Vor 20 Jahren, im
Dezember 1989, trafen sich hinter verschlossenen Türen im Vatikan der russische Präsident
Michail Gorbatschow und Papst Johannes Paul II. Volle 76 Minuten lang dauerte ihre
Unterredung, über deren Inhalt seinerzeit wenig nach außen drang. Doch nun hat ein
unabhängiges Archiv an der Universität in Washington, das „National Security Archive“,
eine Mitschrift dieses hochinteressanten Gesprächs wenige Wochen nach dem Fall der
Berliner Mauer veröffentlicht.
Die Mitschrift beginnt mit dem Eintreffen der
Dolmetscher. Nach anfänglichen höflichen Worten, in denen aber doch eine große gegenseitige
Wertschätzung durchscheint, stellt Johannes Paul klar:
„Ich möchte mit Ihnen
über die Perestroika reden, die alle Aspekte des Lebens des sowjetischen Volkes -
und darüber hinaus – ergriffen hat. Dieser Prozess erlaubt es uns, gemeinsam nach
einem Weg zu suchen, eine neue Dimension im Zusammenleben der Völker zu öffnen. …
Ihre Bemühungen sind nicht nur für uns von großem Interesse. Wir teilen sie.“
Besonders
interessiert den polnischen Papst, und er spricht es vor Gorbatschow deutlich aus,
die Frage der „Gewissensfreiheit, aus der sich die Religionsfreiheit ergibt“.
„Wir
warten mit Sehnsucht und großer Hoffnung darauf, dass Ihr Land ein Gesetz zur Gewissensfreiheit
verabschiedet. Ein Mensch wird gläubig durch freie Wahl; es ist unmöglich, jemanden
zum Glauben zu zwingen.“
Hier nennt der Papst an erster Stelle die größte Gruppe
der orthodoxen Gläubigen, dann die mit Rom unierten Ostkirchen und die Katholiken.
Das Gesetz müsse für alle Gruppen geeignete Kirchenstrukturen ermöglichen, und Gewissensfreiheit
müsse selbstverständlich auch für Baptisten, Protestanten, Juden und Moslems gelten.
Darauf Gorbatschow:
„Ja, die Moslems spielen eine wichtige Rolle bei uns.“
Dann
kommt Papst Johannes Paul ohne Umschweife auf einen Aufbau diplomatischer Strukturen
zu sprechen.
„Wenn wir unsere Beziehungen institutionalisieren, haben wir
die Möglichkeit, in Kontakt zu bleiben über Menschenrechtsfragen und andere Probleme,
und wir können unsere wechselseitigen Sorgen austauschen. Der Heilige Stuhl unterhält
bereits mit über 100 Nationen diplomatische Beziehungen, darunter vielen muslimischen
Ländern. Diplomatische Beziehungen mit der Sowjetunion wären sehr hilfreich für die
Themen, für die wir uns Lösungsvorschläge von Seiten der politischen Mächte Ihres
Landes erwarten. Wenn möglich, hätte ich in dieser Frage gerne mehr Gewissheit.“
Die
nun folgende Sequenz ist die mit Abstand längste des Gesprächs. Es ist fast ausschließlich
Gorbatschow, der redet, und der Papst, der zuhört. Erster Gesprächspunkt: Perestroika.
„Ich versichere Ihnen, dass unser Weg, den wir das „neue Denken“ nenne, nicht
bloß Mode ist oder ein Versuch, uns Aufmerksamkeit zu sichern. Er ist das Ergebnis
tiefer Überlegungen zur Lage in unserem Land, in Europa und in der Welt. Ich muss
sagen, sobald wir das neue Denken akzeptiert hatten, fiel uns das Atmen leichter.“
Gorbatschow verweist auf den Helsinki-Prozess, das große Debattenforum zwischen
den im Kalten Krieg liegenden Blöcken Ost und West, bei dem es auch um Menschenrechte
und Religionsfreiheit ging. Von vatikanischer Seite aus war hier Kardinal Agostino
Casaroli federführend, der Architekt der vatikanischen Ostpolitik. Auch auf ihn spielt
Gorbatschow an, wenn er nun sagt:
„Der Vatikan kann einen großen Beitrag zur
gemeinsamen Sache leisten. Nicht nur, weil seine Unterschrift auf dem Schlussdokument
von Helsinki steht, sondern auch weil ich weiß, was Sie kürzlich getan haben, um diesen
Prozess zu bereichern.“
Gorbatschow gesteht dem polnischen Papst auch seine
Verwunderung über die Nationen des Westens. Diese behaupteten zwar, sie unterstützten
die Perestroika, aber:
„einige sagen bereits, dass Europa allein auf der Basis
westlicher Werte erneuert werden sollte, und dass alles, was sich davon unterscheidet,
unterdrückt werden sollte. Das ist keine Art, Nationen zu behandeln, ihre Geschichte,
Traditionen und Identitäten.“
Ganz im Vertrauen legt Gorbatschow auch ein konkretes
Beispiel dafür auf den Tisch.
„Einmal versuchte Präsident Reagan, mir zu sagen,
wie in unserem Land die Dinge zu regeln seien. Ich antwortete ihm: Sie sind kein Lehrer
- und ich kein Schüler. Sie sind kein Richter und ich kein Angeklagter. Wenn wir über
Politik reden wollen, also darüber, wie wir unsere Welt zum besseren ändern, dann
müssen wir das schon auf gleicher Augenhöhe tun. Er begriff das und wir waren dann
dazu in der Lage, das zu tun, was wir getan haben.“
Manche Themen der internationalen
Politik seien geradezu eine Frage des Überlebens, betont Gorbatschow vor dem Papst.
