2009-11-15 16:59:49

Vor dem Welternährungsgipfel: „Hunger ist ein Verteilungsproblem“


RealAudioMP3 Eine Milliarde Menschen auf der Welt leiden Hunger. Das heißt, jeder Sechste ist chronisch unterernährt. Aus Solidarität mit den Ärmsten der Armen hat der Chef der Welternährungsorganisation zu einem Hungerstreik von 24 Stunden aufgerufen. Jacques Diouf nannte diese Aktion – er selbst begann in der Nacht von Freitag auf Samstag mit dem Hungerstreik – ein „symbolisches Zeugnis“. Der Aufruf unmittelbar vor dem Welternährungsgipfel soll Staats- und Regierungschefs wachrütteln. Diese beraten von Montag bis Mittwoch am Sitz der Welternährungsorganisation in Rom über Wege aus der Nahrungsmittelkrise. Zum Auftakt spricht Papst Benedikt XVI.

Der Gipfel soll Hilfen für Kleinbauern in die Wege leiten und eine „Grüne Revolution“ anstoßen. Der Senegalese Diouf propagiert als Direktor der Welternährungsorganisation vor allem für Afrika Biotechnologie und modernes Saatgut.

Die mehr als 60 Staats- und Regierungschefs stehen nächste Woche in Rom unter Zugzwang. Denn bereits auf dem ersten Welternährungsgipfel 1996 und auf dem Millenniumsgipfel war beschlossen worden, den Hunger bis 2015 zu halbieren. Hilfswerke wie Misereor und Brot für die Welt hatten schon dieses Ziel als halbherzig kritisiert. In den letzten Jahren ist die Zahl der unterernährten Menschen schneller gestiegen als die Weltbevölkerung. Um diesen dramatischen Trend zumindest aufzuhalten, wenn nicht gar gegenzusteuern braucht es nach Ansicht der Hilfswerke ein Umdenken: Mehrproduktion alleine reicht nicht, Hunger ist ein Verteilungsproblem. Das sagt Alicia Kolmans. Sie vertritt das katholische deutsche Hilfswerk Misereor beim Welternährungsgipfel in Rom. Birgit Pottler hat mir ihr gesprochen:
 
„Schon damals konzentrierten sich die Gipfelempfehlungen auf eine Steigerung der Landwirtschaftsproduktion, das ist heute leider genauso. Hunger ist aber kein Mengenproblem, sondern in erster Linie ein Verteilungsproblem. Das heißt: beispielsweise Bauern – und Bauern sind ein Großteil der Hungernden – hungern, weil sie nicht genug produzieren können, weil sie beispielsweise keinen oder nicht genug Zugang zu Land haben, keinen Zugang zu Wasser und zu anderen Ressourcen wie Krediten etc. Menschen aus der Stadt zum Beispiel hungern, weil sie nicht genügend Einkommen haben. Es kann genug Nahrung da sein, aber wenn ich kein Geld habe, kann ich mir diese Nahrung nicht leisten. Das sind wesentliche Probleme, und das sollte auf dem Gipfel gesehen werden.“

Haben Sie denn Hoffnung, dass das gesehen wird? Meinen Sie, dass seit dem letzten Gipfel dieser Paradigmenwechsel zumindest angestoßen wurde oder das Bewusstsein in den Köpfen da ist, das ein solches Umdenken nötig ist?

„Leider muss man sagen, dass, wenn man sich den Entwurf für die Gipfelerklärung anschaut, diese Produktivitätsbrille immer noch da ist, d.h. wir müssen mehr produzieren, um den Hunger zu bekämpfen. Das ist eine wesentliche Botschaft des Gipfels. Es wird ausgerechnet, dass wir 70 Prozent mehr Nahrungsmittel produzieren müssen, um die Welt im Jahr 2050 zu ernähren. Das ist das zentrale Argument, und das, so denken wir, ist problematisch. Die Ernährungs- und Landwirtschaftspolitik müsste sich an den Bedürfnissen der Hungernden orientieren, und wenn das passieren würde, sähe manches anders aus. Bei dem Gipfel wird das zum Beispiel nicht gesehen: Wir erwarten eine so genannte neue Grüne Revolution, d.h. Hochertragssaatgut, teilweise auch Gentechnik, sehr moderne Technologien in der Landwirtschaft, die die Ertragssteigerungen unterstützen sollen. Aber genau das sind Technologien, die sich Bauern nicht leisten können. Die Hungernden wird das nicht erreichen.“

