Am Sonntag, dem ersten
Adventssonntag, startet das katholische Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat in Bamberg
seine bundesweite Weihnachtskampagne. Beispielland der „Aktion Adveniat 2009“ ist
Haiti. Der kleine Karibikstaat ist das ärmste Land Amerikas. Knapp 80 Prozent der
knapp 9 Millionen Einwohner müssen mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen.
Die Lebenserwartung liegt bei nur 53 Jahren, mehr als die Hälfte der Bevölkerung kann
nicht richtig lesen und schreiben. Die Abholzung von Regenwäldern, die Haiti einst
bedeckten, hat weite Teile des Landes unfruchtbar gemacht. Dazu kommt die Gewalt:
Von der Sklavennation vor der Unabhängigkeit über die Duvalier-Diktatur bis heute
scheint ein Menschenleben dort nicht viel Wert zu sein. – Das meint nach ihrem Besuch
in Haiti Ina Rottscheid. „Gewissen zum Leben erwecken“ Jeden
Nachmittag um 16 Uhr hält Louis Kebreau die Messe. Bis vor die Tür der kleinen Kapelle,
direkt neben dem Bischofssitz stehen die Gläubigen um die Predigt zu hören. Der Erzbischof
von Cap-Haïtiennimmt in seiner Predigt kein Blatt vor den Mund. Er ist schnell
bei den Dingen, die die Menschen in Haiti bewegen: bei Armut, Bildung und der kommenden
Hurrikan-Saison. Kebreau will die Gläubigen aufrütteln, sagt er: „Ich versuche,
das Gewissen der Leute zum Leben zu erwecken, damit sie Verantwortung tragen. Wir
sind in einem Besetzten Land: Keiner sagt, wo’s langgeht, aber man merkt, dass die
Gesellschaftlichen Werte verloren gehen, ohne dass wir dabei an die Zukunft denken.
Die Leute müssen anfangen, sich um die Zukunft Gedanken zu machen.“ Mit den
Besatzern meint der Erzbischof die internationale Gemeinschaft, allen voran die UNO-Mission
MINUSTAH. Ihre Präsenz im Land sieht er kritisch, dennoch setzt er sich mit ihnen
an einen Tisch und überlegt, wie man gemeinsam Haiti voranbringen kann.
Der
Armuts-Rap Auf dem Dach einer halbfertigen, nackten Betonhütte zwischen
verrosteten Drahtgerippen und Schutthalden stehen die Jungs von Déprez-Pop und machen
zusammen Musik. Sie alle leben in Déprez, einem Viertel von Port-au-Prince, nachdem
sie sich benannt haben. Sie singen davon, hier raus zu kommen, es gemeinsam zu schaffen. „Wir
wollen irgendwann mal gerne öffentlich auftreten. Wir singen über unser Leben, über
unsere Situation, über die Armut hier und das, was wir fühlen. Und das Beste, was
dazu passt, ist eben der Rap.“ Für Daniel Clairche und seine Kumpel ist die
Musik wie eine Flucht aus dem Alltag. Alltag in einem der zahlreichen Armenviertel,
die an den Hügeln der haitianischen Hauptstadt hoch wachsen. Zwischen Dreck, beengenden
Hütten, ohne Job und ohne Perspektive. In diesem Viertel lebt auch Pierre Laurent
Pierre. Seit drei Jahren ist er der Obere der Montfortaner, ein Männderorden, der
hier mit Hilfe von Adveniat eine Kirche und ein Pfarrhaus gebaut hat. „Wir arbeiten
hier für die Armen. Wir sind mit ihnen und helfen ihnen. Wir sind es doch, die Priester,
die Kirche, die Gläubigen, die ihnen helfen können aus dieser Armut herauszukommen.“ Laurent
Pierre ist der jüngste Sohn einer Familie mit elf Kindern. Er wuchs in Cap-Haïtien,
im Norden Haitis, auf und er fand seine Berufung zu Beginn der 80er Jahre, die Zeit
der Duvalier-Diktatur, als 10.000 Oppositionelle verfolgt und getötet wurden. Gewalt
ist eine der wenigen Konstanten in der haitianischen Geschichte. Bis heute herrschen
in dem Land Chaos, Korruption, und die Menschenrechte werden tag täglich mit Füßen
getreten. „Die politischen Verhältnisse bringen dieses Klima der Gewalt hervor.
