Europa: Vatikandiplomat, „Idee Europas steht auf dem Spiel“
Aldo Giordano ist
Ständiger Beobachter des Heiligen Stuhles beim Europarat in Straßburg – bei jener
Organisation also, dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zugeordnet ist.
Hier eine erste Einschätzung des päpstlichen Diplomaten über das Anti-Kruzifix-Urteil
der Straßburger Richter:
„Es scheint, als ob das Urteil auf der Annahme beruht,
dass es einen Gegensatz gäbe zwischen dem Zeigen des Kreuzes und dem Pluralismus in
der Bildung. Ich glaube, dass dieses Gegensatz völlig ohne Fundament ist. Genauso
nimmt das Urteil an, dass es einen Gegensatz zwischen Kreuz und der Religionsfreiheit
des Individuums gibt, und auch das, scheint mir, muss erst noch bewiesen werden. Wir
haben viel Erfahrung mit religiösen Minderheiten, die in eine Gesellschaft leben mit
einer mehrheitlich anderen Religion – Minderheiten, die dort frei leben.
Ein
zweiter Aspekt ist der, dass die Religion ihre eigene Wichtigkeit in Bildung und Erziehung
hat, sie hat einen großen erzieherischen Wert. Die Religion vermittelt Lehren, die
allen nützen, auch denjenigen, die sich zu einer anderen Religion oder gar keiner
Religion bekennen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt, der von dem Urteil völlig
übergangen scheint, ist, dass das Kruzifix nicht nur Ausdruck einer religiösen Überzeugung
ist, sondern auch Ausdruck einer Geschichte, einer Identität: einer Identität, die,
wie wir wissen, Italien sehr am Herzen liegt. So bestreitet das Urteil schließlich
die Wurzeln der Rechte, wie sie in Italien leben, es verleugnet die Wichtigkeit der
Religion, und besonders des Christentums - das eine große Rolle in der Ausbildung
nationalen und auch einer europäischen Identität gespielt hat. Denken wir nur daran,
wie wichtig das Christentum zum Beispiel für die Zentralität der menschlichen Person
ist, für die Menschenwürde, oder für den Wert eines jeden einzelnen Menschen.
Ich
glaube stattdessen, dass Europa dringend Respekt vor der Lebenswirklichkeit der Menschen
und ihren Traditionen braucht. Unter anderem ist dies klar benannt in der Präambel
der Menschenrechtskonvention und der Konvention, auf der der Europarat gründet. Das
macht ein wenig Angst, denn wenn wir damit weitermachen, diese Identität zu zersetzen,
werden wir schließlich ohne Visionen für die Zukunft dastehen.
Ja, mir scheint
dass Europa die europäische Idee aufs Spiel setzt, und zwar genau in diesem Punkt:
im Kontakt mit den konkreten Menschen. Und das Urteil passt genau auf diese Linie.
Anstatt ein Europa im Dienst an den Menschen, an ihrer Identität und deren Pflege
zu sein, ein Europa, wo Menschen in eine Gemeinschaft genommen werden, wo Identitäten
wertgeschätzt werden, scheint es, dass wir Angst vor den Identitäten haben, Angst
vor den Traditionen und somit einen inhaltsleeren Raum schaffen.
So scheint
mir, dass dieses Urteil sozusagen ‚alt’ ist, dass es nicht das ausdrückt, was die
Menschen in Europa beginnen zu empfinden und auch leben wollen, und was einige Staaten
schon begonnen haben wahrzunehmen. Mir scheint, dass wir mit dem Urteil ein wenig
in der Vergangenheit gefangen sind.“