Zum Gedenken an den 9. Oktober: „Option Kerze, Option Gewaltlosigkeit“
„Wir sind das Volk.
Der Ruf aus Leipzig.“ Er war der entscheidende Schritt hin zur Einheit Deutschlands.
Seit Mitte der 80er Jahre hatten zwei Pfarrer aus Leipzig montags zu Friedensgebeten
in die Nikolaikirche eingeladen. Ab September 1989 versammelten sich die Kirchgänger
anschließend zur Montagsdemonstration. Die entscheidende war die vom 9. Oktober. 70.000
DDR-Bürger versammelten sich in der Leipziger Innenstadt. Ein Beitrag von Birgit Pottler: „Noch
nicht den richtigen Stellenwert“ Für die friedliche Revolution und die
danach möglich gewordene deutsche Wiedervereinigung gilt der 9. Oktober „zwar als
der Tag der Entscheidung, hat aber immer noch nicht den Stellenwert in Deutschland,
der ihm zukommen müsste“, sagt 20 Jahre später Christan Führer, von 1980 bis 2008
Pfarrer in der evangelischen Leipziger Nikolaikirche. Der 9. Oktober – ein Tag
der Europa veränderte: „Das ist ein Tag, den ich tatsächlich auch nie vergessen
werden kann. Herangekommen ist dieser Tag durch eine große Gewalt- und Verhaftungswelle
am 7. Oktober, dem letzten DDR-Feiertag zum 40. Jahrestag.“ Der 9. Oktober
war zunächst geprägt von Spannung und Angst, erzählt Führer im Rückblick, die Stadt
lag wie im Bürgerkrieg, durch anonyme Anrufe hatte er erfahren, dass tausend SED-Genossen
für den Abend in die Kirche beordert waren. Der Pfarrer der Nikolaikirche hatte die
anderen Innenstadtkirchen gebeten, gleichzeitig Friedensgebet zu halten, „damit wir
soviel Menschen wie möglich in den Schutz der Kirchen bekommen, und dass sie die Botschaft
Jesu der Gewaltlosigkeit hören und mit auf die Straße nehmen“. Etwa 8.000 Menschen
waren in die Kirchen gekommen, auf den Straßen warteten rund 70.000. „Option
Kerze“ „Diese Friedensgebete, das bei uns in der Nikolaikirche, das
war so ein unglaubliches Geschehen: Als wir die Tür öffneten, war der Platz voller
Menschen mit Kerzen in der Hand. Und wenn Sie draußen eine Kerze in der Hand haben,
dann brauchen Sie ja beide Hände, sonst verlöscht sie. Sie können nicht noch einen
Knüppel oder einen Stein mitbringen. Option Kerze heißt Option Gewaltlosigkeit.“ Einmalig
in der Geschichte „Und dann“, so Führer weiter, „ist geschehen, was niemand
für möglich hielt: Wir hatten mit der chinesischen Lösung gerechnet wie zuvor am 4.
Juni in Peking, und jetzt kam etwas ganz anderes. Was mich immer wieder beeindruckt:
Die Menschen haben die Bergpredigt von Jesus in zwei Worte gebracht: keine Gewalt.“
„Wir sind das Volk“ wurde nicht nur gerufen, sondern praktiziert, sagt der damalige
Pfarrer der Nikolaikirche. Die Folgen nennt er „einmalig in unserer deutschen Geschichte,
eine friedliche Revolution, die erste, die uns gelungen ist, aus den Kirchen heraus
gewachsen, auf den Straßen realisiert“. Wunder biblischen
Ausmaßes Dass Menschen, die „in zeitweilig militant-atheistischen Weltanschauungsdiktaturen
gelebt haben“ und im Geist erzogen wurden, dass Gewaltlosigkeit nichts als „gefährliche
Illusion“ sei, „plötzlich die Bergpredigt eins zu eins auf der Straße umsetzen und
nicht zurückschlagen“ – Führer stockt auch zwei Jahrzehnte nach den Vorfällen noch
der Atem bevor er weiterspricht, „das ist wirklich ein Wunder biblischen Ausmaßes“.
Erinnerungen
veröffentlicht „Und wir sind dabei gewesen“ betitelt Christian Führer seine
Erinnerungen, die zum zwanzigsten Jahrestag im Ullstein-Verlag erschienen sind. Mit
persönlichen Erlebnissen und Alltagserzählungen blickt der 1943 geborene Sachse zurück
auf die Entwicklung in der DDR und den Jahren nach der Wiedervereinigung: Kindheit,
Studium, Beobachtung durch den Staatssicherheitsdienst, Mahnwachen, Anti-Kriegs- und
Anti-Nazi-Demonstrationen nach 1990, von Weggefährten, von Michail Gorbatschow, von
Rückschlägen und zahlreichen Preisen, die er nie gesucht habe. Der Höhepunkt: „Die
Revolution die aus der Kirche kam“; für Christan Führer eine „Gnade“ und der Untertitel
seines ganz bewusst persönlich gefärbten Wendebuchs. Der Rückblick ist kein Geschichtsbuch,
Auszüge aus Briefen und Reden sowie die Texte der Friedensgebete machen Führers Erinnerungen
zu einer Schatztruhe der Zeitgeschichte. Führer, Christian: Und
wir sind dabei gewesen. Die Revolution, die aus der Kirche kam. Ullstein Buchverlage,
Berlin, 2. Auflage 2009, 335S., 19,90 Euro.