„Offene Augen, offene Akten“ – unser Wocheninterview mit Joachim Gauck
Der frühere DDR-Dissident
und Leiter der Stasi-Akten-Behörde, Joachim Gauck, hält die Aufarbeitung der DDR-Zeit
zwanzig Jahre nach der Wende für im Großen und Ganzen gelungen. Das sagte Gauck, von
Haus aus übrigens ein evangelischer Pastor, jetzt bei einem Besuch in Rom im Interview
mit Stefan Kempis. Gauck war von 1990 bis 2000 erster Bundesbeauftragter für die Akten
der früheren kommunistischen Staatssicherheit.
„Was der Staat getan hat
und was das deutsche Parlament getan hat, ist okay: Wir haben daran nicht zu kritteln.
Wir waren sofort nach dem Umbruch bereit und hatten dazu parlamentarische Mehrheiten.
Offene Augen, offene Akten, offene Debatten – ein bisschen anders als nach dem Kriege!
Aber jetzt haben wir nach zwanzig Jahren festgestellt: Nicht jeder will wissen, und
nicht jeder möchte schon Aufklärung, sondern so mancher hegt und pflegt sein vorheriges
Unwissen. Er war vielleicht auf der Seite derer, die oben waren oder die begünstigt
waren in Zeiten des Kommunismus und liebt eine Erinnerung, die nostalgisch ist. Kirche
und Universität und öffentlicher Diskurs sollten sich hüten, in diesem nostalgischen
Diskurs irgendetwas Gutes zu erkennen! Es ist zwar menschlich, aber es ist gegen die
Aufklärung – und deshalb müssen wir unser Wissen über die Fakten und unsere Geduld
mit Menschen zusammenbringen und sagen: Hört mal zu, wir können verstehen, dass ihr
euch so erinnern wollt, dass es nicht wehtut. Aber wenn wir uns weiterentwickeln und
befreien wollen von der Last der Diktatur, dann darf es auch mal wehtun, wenn wir
uns erinnern!
Da kann eine Regierung schlecht einwirken; das sind Langzeit-Prozesse.
Erst gibt`s Verdrängung, dann gibt es mühsame Anerkennung der Fakten, dann werden
die Fakten mit Schuld und Verantwortung verbunden, und dann wird – zuletzt, ganz zuletzt
– darüber geredet, was in meiner Familie oder bei mir selber im Argen lag. Deshalb
sind diejenigen, die sich mit Aufarbeitungs-Phänomenen beschäftigen, doch der Ansicht:
Wir müssen große Zeiträume ansetzen. Immer gibt es schon die Aufgeklärten (das war
nach dem Krieg so, das ist jetzt wieder so); dann gibt es die Milieus der Opfer, die
wissen eigentlich alles... aber ob die gesamte Gesellschaft alles wissen will, das
ist eine zweite Frage!“
Wenn Sie jetzt frühere IM der Stasi auch im Parlament
und auch an Parteispitzen sitzen sehen, beschleicht Sie dann nicht der Eindruck: Wir
waren vielleicht zu sanft in der Aufarbeitung und haben zu oft auch mal ein Auge zugedrückt
um des lieben Friedens willen? Wäre entweder eine richtige „Säuberung“ wie in der
Tschechischen Republik oder aber das gegenteilige Modell, eine „Wahrheitskommission“
unter kirchlicher Inspiration wie im Südafrika der Nach-Apartheid-Ära, nicht auch
eine Möglichkeit gewesen?
„Die Wahrheitskommission der Südafrikaner war
sinnvoll, weil eine schärfere Lösung zugunsten der Unterdrückten einen zu starken
Widerspruch im alten weißen Lager ausgelöst hätte; es bestand die Gefahr einer gewaltsamen
Auseinandersetzung, und das sollte nicht passieren. Es sollte einen friedlichen Übergang
geben, und daher haben die das Menschenmögliche gemacht: nicht einfach Amnesie oder
Amnestie per se, sondern nur Amnestie für die Wahrheit. Sehr interessanter Ansatz
– wir konnten in Deutschland weiter gehen, weil kein Bürgerkrieg drohte: Wir konnten
eine Lösung schaffen, die besser für die Unterdrückten ist, für die Mehrheit der Bevölkerung.
