Homilie zur Mitternachtsmette in der St. Peters-Basilika
„Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt” (Jes 9, 5). Was Jesaja
von weitem, ins Kommende blickend, Israel zum Trost in seinen Bedrängnissen und Dunkelheiten
sagt, das verkündet der Engel, von dem eine Wolke des Lichts ausgeht, den Hirten als
Gegenwart: „Heute ist euch in der Stadt Davids ein Retter geboren, Christus, der Herr“
(Lk 2, 11). Der Herr ist da. Gott ist von nun an wirklich ein „Gott mit uns“.
Er ist nicht mehr der ferne Gott, den man irgendwie durch die Schöpfung hindurch und
durch das Gewissen von weitem ahnen kann. Er ist in die Welt hereingetreten. Er ist
der Nahe. Der auferstandene Christus hat es den Seinigen – uns – gesagt: „Siehe, ich
bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28, 20). Euch ist der Heiland
geboren: Was der Engel den Hirten verkündete, ruft uns Gott durch das Evangelium und
durch seine Boten jetzt zu. Dies ist eine Nachricht, die uns nicht gleichgültig lassen
kann. Wenn sie wahr ist, ist alles anders. Wenn sie wahr ist, betrifft sie auch mich.
Dann muß auch ich wie die Hirten sagen: Auf, ich will hingehen nach Bethlehem und
das Wort sehen, das da geschehen ist. Das Evangelium erzählt uns nicht umsonst die
Geschichte von den Hirten. Sie zeigen uns, wie wir recht auf die Botschaft antworten,
die auch an uns ergeht. Was also sagen sie uns, diese ersten Zeugen der Menschwerdung
Gottes?
Von den Hirten wird zunächst gesagt, daß sie Wachende waren und
daß die Botschaft sie eben deshalb erreichen konnte, weil sie wach waren. Wir müssen
aufwachen, damit die Botschaft zu uns kommt. Wir müssen wirklich Wachende werden.
Was heißt das? Der Unterschied zwischen einem Träumenden und einem Wachenden besteht
zunächst darin, daß der Träumer sich in einer Sonderwelt befindet. Er ist mit seinem
Ich eingeschlossen in diese Welt des Traums, die eben nur seine ist und ihn nicht
mit den anderen verbindet. Wachwerden bedeutet, Heraustreten aus der Sonderwelt des
Ich in die gemeinsame Wirklichkeit, in die Wahrheit, die allein uns alle eint. Der
Streit in der Welt, die Unversöhnlichkeit miteinander rührt davon her, daß wir eingeschlossen
sind in die eigenen Interessen und Meinungen, in unsere eigene winzige Sonderwelt.
Der Egoismus, der Gruppenegoismus wie der Egoismus des einzelnen hält uns in unseren
Interessen und Wünschen gefangen, die gegen die Wahrheit stehen und uns voneinander
trennen. Wacht auf – sagt uns das Evangelium. Tretet heraus in die gemeinsame große
Wahrheit, in die Gemeinsamkeit des einen Gottes. Wachwerden bedeutet so, den Sinn
für Gott entwickeln. Für seine leisen Winke, mit denen er uns führen will. Für die
vielfältigen Zeichen seiner Gegenwart. Manche Menschen sagen von sich, daß sie „religiös
unmusikalisch“ seien. Die Wahrnehmungsfähigkeit für Gott scheint wie eine Begabung,
die einigen vorenthalten ist. Und in der Tat – die Art unseres Denkens und Handelns,
der Denkstil der heutigen Welt, unsere ganzen Erlebnisfelder sind geeignet, den Sinn
für Gott abzustumpfen, uns für ihn „unmusikalisch“ zu machen. Und doch ist in jeder
Seele verborgen oder offen das Warten auf Gott da, die Fähigkeit, ihm zu begegnen.
Um diese Wachheit, dieses Erwachen für das Eigentliche wollen wir beten, für uns selbst
und für die anderen, für die scheinbar „Unmusikalischen“, in denen doch die Sehnsucht
lebt, Gott möge sich zeigen. Der große Theologe Origenes hat einmal gesagt: Wenn ich
die Gnade hätte zu sehen, wie Paulus sah, könnte ich jetzt (während der Liturgie)
eine große Schar von Engeln schauen (vgl. in Lc 23, 9). In der Tat – in der
heiligen Liturgie stehen Gottes Engel und Heilige um uns. Der Herr selbst ist in unserer
Mitte da. Herr, öffne die Augen unserer Herzen, damit wir wachend und sehend werden
und so auch anderen deine Nähe zu bringen vermögen.