Er benennt Atomwaffen, Ökologie, natürliche Ressourcen, die technologische Revolution
– allesamt globale Probleme. Und dann unterstreicht der zukünftige Friedensnobelpreisträger:
„Wir müssen in der Welt von der Konfrontation zur Zusammenarbeit gelangen!“
Er
bedankt sich beim Papst dafür, dass dieser für die Perestroika betet, und fährt fort:
„Wir sind daran interessiert, dass verschiedene Religionen zur Erneuerung
und Humanisierung unserer Gesellschaft beitragen. Aber angesichts der Einzigartigkeit
der Situation ist es notwendig, dass die Dinge nicht politisch instrumentalisiert
werden.“
Und dann legt der russische Präsident dem Papst ans Herz, im Umgang
mit der Orthodoxie besondere Sensibilität walten zu lassen.
„Die Aufnahme
von Beziehungen mit der russisch-orthodoxen Kirche begrüßen wir… Wir würden hoffen,
dass von Ihrer Seite die Anregung kommt, diesen Prozess nicht zum Eskalieren zu bringen,
um bestehende Probleme zu lösen. Und wir würden Sie bitten darauf zu achten, dass
die Struktur der katholischen Kirche in unserem Land sich an die Staatsgrenzen hält.
Ich beabsichtige nicht, Ihnen hier Ratschläge zu erteilen und werde auf Ihre Erfahrung
und Weisheit bauen.“
Moskau werde in Kürze das - vom Papst erwähnte - Gesetz
zur Gewissensfreiheit verabschieden, versichert Gorbatschow.
„Aber ich sage
Ihnen frank und frei, dass viele praktische Angelegenheiten zwischen den Religionsführern
selbst geregelt werden müssen… Die Leidenschaften müssen gedämpft werden, um die Lage
in den Griff zu bekommen.“
Zur Vorstellung des Vatikans, auf russischem Gebiet
zwei katholische Erzbischöfe zu installieren – was Johannes Paul zwei Jahre später
verwirklichen sollte – sagt Gorbatschow:
„Nun, lassen Sie uns das in Erwägung
ziehen. Ich denke, es wäre natürlich.“
Auch für die Aufnahme diplomatischer
Beziehungen zwischen Heiligem Stuhl und Moskau sei er bereit.
„Allerdings:
wir möchten diese Angelegenheit nicht überstürzen. Das wäre gefährlich.“
Sogar
eine Russland-Reise stellt Gorbatschow dem Papst in Aussicht.
„Ich hoffe,
dass nach diesem Treffen unsere Beziehungen neuen Schwung bekommen und ich denke,
dass Sie irgendwann in der Zukunft die UdSSR besuchen könnten.“
Papst Johannes
Paul:
„Wenn das erlaubt würde, wäre ich sehr glücklich, zu reisen.“
Gorbatschow
steigt auf die Bremse:
„Wir sollten das Datum für einen solchen Besuch ruhig
und ohne Eile prüfen.“
Bis heute ist es zu einer Russlandreise des Papstes
nicht gekommen – Klammer zu. Beide Männer unterstreichen dann, wie dankbar sie sind,
eine solch breite Diskussion „in einer so gelassenen Atmosphäre“ (Gorbatschow) führen
zu können. Der Papst weitet nochmals kurz den Blick auf andere Hotspots der internationalen
Politik, abseits des Ost-West-Konflikts:
„Besonders sorge ich mich über die
Lage im Libanon und überhaupt im Nahen Osten; auch teilweise in Indochina und Mittelamerika.
Vielleicht können wir da zusammen etwas tun.“
Und dann wieder zur Sowjetunion
und dem großen Thema der politisch-geistigen Wende:
„Ich bin Ihnen dankbar
für ihre Ausführungen zur Perestroika. Wir sehen das ja von außen. Sie, Herr Präsident,
tragen die Perestroika innen, in Ihrem Herzen und in Ihren Taten. Ich meine verstanden
zu haben, dass die Stärke der Perestroika in ihrer Seele liegt. Sie haben Recht, wenn
Sie sagen, dass Änderungen nicht zu schnell kommen sollen. Und wir sind uns auch darüber
einig, dass nicht nur die Strukturen sich ändern müssen, sondern ebenso das Denken.“
Ein
weiterer Satz des polnischen Papstes, der aus heutiger Sicht prophetisch wirkt:
„Es
wäre falsch, zu verlangen, dass die Veränderungen in Europa und in der Welt dem westlichen
Modelle folgen sollen. Das geht zutiefst gegen meine Überzeugungen. Europa sollte
mit zwei Lungen atmen.“
Gorbatschow:
„Das ist ein sehr passendes Bild.“
Am
Ende bedankt sich Johannes Paul zweimal bei Gorbatschow für die Einladung nach Russland:
„Ich schätze das Gewicht und die Bedeutung dieser Einladung sehr… Ich hoffe,
meine Zeit für einen Besuch wird kommen. Schließlich kenne ich Osteuropa kaum, ich
bin ein Westslawe. Aber vor allem will ich das treffen und spüren, was ich ‚den
östlichen Genius‘ nenne“.
Zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen gibt der
Papst zu erkennen, dass er Gorbatschows Wink zur Langsamkeit gut aufnimmt:
„Das
sollten wir ruhig, sehr ruhig angehen, und auf keinen Fall zulassen, dass diese Themen
politisch missbraucht werden.“
Und abschließend Gorbatschow:
„Danke
für die Inhalte unseres heutigen Gesprächs. Ich zähle darauf, dass dieser Dialog weitergeht.“