dieser selbst gewählten Gesellschaft neue Erziehungsprojekte voranzutreiben. In Italiens Gesellschaft, die sich auch aus immer mehr Bürgern anderer Nationalitäten zusammensetzt – und das mit gutem Recht – , müssen wir uns alle von unserer besten Seite zeigen. Wir brauchen ein tiefes und gemeinsames Nachdenken über die Werte der Person, jeder Person, über Staatsangehörigkeit, die Staatsbürgerschaft aller und religiöse Zugehörigkeit.“

Schwarz und rechtslos
Die Solidarität der Bewohner von Rosarno war offenbar nicht groß genug, als dass sie die Migranten hätte schützen können. Nach den ersten Schüssen am letzten Donnerstag kam es in der Gegend zu weiteren Übergriffen auf Afrikaner. Und wenn dann ausgerechnet die „Gejagten“ um Schutz und Hilfe bitten müssen, wirft das auch kein gutes Licht auf die lokale Polizei.

„Wir haben nichts gegen die Leute hier. Das sind gute Leute. Wir wollen nur, dass die Wahrheit zu dieser Geschichte erzählt wird und dass Polizei und Sicherheitskräfte ihre Pflicht erfüllen. Wir arbeiten hier wie die Hunde. Und Italien ohne Einwanderer zählt doch gar nichts!“

Ganz unrecht hat Ahmet damit nicht. Nach einer Statistik der Caritas tragen die italienischen Einwanderer mit 9 Prozent nicht unerheblich zu Italiens Bruttoinlandsprodukt bei. Damit sind wohl weniger illegale Einwanderer gemeint. Wenn man aber, wie gern Vertreter der populistischen Rechtspartei „Lega Nord“, steigende Kriminalität nur auf illegale Einwanderer zurückführen will, muss man auch über ausbeuterische Schwarzarbeit reden. Denn sie ist es, die den Zustrom illegaler Einwanderer am Laufen halten. (Musik: „Nero precario…“) Und die sind meistens schwarz und rechtlos, wie eine bekannte italienische Fernsehsatire kürzlich polemisch titelte. (Musik: „Italien ist eine demokratische Republik, die auf Arbeit basiert…“) Das Recht auf menschenwürdige Arbeit, in den ersten Artikeln der italienischen Verfassung festgeschrieben, für sie gilt es ganz offenbar nicht.

Versagen des Rechtsstaates?
Hat im Fall Rosarno der Rechtsstaat versagt? Viele Bewohner der Region fühlen sich durch die Ausschreitungen verunsichert. Auf den Demonstrationen der Rosarnesi sieht man zurzeit viele Plakate mit Slogans wie „Solidarität“ und „keine Gewalt“. Die Bewohner der Kleinstadt, die von der Landwirtschaft lebt, wollen ihre Ruhe. Wenige von ihnen sind so mutig wie der Hörer einer italienischen Radiosendung (Prima Pagina, Rai Tre), der sich ein Paar Tage nach den Vorfällen Luft macht. Er komme aus Rosarno, so der Mann, der angibt, die „Verhältnisse hier gut zu kennen“.

„Die `Ndrangheta vergisst nicht. Sie reagiert, auch ein oder viele Jahre später. Schon letztes Jahr haben die Migranten hier friedlich protestiert. Sie haben ausbeuterische Kriminelle angezeigt, einer von ihnen sitzt heute im Gefängnis. Der Staat - das ist ja keine generelle Größe, der Staat besteht aus lokalen Stellen und Behörden, aus Verantwortlichen, die – in diesem Fall - ihre Aufgaben nicht wahrgenommen haben.“

Ab den 60er Jahren hätte die lokale Mafia begonnen, ihre Macht über die gesamte Region auszubreiten. 15 Familien seien heute darin verwickelt, so der Hörer, der anonym bleiben will. Anschließend nennt er zwei Namen und legt auf. Auch der Generalvikar Damasi von der Diözese Oppido-Palmi glaubt an einen Racheakt der ‘Ndrangheta.

„Das war nicht nur ein schlechter Jungenstreich, sondern sicher in eine Logik der Rache eingebettet. Die `Ndrangheta wollte demonstrieren: Uns gibt es, wir machen, was wir wollen und ihr seid uns Untertan.“

Er wirft der Region Kalabrien Versäumnisse vor:

„Schon seit dem letzten Jahr gibt es dieses Problem. Die Region hätte sicher ein Gesetz machen müssen, dass Arbeit und Aufenthalt der Saisonarbeiter regelt. Ich denke, dass das Problem nur rechtsstaatlich und vor allem durch den Einsatz der lokalen Behörden gelöst werden kann. Sie können bewirken, dass diese Migranten nicht unter den ausbeuterischen Bedingungen organisierter Verbrecher leben müssen.“

Migrantenjagd als Machtdemonstration – auch gegenüber dem italienischen Staat? Diese Möglichkeit schlossen zuletzt auch der Präfekt der Region Reggio Calabria, Luigi Varratta, und das italienische Innenministerium nicht aus (Alfredo Montavano, Untersekretär). Schließlich hatten Politiker dem organisierten Verbrechen vor kurzem erneut den Kampf angesagt.

Ein Großteil der Einwanderer von Rosarno, darunter auch Migranten mit Aufenthaltsgenehmigung, wurden nach den Unruhen in Auffanglager umgesiedelt. In den meisten dieser Lager herrschen, das fand eine Untersuchung von Ärzte ohne Grenzen Italien jetzt heraus, menschenunwürdige Bedingungen, die denen der Arbeiterbaracken in nichts nachstehen. Mit der Abschiebung in die Lager ist in Kalabrien die öffentliche Ordnung wieder hergestellt - Fragen des organisierten Verbrechens und der Rechte der afrikanischen Arbeiter bleiben aber weiter ungelöst.

(Musik)

(rv/ansa/rai tv/rai audio 9.1.2010 pr)







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