2009-10-11 11:39:04

„Offene Augen, offene Akten“ – unser Wocheninterview mit Joachim Gauck


RealAudioMP3 Der frühere DDR-Dissident und Leiter der Stasi-Akten-Behörde, Joachim Gauck, hält die Aufarbeitung der DDR-Zeit zwanzig Jahre nach der Wende für im Großen und Ganzen gelungen. Das sagte Gauck, von Haus aus übrigens ein evangelischer Pastor, jetzt bei einem Besuch in Rom im Interview mit Stefan Kempis. Gauck war von 1990 bis 2000 erster Bundesbeauftragter für die Akten der früheren kommunistischen Staatssicherheit.

„Was der Staat getan hat und was das deutsche Parlament getan hat, ist okay: Wir haben daran nicht zu kritteln. Wir waren sofort nach dem Umbruch bereit und hatten dazu parlamentarische Mehrheiten. Offene Augen, offene Akten, offene Debatten – ein bisschen anders als nach dem Kriege! Aber jetzt haben wir nach zwanzig Jahren festgestellt: Nicht jeder will wissen, und nicht jeder möchte schon Aufklärung, sondern so mancher hegt und pflegt sein vorheriges Unwissen. Er war vielleicht auf der Seite derer, die oben waren oder die begünstigt waren in Zeiten des Kommunismus und liebt eine Erinnerung, die nostalgisch ist. Kirche und Universität und öffentlicher Diskurs sollten sich hüten, in diesem nostalgischen Diskurs irgendetwas Gutes zu erkennen! Es ist zwar menschlich, aber es ist gegen die Aufklärung – und deshalb müssen wir unser Wissen über die Fakten und unsere Geduld mit Menschen zusammenbringen und sagen: Hört mal zu, wir können verstehen, dass ihr euch so erinnern wollt, dass es nicht wehtut. Aber wenn wir uns weiterentwickeln und befreien wollen von der Last der Diktatur, dann darf es auch mal wehtun, wenn wir uns erinnern!

Da kann eine Regierung schlecht einwirken; das sind Langzeit-Prozesse. Erst gibt`s Verdrängung, dann gibt es mühsame Anerkennung der Fakten, dann werden die Fakten mit Schuld und Verantwortung verbunden, und dann wird – zuletzt, ganz zuletzt – darüber geredet, was in meiner Familie oder bei mir selber im Argen lag. Deshalb sind diejenigen, die sich mit Aufarbeitungs-Phänomenen beschäftigen, doch der Ansicht: Wir müssen große Zeiträume ansetzen. Immer gibt es schon die Aufgeklärten (das war nach dem Krieg so, das ist jetzt wieder so); dann gibt es die Milieus der Opfer, die wissen eigentlich alles... aber ob die gesamte Gesellschaft alles wissen will, das ist eine zweite Frage!“

Wenn Sie jetzt frühere IM der Stasi auch im Parlament und auch an Parteispitzen sitzen sehen, beschleicht Sie dann nicht der Eindruck: Wir waren vielleicht zu sanft in der Aufarbeitung und haben zu oft auch mal ein Auge zugedrückt um des lieben Friedens willen? Wäre entweder eine richtige „Säuberung“ wie in der Tschechischen Republik oder aber das gegenteilige Modell, eine „Wahrheitskommission“ unter kirchlicher Inspiration wie im Südafrika der Nach-Apartheid-Ära, nicht auch eine Möglichkeit gewesen?

„Die Wahrheitskommission der Südafrikaner war sinnvoll, weil eine schärfere Lösung zugunsten der Unterdrückten einen zu starken Widerspruch im alten weißen Lager ausgelöst hätte; es bestand die Gefahr einer gewaltsamen Auseinandersetzung, und das sollte nicht passieren. Es sollte einen friedlichen Übergang geben, und daher haben die das Menschenmögliche gemacht: nicht einfach Amnesie oder Amnestie per se, sondern nur Amnestie für die Wahrheit. Sehr interessanter Ansatz – wir konnten in Deutschland weiter gehen, weil kein Bürgerkrieg drohte: Wir konnten eine Lösung schaffen, die besser für die Unterdrückten ist, für die Mehrheit der Bevölkerung.

Gleichzeitig haben wir die Säuberung nicht gemacht, das erschien uns unverhältnismäßig – und dadurch ist es nun so, dass in unseren Parlamenten viele ehemalige Kader der früheren kommunistischen Macht sitzen. Solange die sich da als Demokraten zeigen, müssen wir das tolerieren und tolerieren wir es ja auch. Die Mitarbeiter des Geheimdienstes sind ja weitgehend aus dem Öffentlichen Dienst entfernt worden, aber manche IMs, also Spitzel, sind noch weiter tätig. Ja, das können wir bei Parlamentariern nur schwer verhindern... Es gibt auch Übergangsformen: Da sind Menschen tätig geworden als Informanten, doch es sind keine Akten mehr vorhanden, die belegen, dass sie anderen Menschen geschadet haben, und dann ist es schwierig, sie total aus dem Parlament oder aus dem Öffentlichen Dienst zu entfernen. Damit muss man auch leben – das wäre dann ein Beweisnotstand. Ich denke, wir sind mit unserem partiellen Elitenwechsel doch ganz angemessen verfahren, aber es geht den ehemaligen Machthabern eher besser, ja...“

