man könnte fast meinen, das Evangelium vom ungehorsamen Jesuskind sei
speziell für unsere Zeit geschrieben. Nicht etwa, weil die Jugend heute ungehorsamer
ist als früher, sondern weil heute allgemein Konflikte zwischen den Generationen mehr
verbreitet sind als früher. Wenigstens kann man diesen Eindruck haben. Wir müssen
uns aber mit der Frage genauer beschäftigen. Und es ist erlaubt, sich bei diesem Evangelium
verwundert die Augen zu reiben: Warum haben die Eltern nicht gemerkt, dass ihr 12-jähriger
Sohn zurückgeblieben ist? Warum sind sie drei Tage lang Richtung Galiläa marschiert,
bevor sie anfingen nach Jesus zu fragen? War er vielleicht vorher schon so emanzipiert,
dass die Eltern sich keine Sorgen machten? Und warum hat Jesus – wie es sich für gehorsame
Kinder gehört – nicht den Eltern wenigstens irgendwie mitteilen lassen, dass er noch
etwas im Tempel bleiben muss? Er konnte sich doch ausrechnen, dass die Eltern sich
sorgen müssten. Hat er vielleicht erst durch diesen Ungehorsam und den Schrecken der
Eltern gehorsam gelernt, denn danach sei er ja dann ganz gehorsam gewesen? So wird
ausdrücklich im Evangelium gesagt. So verständlich alle diese Fragen für uns sind,
vermutlich sind es alles Fragen, die man so eigentlich nicht an das Evangelium stellen
darf. Zu anderen Zeiten hat man anders gedacht als wir heute denken. Und es wird auch
in Zukunft so sein. Vielleicht will das Evangelium hier überhaupt nichts sagen, was
mit diesen unseren Fragen zusammenhängt. Man überhört und überliest allzu leicht Sätze,
die vielleicht viel wichtiger sind als die Themen zu denen wir Fragen stellen. Ein
zentraler Satz heißt wohl: „Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem
Herzen.“ Bevor wir versuchen, eine hintergründige Botschaft dieses Evangeliums
zu suchen, müssen wir doch kurz noch etwas zu unseren Fragen einfügen: Wir verstehen
unter dem Wort „Familie“ gewöhnlich eine Gruppe von drei bis fünf Personen, also Vater,
Mutter und durchschnittlich ein bis drei Kinder. Familie aber bedeutete Jahrhunderte
lang eine ziemlich große Gruppe: Großeltern, Eltern, vielleicht dazu deren verheiratete
oder unverheiratete Geschwister, Kinder, deren Vettern und Cousinen und möglicherweise
Knechte und Mägde. Das alles war eine Familie. So ist nicht auszuschließen, dass Maria
und Josef vermuteten, dass ihr Sohn mit anderen Familienmitgliedern von Jerusalem
aufgebrochen war. Also man darf in diese Richtung denken. Aber vielleicht ist das
dem Evangelisten auch völlig unwichtig. Vielleicht will der Evangelist Folgendes
sagen: Die Welt Gottes ist eine andere Welt als die Welt der Menschen. Wir dürfen
nicht meinen, dass unsere Welt, unsere Regeln, unsere Gesetze einfach so auch bei
Gott gelten. Gott ist kein Wesen wie alle Wesen, die wir sehen, hören, erkennen. Gott
ist ganz anders. Daher sind dann auch die Regeln, die bei ihm gelten, völlig anders.
Vielleicht will also der Evangelist vor allem sagen: Beim Zurückbleiben Jesu im Tempel
zeigt sich erstmals, dass Jesus etwas völlig Anderes ist als alle anderen Menschen,
er ist unvergleichlich. Er ist zwar ganz Mensch geworden. Er wurde einer von uns,
ja sogar einer der Untersten von uns, er wurde wie ein Sklave, ein Sklave, den man
auspeitschen, aufhängen, zu Tode foltern konnte. Aber er war gleichzeitig völlig anders.
Denn in aller Klarheit relativierte er das Gesetz des Moses, stellte sich an die Seite,
ja sogar in gewisser Weise über den großen Gesetzgeber des auserwählten Volkes. Er
sprach nicht wie die Schriftgelehrten, sondern mit Autorität, wie sogar seine Gegner
registrieren mussten, er ließ Sünden nach, er tat, was man damals nur Gott zusprach.
Will der Evangelist Lukas vielleicht mit dieser seltsamen Geschichte vom Zurückbleiben
Jesu im Tempel und seinem Lehren vor den Weisen Jerusalems nur sagen: Gottes Uhren
gehen anders als der Menschen Uhren, Gottes Regeln sind anders als die Menschenregeln,
Jesus steht nicht nur unter dem Gesetz der Menschen, sondern auch und viel mehr unter
dem Gesetz Gottes? Will der Evangelist vielleicht nur sagen: Wenn ihr meint, Jesus
zu verstehen, dann täuscht ihr euch gewiss. Jesus ist nicht zu verstehen so wenig
wie Gott zu verstehen ist. Man kann weder Jesus noch dem himmlischen Vater in die
Karten schauen. Wer meint, ihm in die Karten schauen zu können, der ist naiv. Wer
meint, die Wege Gottes erkennen, voraussehen zu können, der täuscht sich gewaltig.