Wenn die Menschen eines aus der Geschichte gelernt haben, dann ist es, dass es nur
ums eigene Überleben und das Recht des Stärkeren geht. Das führt zu einer Realität,
in der jeder für sich alleine ist.“ Doch mit dieser Realität will sich Laurent
Pierre nicht abfinden. Er und sein Orden wollen mit ihrem Leben an der Seite der Armen
ein Beispiel geben für die Solidarität, die ihr Land so dringend braucht. „Das
ist doch die gute Nachricht, dass wir diese Trennung überwinden können. Diese Gemeinschaft
macht uns alle doch viel Stärker. Jeder einzelne entdeckt plötzlich neue Fähigkeiten
an sich. Schritt für Schritt können wir etwas ändern und so Wunder bewirken.“
Die Jugendlichen, die auf den nackten Betondächern Musik machen sind für Laurent Pierre
ein Beispiel für eine solche Gemeinschaft. Und sie sind für ihn auch der Beweis, dass
Haiti eben nicht nur Gewalt, Perspektivlosigkeit und Armut ist. „Das ist Reichtum.
Ein Gruppe Jugendliche, die gemeinsam über ihre Situation singen. Die fast nichts
haben, aber trotzdem etwas machen. Schauen sie sich an, welche Lebensfreude sie ausstrahlen.
Das macht den Reichtum unseres Landes aus.“
Menschenrechte als Optional Zwar
werden heute Oppositionelle nicht mehr systematisch verfolgt, doch Menschenrechte
werden auch dort mit Füßen getreten, wo acht von zehn Bewohnern nicht wissen, was
sie am nächsten Tag essen sollen, sagt Jean-Pierre Hanssens. „Nehmen wir einmal
die sozioökonomischen Rechte. Zum Beispiel das Recht auf Bildung, auf Arbeit, auf
menschenwürdiges Wohnen, auf sanitäre Einrichtungen oder Gesundheitsversorgung. Dann
sind die Menschenrechtsverletzungen hier schon ziemlich massiv und ziemlich offensichtlich.“ Der
belgische Missionar leitet die kirchliche Kommission für Gerechtigkeit und Frieden
„Justitia et Pax“, die Menschenrechtsverletzungen in dem Land dokumentiert und öffentlich
macht. Seit 1973 lebt Per Hanssens in Haiti und er weiß: Die tägliche Gewalt in seinem
Land ist eine Folge der Armut, des unfähigen Staates und der Ansicht vieler Menschen,
dass Politik offenbar nur der Selbstbereicherung einer kleinen Elite dient. In dieser
Situation will Kirche die verlässliche und glaubwürdige Instanz sein. „Auf der
anderen Seite bewundere ich diese Menschen hier auch, die sich trotz der Armut nicht
entmutigen lassen und weitermachen. Ich bin selbst manchmal fassungslos, wie weit
sich die politischen Eliten von ihrem Volk entfernt haben. Aber dafür liebe ich dieses
Land. Weil diese Menschen weiterkämpfen. Das ist bewundernswert und das ist auch die
Geschichte dieses Landes.“
„Wir können das“ Eigentlich
sind es nur 140 Kilometer von Port-au-Prince bis in das Bistum Anse-à-Veau et Miragoâne
im Südwesten des Landes. Doch manchmal ist der Bischof stundenlang unterwegs. Gerade
hat ein Schlagloch das zweite Auto an diesem Tag zur Strecke gebracht. Der Fahrer
hängt mit Kopf über in der Motorhaube. Aber Bischof Pierre-André Dumas steht unaufgeregt
am Straßenrand und telefoniert die umliegenden Gemeinden nach Hilfe ab. Alltag in
einem Land, in dem es nur eine Ampelanlage gibt, das mittlerweile jedes Jahr von Wirbelstürmen
heimgesucht wird und wo man offenbar vor den Schäden und der Zerstörungswut der Wassermassen
resigniert hat. Nach zwei Stunden kommt endlich ein befreundeter Priester aus der
Nachbargemeinde und bringt den Bischof nach Hause. Auch dieses Auto ist im Belastungstest.
Die letzten 20 Kilometer geht es nur noch über Schotterpisten, linige Pfade und durch
Flussbette. Die Strecke ist wie ein Sinnbild für den Zustand Haitis. „Diese
Region hier ist ziemlich vernachlässigt. Die Regierung macht hier schon lange nichts
mehr. Wir hoffen, dass mit dem neuen Bistum auch neue Vitalität hier einkehrt und
dass sich die Regierung endlich an ihre Pflichten erinnert. Darum sind wir doch da.“ Die
Diözese Anse-à-Veau et Miragoâne mit ihren 18 Gemeinden wurde erst im Juli 2008 gegründet.
Mit Unterstützung von Adveniat wurde der Bischofssitz ausgebaut, die Kathedrale renoviert
und Sturmschäden behoben. Und die Errichtung des neuen Bistums hat nicht nur spirituelle
Gründe, sie soll Signalwirkung haben, sagt Dumas. „Wir wollen den Menschen hier zeigen,
wie sie die Energie, die Gott ihnen gegeben hat, wieder finden. Wir können die Resignation,
die Verzweiflung bekämpfen. Sie sollen sehen: Wir sind in der Lage, etwas zu verändern.
Wir können das.“