Kehren wir zum
Weihnachtsevangelium zurück. Es erzählt uns, daß die Hirten, nachdem sie die Botschaft
des Engels vernommen hatten, zueinander sagten: „'Kommt, wir gehen nach Betlehem'
… So eilten sie hin“ (Lk 2, 15f). Ja, sie eilten. Was ihnen da verkündet worden
war, war so wichtig, daß sie sofort gehen mußten. In der Tat, was ihnen da gesagt
wurde, ging über alles Gewöhnliche hinaus. Es veränderte die Welt. Der Erlöser ist
geboren. Der erwartete Sohn Davids ist in seiner Stadt zur Welt gekommen. Was konnte
es Wichtigeres geben? Gewiß, auch die Neugier trieb sie, aber doch vor allem die Erregung
über das Große, das gerade ihnen, den Kleinen und scheinbar unwichtigen Menschen,
gesagt worden war. Sie eilten – ohne Aufschub. In unserem durchschnittlichen Leben
ist es nicht so. Die Dinge Gottes erscheinen den meisten Menschen nicht vordringlich,
sie bedrängen uns nicht unmittelbar. Und so sind wir, die Allermeisten, gern bereit,
sie zu verschieben. Zuerst tut man das jetzt und hier Vordringliche. In der Liste
der Prioritäten steht Gott häufig so ziemlich an letzter Stelle. Das kann man immer
noch tun, so meint man. Das Evangelium sagt uns: Gott hat höchste Priorität. Wenn
irgend etwas in unserem Leben Eile ohne Aufschub verdient, dann allein die Sache Gottes.
Ein Grundsatz der Regel des heiligen Benedikt lautet: „Dem Werk Gottes (das heißt
dem Gottesdienst) darf nichts vorgezogen werden.“ Der Gottesdienst ist für die Mönche
die erste Priorität. Alles andere kommt danach. In seinem Kern gilt dieser Satz aber
für jeden Menschen. Gott ist wichtig, das Wichtigste in unserem Leben überhaupt. Diese
Priorität lehren uns die Hirten. Von ihnen wollen wir lernen, uns von all den bedrängenden
Dingen des Alltags nicht erdrücken zu lassen. Von ihnen wollen wir die innere Freiheit
lernen, anderes noch so Wichtiges zurückzustellen, um uns aufzumachen zu Gott, ihn
einzulassen in unser Leben und in unsere Zeit. Zeit, die wir für Gott und von ihm
her für den Nächsten verwenden, ist nie verlorene Zeit. Es ist die Zeit, in der wir
eigentlich leben, in der wir das Menschsein selbst leben.
Manche Kommentatoren
machen darauf aufmerksam, daß als erstes die Hirten, die einfachen Seelen zu Jesus
an die Krippe gekommen sind und dem Erlöser der Welt begegnen dürfen. Die Weisen aus
dem Orient, die Vertreter der Menschen, die Rang und Namen haben, kamen viel später.
Die Kommentatoren fügen hinzu: Dies ist ganz natürlich. Denn die Hirten wohnten nebenan.
Sie brauchten nur eben „hinüberzugehen“ (vgl. Lk 2, 15), wie man zu Nachbarn
hinübergeht. Die Weisen dagegen wohnten weit entfernt. Sie mußten einen langen und
schwierigen Weg zurücklegen, um nach Bethlehem zu kommen. Und sie brauchten Führung
und Weisung dahin. Nun, auch heute gibt es einfache und demütige Seelen, die ganz
nah beim Herrn wohnen. Die sozusagen seine Nachbarn sind und leicht zu ihm hinübergehen
können. Aber die meisten von uns modernen Menschen wohnen weit weg von Jesus Christus,
dem Menschgewordenen, dem zu uns gekommenen Gott. Wir leben in Philosophien, in Geschäften
und Arbeiten, die uns ganz ausfüllen und von denen aus der Weg zur Krippe weit ist.
Gott muß uns auf vielerlei Weise immer wieder anstoßen und nachhelfen, damit wir aus
dem Gestrüpp unseres Denkens und unserer Aufgaben herausfinden, hinfinden zu ihm.
Aber für alle gibt es einen Weg. Allen gibt der Herr die ihnen gemäßen Zeichen. Uns
alle ruft er, damit auch wir sagen können: Auf, gehen wir hinüber nach Bethlehem –
zu dem Gott, der uns entgegengegangen ist. Ja, Gott hat sich auf den Weg zu uns gemacht.