Gleichzeitig haben wir die Säuberung nicht gemacht, das erschien uns
unverhältnismäßig – und dadurch ist es nun so, dass in unseren Parlamenten viele ehemalige
Kader der früheren kommunistischen Macht sitzen. Solange die sich da als Demokraten
zeigen, müssen wir das tolerieren und tolerieren wir es ja auch. Die Mitarbeiter des
Geheimdienstes sind ja weitgehend aus dem Öffentlichen Dienst entfernt worden, aber
manche IMs, also Spitzel, sind noch weiter tätig. Ja, das können wir bei Parlamentariern
nur schwer verhindern... Es gibt auch Übergangsformen: Da sind Menschen tätig geworden
als Informanten, doch es sind keine Akten mehr vorhanden, die belegen, dass sie anderen
Menschen geschadet haben, und dann ist es schwierig, sie total aus dem Parlament oder
aus dem Öffentlichen Dienst zu entfernen. Damit muss man auch leben – das wäre dann
ein Beweisnotstand. Ich denke, wir sind mit unserem partiellen Elitenwechsel doch
ganz angemessen verfahren, aber es geht den ehemaligen Machthabern eher besser, ja...“
Die
südafrikanische Wahrheitskommission hat eine Art öffentlicher Katharsis, öffentlicher
Debatte organisiert; da flossen Tränen früherer Geheimdienstverantwortlicher, da kamen
die Dinge auch im Fernsehen zur besten Sendezeit auf den Tisch – das ist natürlich
eine sehr „undeutsche“ Lösung. Wir haben da unsere Akten, von denen machen wir erstmal
eine Kopie... aber wir hatten eigentlich in Deutschland nicht so eine öffentliche
Katharsis. Hätten wir die nicht gebraucht? Oder ist es ganz gut, dass es die nicht
gegeben hat?
„Nun, das ist vom Staat schwer zu organisieren – und es ist
auch nicht ganz einfach gewesen, was die Wahrheitskommission dort gemacht hat. Unsere
Lösung hatte den Vorteil: Sie war gut für die Unterdrückten von einst und weniger
gut für die Unterdrücker. Die Lösung der Wahrheitskommission war gut, weil sie den
öffentlichen Prozess und eine öffentliche Debatte angeregt hat und weil vor dem Forum
der Nationen ganz klar gesagt wurde: Die einstigen Herren waren im Unrecht und die
einstigen Opfer im Recht. Das war gut! Aber nicht immer hat es funktioniert. Wir dürfen
nicht denken, dass es genauso lief, wie das in den Blättern fürs Bürgertum geschrieben
war – es war nicht nur positiv rezipiert. In Kabaretts von Kapstadt und Johannesburg
wurde die Lösung lächerlich gemacht, weil es oftmals so kam, dass für sehr wenig Wahrheit
eines Täters sehr viel Vergebung erfolgte – das heißt: sehr viel Amnestie! Und es
waren auch nicht immer alle bereit, die Wahrheit zu sagen, übrigens auch Winnie Mandela
nicht, die auf der anderen Seite war und im Grunde genommen von Bischof Tutu angefleht
wurde, über ihre Taten doch auch ein bisschen mehr Wahrheit zuzulegen. Also – ideal
war das auch nicht!
Aber Sie haben recht: Ein öffentliches Forum, wo
Schuld Schuld genannt wird und wo auch ein Täter ehrliche Reue zeigen kann, ist ein
ganz, ganz großer Gewinn für eine Übergangsgesellschaft. Wenn dann ein bisschen mehr
Ausgleich, also auch Wiedergutmachung für die Opfer von einst, dort möglich gewesen
wäre, wäre ich ja auch noch überzeugter.
Aber lassen Sie mich noch ein
Problem benennen. Ich habe vor einigen Jahren einen der Miterfinder der Wahrheitskommission
getroffen, einen Professor. Er sagte zu mir: Mit der Begrifflichkeit Wahrheits- und
Versöhnungskommission haben wir uns eigentlich ein bisschen vergriffen – denn Versöhnung
kann doch ein Staat nicht machen! Versöhnung ist letztlich ein theologischer Begriff,
und wenn wir ihn auf die Menschen anwenden – die Stifter von Versöhnung im moralischen
Bereich sind die beiden, die als Täter und Opfer miteinander zu tun haben. Die Stiftung
von Versöhnung im metaphysischen Bereich, das ist das Verhältnis Gott-Mensch und die
Kirche, die vielleicht die Gnadenmittel verwaltet – aber das kann ein Staat doch nicht
machen! Und dann fragte ich ihn: Ja, wie würden Sie denn heute diese Bezeichnung wählen,
wenn Ihnen das mit der Vergebung ein wenig großformatig ist? Und da sagte er: Wir
ermöglichen friedliche Koexistenz. Wissen Sie – das kann ein Staat organisieren, ohne
sich zu verheben. Dass die tatsächlich unterschiedlichen Gruppen von Tätern und Opfern
so miteinander leben, dass sie einander Leben, Würde und Recht lassen. Das fand ich
einen sehr, sehr interessanten Hinweis; er bewahrt uns auch davor, dass wir im Grunde
politisches Handeln sub specie aeternitatis sehen – als könnten Politiker paradiesische
Zustände erzeugen. Nein, das können sie nicht! Sondern sie können in der gefallenen
Welt die etwas besseren Lösungsvarianten anbieten. Weiter geht politische Potenz nicht!
Das zu begreifen, lehrt uns zweierlei: Dass wir das politische Handeln nicht praktisch
dauernd in den Himmel heben, und dass wir auch wissen, dass diejenigen, die von ewigen
Werten sprechen, einen Raum haben in der Welt. Sie müssen für diese Dimensionen den
Menschen das Sensorium schaffen und sich nicht auch noch in politische Rede verflüchtigen.“