Welche Maßnahmen stehen denn nach Meinung der Hilfswerke an? Gerade kirchliche Hilfswerke haben ja aufgrund der verschiedenen Gegebenheiten vor Ort mehr Kontakt zu der einheimischen Bevölkerung und mehr Kenntnis der Bedürfnisse als viele politische Organisationen. Werden Ihre konkreten Vorschläge denn gehört?

„Wir hoffen, dass sie gehört werden. Ganz wichtig ist es, die Kleinbauern in den Mittelpunkt zu stellen, eine nachhaltige Landwirtschaft und eine standortgerechte Landwirtschaft zu fördern. Weiterhin ganz wichtig: Die Stärkung von Landrechten. Sehr zentral ist auch ein Ende von Marktöffnungszwang und Dumping. Ein weiterer Punkt: Sicherheitsnetze entwickeln; das ist auch sehr wichtig, sowohl in Form von sozialen Programmen, beispielsweise auch in einer besseren Vernetzung von städtischer und ländlicher Bevölkerung sowie auch einer Förderung einer städtischen Landwirtschaft. Parallel zum Regierungsgipfel findet ein Gipfel der Zivilgesellschaft statt, wo diese Forderungen noch einmal zum Ausdruck kommen und hoffentlich auch die Entscheidungen der Regierungsvertreter beeinflussen.“

Die Ernährungskrise, die Nahrungsmittelkrise wird durch den Klimawandel noch verschärft – jüngste Beispiele wie in Lateinamerika haben das erneut gezeigt. Nun findet in einigen Wochen der Weltklimagipfel statt: Müsste nicht noch viel mehr Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Institutionen, zwischen den einzelnen Gremien geschehen, wenn wir doch von dieser engen Verbindung zwischen Ernährungskrise und Klimawandel wissen?

„Es passiert schon einiges an Zusammenarbeit, und das Klimathema wird auch ein wichtiger Tagesordnungspunkt beim Welternährungsgipfel sein. Das wesentliche Problem ist, dass auch in der Klimadiskussion die Entscheidungen zu wenig demokratisch sind, d.h. insbesondere die Interessen der Betroffenen nicht genug berücksichtigen. Hoffnung macht in diesem Zusammenhang zum Beispiel die Schaffung des Komitees für Ernährungssicherung, das ist ein Gremium, das jetzt auch beim Welternährungsgipfel abgesegnet werden soll. Es ist vorgesehen, dass in dieser Struktur auch die Zivilgesellschaft eine starke Stimme hat. Also es gibt schon einiges an Zusammenarbeit. Es ist nicht im Wesentlichen ein Problem der Organisationen, sondern ein Problem des politischen Willens, insbesondere des politischen Willens, auch auf die Stimme der Betroffenen zu hören und auf ihre Bedürfnisse einzugehen.“

Politischen Willen, etwas anzupacken und etwas zu verändern, den hat auch Papst Benedikt XVI. in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder gefordert. Jetzt spricht er zum Auftakt des Welternährungsgipfels. Kann den seine Ansprache dem Gipfel so etwas wie eine bestimmte Richtung geben oder bleibt sein Besuch bei der FAO eher eine protokollarische Besonderheit?

„Ich denke, der Papst kann durchaus Einfluss haben. Seine Worte haben Autorität und finden Gehör. In seiner Sozialenzyklika gibt es zum Thema Ernährung und Landwirtschaft auch viele positive Punkte. Es wäre sicherlich gut, wenn er diese bei seiner Rede auf dem Gipfel aufgreifen würde. Er unterstreicht zum Beispiel die Bedeutung des Rechts auf Nahrung und – auch sehr wichtig – die Notwendigkeit, auch die lokalen Gemeinschaften in die Entscheidungen über die Landwirtschaftspolitik mit einzubeziehen. Das sind allein zwei Punkte, die wichtig wären und die sicher auch Einfluss haben können auf die anwesenden Regierungschefs und Minister.“

(rv 12.11.2009 bp)








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