Wir könnten von uns aus nicht zu ihm kommen. Der Weg übersteigt unsere Kraft. Aber
Gott ist abgestiegen. Er geht uns entgegen. Er ist das größere Stück des Weges gegangen.
Nun bittet er uns: Kommt und seht, wie ich euch liebe. Kommt und seht, daß ich da
bin. Transeamus usque Bethleem, heißt es in der lateinischen Bibel. Gehen wir
hinüber. Überschreiten wir uns selbst. Werden wir Wanderer zu Gott hin auf vielfältige
Weise: im inneren Unterwegssein zu ihm. Aber doch auch in ganz praktischen Wegen –
hin zur Liturgie der Kirche, zum Dienst am Nächsten, in dem Christus auf mich wartet.
Hören
wir noch einmal dem Evangelium direkt zu. Die Hirten sagen zueinander, warum sie sich
auf den Weg machen: „…um das Ereignis zu sehen, das uns der Herr verkünden ließ“.
Wörtlich nach dem griechischen Text heißt es: Sehen wir dieses Wort, das da geschehen
ist. Ja, das ist das Neue dieser Nacht: Das Wort kann man ansehen. Denn es ist Fleisch
geworden. Der Gott, von dem man kein Bild machen darf, weil jedes Bild ihn nur verkleinern,
ja, entstellen würde, hat sich selbst zu sehen gegeben in dem, der sein wahres Bild
ist, wie Paulus sagt (2 Kor 4, 4; Kol 1, 15). In der Gestalt Jesu Christi,
in seinem ganzen Leben und Wirken, in seinem Sterben und Auferstehen können wir das
Wort Gottes und so das Geheimnis des lebendigen Gottes selbst ansehen. So ist Gott.
Der Engel hatte den Hirten gesagt: Dies soll euch zum Zeichen sein. Ihr werdet ein
Kind finden, eingewickelt in Windeln, das in einer Krippe liegt (Lk 2, 12.
16). Das Zeichen Gottes, das Zeichen, das den Hirten und uns gegeben wird, ist kein
aufregendes Wunder. Das Zeichen Gottes ist seine Demut. Das Zeichen Gottes ist, daß
er sich klein macht. Daß er zum Kind wird. Daß er sich anrühren läßt und um unsere
Liebe bittet. Wie sehr würden wir Menschen ein anderes, mächtiges und unwidersprechliches
Zeichen der Macht Gottes und seiner Größe wünschen. Aber sein Zeichen lädt uns zum
Glauben und zur Liebe ein und gibt uns darum Hoffnung: So ist Gott. Er hat die Macht,
und er ist die Güte. Er lädt uns ein, ihm ähnlich zu werden. Ja, wir werden Gott ähnlich,
wenn wir uns von diesem Zeichen formen lassen. Wenn wir selbst die Demut und so die
wahre Größe lernen. Wenn wir der Gewalt entsagen und nur die Waffen der Wahrheit und
der Liebe benützen. Origenes hat – einem Wort Johannes des Täufers folgend – das Wesen
des Heidentums im Bild der Steine ausgedrückt gesehen: Heidentum ist Fühllosigkeit,
bedeutet ein Herz aus Stein, das unfähig ist zu lieben und die Liebe Gottes wahrzunehmen.
Von den Heiden sagt er: „Gefühl- und vernunftlos verwandeln sie sich in Steine und
Holz“ (in Lc 22, 9). Christus aber will uns ein Herz aus Fleisch geben. Wenn
wir ihn, den Gott, sehen, der ein Kind geworden ist, geht uns das Herz auf. In der
Liturgie der heiligen Nacht kommt Gott als Mensch zu uns, damit wir wahrhaft menschlich
werden. Hören wir noch einmal Origenes: „In der Tat, was würde es dir nützen, wenn
Christus einst im Fleische kam, wenn er nicht bis in deine Seele kommt? Laßt uns darum
beten, daß er täglich zu uns komme und daß wir sagen können: Ich lebe, aber nicht
mehr ich, sondern Christus lebt in mir (Gal 2, 20)“ (in Lc 22, 3).
Ja,
darum wollen wir in dieser heiligen Nacht beten. Herr Jesus Christus, der du in Bethlehem
geboren wurdest, komm zu uns. Tritt in mich, in meine Seele ein. Verwandle mich. Erneuere
mich. Mache mich und uns alle aus Stein und Holz zu lebendigen Menschen, in denen
deine Liebe gegenwärtig und die Welt verwandelt wird. Amen.