Der frühere DDR-Dissident
und Leiter der Stasi-Akten-Behörde, Joachim Gauck, rät dem Vatikan zu mehr Offenheit,
was die Haltung Pius XII. zum Holocaust betrifft. Auf die Frage, ob der Vatikan seine
Archive zur Zeit des Zweiten Weltkriegs bald freigeben sollte, meinte Gauck:
„Die
Kirche – die Kirchen sollten sich immer fragen, ob Imagepflege das letztgültige Argument
ist, wenn sie Entscheidungen suchen. Ich denke, dass es das nicht ist, um es ganz
deutlich zu sagen! Heutige Verantwortliche in der Kirche mögen sich scheuen, problematische
Unterlagen ihrer Amtsvorgänger und von Bischöfen oder Gemeindegliedern zu veröffentlichen;
das kann man verstehen. Sie haben Sympathie mit ihren Vorgängern und wollen nicht,
dass die in den Schmutz gezogen werden. Aber auf Dauer hilft Wahrheit!“
Gauck,
ein früherer protestantischer Pfarrer, erinnert an das Wort Jesu aus dem Johannesevangelium,
dass die Wahrheit „frei macht“. Natürlich sei dieser Satz nicht in erster Linie politisch
gemeint.
„Aber dieser religiöse Satz hat eben auch im Leben der Menschen
eine Rolle – und auch im öffentlichen, nicht nur im privaten Raum! Es würde nämlich
darauf ankommen, ob eine Kirche, die sich heute diese Offenheit leistet, imstande
ist, die Fehler und Irrtümer – und auch die Schuld! – von Vorgängern öffentlich zu
besprechen. Die Wahrheit von heutigen Akteuren würde darin bestehen, dass sie die
Geschehnisse von einst nicht mehr verbergen, sondern sagen: Ja, es war so – und vielleicht
war es falsch! Vielleicht war es sogar Sünde!“
Der 69-Jährige war bis zum
September 2000 zehn Jahre lang Herr über 180 Regalkilometer Spitzelakten aus der Zeit
der DDR. Er will sich in Sachen Vatikanarchiv nicht detailliert äußern. Doch drängt
er den Vatikan, vor der Wahrheit keine Angst zu haben.
„Immer dann, wenn
wir mit der Wahrheit in die Öffentlichkeit und zu unserem Gegenüber gehen, entstehen
andere Lösungsvarianten, als wenn wir nur deckeln oder Imagepflege betreiben. Also:
Auf der Wahrheit liegt ein Segen! Es liegt oft auch Kampf vor einem, wenn man die
Wahrheit sagt – auch ein Meinungskampf. Aber es löst sich dann leichter! Und deshalb
sind diese Varianten, die dichter an der historischen Wahrheit sind, in der Regel
vorzuziehen.“