Gott kann man nur vertrauen. Ja, man soll und darf ihm vertrauen. Zum Verstehen gehört
mehr dazu. Kurz gesagt also die Glaubensbotschaft dieses Evangeliums: Gottes Tun
ist geheimnisvoll. Wir stehen vor ihm und können, müssen es einfach annehmen. Wir
sollen tun, was Maria tat: Sie bewahrte das alles in ihrem Herzen. Nach diesen
Überlegungen zum Tagesevangelium müssen wir uns aber noch dem Fest der heiligen Familie
zuwenden, das die Kirche am Sonntag nach Weihnachten feiert. Dieses Fest ist eine
ziemlich moderne Einrichtung, nicht so wie sehr viele katholische Dinge, die auf uralte
Zeiten zurückgehen. Die besondere Verehrung der „Heiligen Familie“ beginnt erst in
der Neuzeit. Im 17. Jahrhundert ist sie vereinzelt nachzuweisen. Sie nimmt ihren Aufschwung
erst im 19. Jahrhundert. 1844 wurde die „Bruderschaft von der Heiligen Familie“ in
Lüttich gegründet. Papst Leo XIII. hat die Verehrung der Heiligen Familie besonders
gefördert. Regional und in Ordensgemeinschaften gab es seit Ende des 19. Jh. ein liturgisches
"Fest der Heiligen Familie". Erst 1920 hat Papst Benedikt XV. das Fest auf den Sonntag
nach Weihnachten fest gelegt. Es ist leicht zu sehen, dass die Verehrung der heiligen
Familie zusammenhängt mit dem Zerfall der traditionellen Familie. Als die Familie
durch den Zerfall des Bauernstandes und die Industrialisierung gefährdet wurde, hat
sich die Kirche besonders bemüht, die Familien zu retten und daher auch die heilige
Familie zu verehren. Daher sind auch Kirchen, die der heiligen Familie geweiht sind,
eher modern. In Barcelona die berühmte Kirche Sagrada Família des Architekten Antoni
Gaudí, in München-Harlaching die Pfarrkirche, eine Pfarrkirche in der Nähe von Bremen
und die Pfarrkirche Heilige Familie am Prenzlauer Berg in Berlin. Leider müssen
wir sagen: heute müsste man jeden Monat ein Fest der heiligen Familie feiern, um die
Familie zu retten. Oder vielleicht doch nicht? Auf dem Feld der Familie tummeln
sich viele problematische Fragen, die auch nicht ganz leicht gelöst werden können.
Wir müssen sie aufzählen: Erstens: junge Menschen sind nüchtern, verlieben sich
nicht mehr so leicht und wagen daher auch nicht die endgültige Bindung. Sie trauen
sich nicht, sich zu binden, sie trauen dem Leben nicht, sie leben nach dem Prinzip:
trail and error. Sie erleben wenig Vorbilder und geglückte Ehen. Zweitens: Männer
und Frauen brauchen eine gute Ausbildung. Und wenn sie diese dann haben, wollen sie
sie auch ausüben und können keine Kinder haben. Drittens: Kinder engen offenbar
den Spielraum der Lebensgestaltung ein. Man ist angebunden. Kinder kosten Zeit und
Geld. Viertens: man kann Kinder planen. Sie kommen nicht mehr so wie früher. Fünftens:
der Staat bevorzugt finanziell Kinderlose, weil sie viel Steuern zahlen. Und doch:
vermutlich sagen auch heute Psychologen und Soziologen: Erwachsene mit kleinen oder
heranwachsenden Kindern und vor allem Großeltern mit Enkeln haben im Schnitt ein erfüllteres
Leben. Wenn sie zurückschauen, müssen sie meistens sagen: mein Leben hat einen Sinn
gehabt. Sicher gibt es auch Kinder, die mehr Sorgen machen als das Gefühl der Zufriedenheit
schenken. Aber ob das die Mehrheit ist? Jedenfalls handelt sich die Gesellschaft
viele Probleme ein, wenn sie keine stabilen Ehen, keine stabilen Familien, keine Kinder
hat und das Kinderhaben erschwert. Wir Christen sollten Gott bitten um die Gnade,
den Segen einer stabilen Ehe wieder zu entdecken, den Segen einer einigermaßen harmonischen
Familie, den Segen von Kindern. Nichts ist für den Christen selbstverständlich. Alles
ist Gnade, auch eine gute, harmonische Ehe, eine gute Familie und Kinder. Alles ist
Gnade. Wir haben sehr viel Grund zu danken und zu bitten. Auch hier gilt: Wer sucht,
der findet, wer bittet, dem wird gegeben. Gott hört die inständige Bitte des Flehenden
– gerade auch für die Familie und die Familien. Amen Pater Eberhard von Gemmingen