Die südafrikanische Wahrheitskommission hat eine Art öffentlicher Katharsis, öffentlicher Debatte organisiert; da flossen Tränen früherer Geheimdienstverantwortlicher, da kamen die Dinge auch im Fernsehen zur besten Sendezeit auf den Tisch – das ist natürlich eine sehr „undeutsche“ Lösung. Wir haben da unsere Akten, von denen machen wir erstmal eine Kopie... aber wir hatten eigentlich in Deutschland nicht so eine öffentliche Katharsis. Hätten wir die nicht gebraucht? Oder ist es ganz gut, dass es die nicht gegeben hat?

„Nun, das ist vom Staat schwer zu organisieren – und es ist auch nicht ganz einfach gewesen, was die Wahrheitskommission dort gemacht hat. Unsere Lösung hatte den Vorteil: Sie war gut für die Unterdrückten von einst und weniger gut für die Unterdrücker. Die Lösung der Wahrheitskommission war gut, weil sie den öffentlichen Prozess und eine öffentliche Debatte angeregt hat und weil vor dem Forum der Nationen ganz klar gesagt wurde: Die einstigen Herren waren im Unrecht und die einstigen Opfer im Recht. Das war gut! Aber nicht immer hat es funktioniert. Wir dürfen nicht denken, dass es genauso lief, wie das in den Blättern fürs Bürgertum geschrieben war – es war nicht nur positiv rezipiert. In Kabaretts von Kapstadt und Johannesburg wurde die Lösung lächerlich gemacht, weil es oftmals so kam, dass für sehr wenig Wahrheit eines Täters sehr viel Vergebung erfolgte – das heißt: sehr viel Amnestie! Und es waren auch nicht immer alle bereit, die Wahrheit zu sagen, übrigens auch Winnie Mandela nicht, die auf der anderen Seite war und im Grunde genommen von Bischof Tutu angefleht wurde, über ihre Taten doch auch ein bisschen mehr Wahrheit zuzulegen. Also – ideal war das auch nicht!

Aber Sie haben recht: Ein öffentliches Forum, wo Schuld Schuld genannt wird und wo auch ein Täter ehrliche Reue zeigen kann, ist ein ganz, ganz großer Gewinn für eine Übergangsgesellschaft. Wenn dann ein bisschen mehr Ausgleich, also auch Wiedergutmachung für die Opfer von einst, dort möglich gewesen wäre, wäre ich ja auch noch überzeugter.

Aber lassen Sie mich noch ein Problem benennen. Ich habe vor einigen Jahren einen der Miterfinder der Wahrheitskommission getroffen, einen Professor. Er sagte zu mir: Mit der Begrifflichkeit Wahrheits- und Versöhnungskommission haben wir uns eigentlich ein bisschen vergriffen – denn Versöhnung kann doch ein Staat nicht machen! Versöhnung ist letztlich ein theologischer Begriff, und wenn wir ihn auf die Menschen anwenden – die Stifter von Versöhnung im moralischen Bereich sind die beiden, die als Täter und Opfer miteinander zu tun haben. Die Stiftung von Versöhnung im metaphysischen Bereich, das ist das Verhältnis Gott-Mensch und die Kirche, die vielleicht die Gnadenmittel verwaltet – aber das kann ein Staat doch nicht machen! Und dann fragte ich ihn: Ja, wie würden Sie denn heute diese Bezeichnung wählen, wenn Ihnen das mit der Vergebung ein wenig großformatig ist? Und da sagte er: Wir ermöglichen friedliche Koexistenz. Wissen Sie – das kann ein Staat organisieren, ohne sich zu verheben. Dass die tatsächlich unterschiedlichen Gruppen von Tätern und Opfern so miteinander leben, dass sie einander Leben, Würde und Recht lassen. Das fand ich einen sehr, sehr interessanten Hinweis; er bewahrt uns auch davor, dass wir im Grunde politisches Handeln sub specie aeternitatis sehen – als könnten Politiker paradiesische Zustände erzeugen. Nein, das können sie nicht! Sondern sie können in der gefallenen Welt die etwas besseren Lösungsvarianten anbieten. Weiter geht politische Potenz nicht! Das zu begreifen, lehrt uns zweierlei: Dass wir das politische Handeln nicht praktisch dauernd in den Himmel heben, und dass wir auch wissen, dass diejenigen, die von ewigen Werten sprechen, einen Raum haben in der Welt. Sie müssen für diese Dimensionen den Menschen das Sensorium schaffen und sich nicht auch noch in politische Rede verflüchtigen.“

 
(rv 08.10.2009 sk)
 
 







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