„Europa, unsere Chance“ – Kolumne des Monats, von Botschafter Horstmann
Der deutsche Botschafter beim Heiligen Stuhl, Dr. Hans-Henning Horstmann, verfasst
jeden Monat für uns eine Kolumne zu aktuellen Themen. Sein Beitrag für Radio Vatikan
im September trägt den Titel: "Europa: Unsere Chance für die Zukunft". Horstmann geht
darin auf die Reise von Papst Benedikt in die Tschechische Republik am letzten Wochenende
ein. Hier finden Sie den vollen Text des Beitrags.
Sehr verehrte Hörerinnen,
sehr verehrte Hörer,
Benedikt XVI. hat am 26. September 2009 in Prag gesagt:
"Europa ist mehr als ein Kontinent. Es ist ein Zuhause." Als Österreich in der ersten
Jahreshälfte 2006 den EU-Vorsitz hatte, lautete der Arbeitstitel einer Konferenz zur
Subsidiarität in der Europäischen Union: "Europa beginnt zu Hause" und: als ehemaliger
Schüler der Europaschule Luxemburg fühle ich mich in Europa zu Hause.
Europa
hat seine klar definierten geographischen Grenzen. Dennoch: die europäischen Institutionen
haben Mitglieder, deren Staatsgebiet sich auf Asien, Afrika und auch Lateinamerika
bezieht. Ich denke an die zentralasiatischen Mitglieder der OSZE, an die französischen
Überseegebiete im Pazifik und in Lateinamerika, an die spanischen Enklaven in Nordafrika,
an die Europaratsmitglieder Russland und Türkei. Zwar sind die geographischen Grenzen
definiert, aber nicht als Festungsgürtel sondern als territoriale Linien, die in unserer
Zeit der weltweiten Gleichzeit durch Teleinformation und Kommunikation, in unserer
Zeit der Globalisierung ihren traditionellen Abgrenzungscharakter verloren haben.
Dennoch: jede geographische Linie ist auch eine geopolitische Tatsache. Papst Benedikt
XVI. hat in seiner Sozialenzyklika "Deus caritas est" daher zu Recht die primäre Verantwortung
der Nationalstaaten für die Wahrung der Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und
die Verantwortung für Arbeitsplätze eingefordert. Alle drei europäischen Institutionen:
die Europäische Union, der Europarat, die OSZE und ihre souveränen Mitgliedstaaten
stellen sich diesen Herausforderungen.
Von der Unterzeichnung der Römischen
Verträge 1957 bis zur Ratifikation des Vertrages von Lissabon in dieser Woche hat
die Europäische Union den höchsten Grad an Integration - im Vergleich zu den beiden
anderen Institutionen - und an Freizügigkeit erreicht. Die Europäische Union mit ihrer
ausgeprägten Nachbarschaftspolitik gegenüber den Staaten, die nicht Mitglieder der
EU sind und ihrer Heranführungsstrategie für die Staaten, die Mitglieder werden, ist
das Modell eines Friedensprojektes, das auf der Welt einzigartig ist und in vielen
Kontinenten Modellcharakter hat: z.B. der Zusammenschluss der ASEAN-Staaten in Asien
und Mercosur in Lateinamerika.
In der anhaltenden Finanz-, Wirtschaft-
und Vertrauenskrise ist die Europäische Union mit dem Euro- und dem Schengenraum,
mit einer sich verstärkenden Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, vor
allem aber mit seiner sich zumindest auf dem Kontinent verstärkenden ökologischen
und sozialen Marktwirtschaft unsere Chance für die Zukunft.
Die Menschen bleiben
in dieser Krise verunsichert, zum Teil apathisch. Dem will Benedikt XVI. seit Beginn
seines Pontifikates entgegenwirken und dies war auch ein Motiv für seine deutlichen
Worte zu Europa in der Tschechischen Republik.
Kulturen in anderen Kontinenten,
insbesondere in Asien, sind älter als die europäische. Auch deshalb hat sich die Europäische
Union seit 1957 stets den anderen Kontinenten geöffnet, um Barrieren abzubauen, Konflikte
zu verhindern und vor allem interkontinentale Partnerschaften zu fördern. Die Europäische
Union hat mit dieser Politik der Öffnung gerade gegenüber dem Süden nicht nur Erfolg
gehabt. Unser Nachbarkontinent Afrika, den die Europäer kolonialisiert haben, hat,
nachdem die Staaten südlich der Sahara ihre Unabhängigkeit errangen, eine Politik
des europäischen Entwicklungshilfewettbewerbs erleben müssen, der Korruption und Diktaturen
gestützt hat. Die Priester und Ordensschwestern auf dem Lande und in den Industriegebieten
haben die größte Not gelindert. Heute hat dieser Kontinent für den Heiligen Stuhl,
für Deutschland, für Europa und für die Vereinten Nationen besondere Priorität.
Nach
der Wende 1989, als Europa begann, mit zwei Lungen zu atmen, haben wir uns mehr und
mehr auf uns selbst konzentriert. Es ist aber meine feste Überzeugung, dass kein anderer
Kontinent wie Europa und insbesondere die Europäische Union nicht nur die afrikanische
Herausforderung angenommen hat, sondern auch die asiatische. Die transatlantische
Brücke, d.h. Europa, Kanada, USA, erhält zur Zeit neue Pfeiler. Auch die Zusammenarbeit
mit Lateinamerika gewinnt wieder an Attraktion für Europa. Die Europäer wissen: als
exklusiver Club sind wir zum Scheitern verurteilt, als weltoffene Partner können wir
die Krise meistern.
Die Menschen in Deutschland sind zunächst einmal in ihren
Städten und Gemeinden und in ihren Regionen zu Hause. Meine Generation und viele in
Politik, Wirtschaft, im Finanzwesen und in der Kultur wissen um die gemeinsame europäische
Geschichte, das große, reiche europäische christliche Erbe, das uns nicht nur in der
europäischen Zuversicht bekräftigt sondern auch darin, dass wir nur mit einem starken
Europa und nicht einer provinziellen Biedermeierei die globale Krise bestehen werden.
Das Entscheidende für mich ist, dass wir sie gemeinsam bestehen und nicht die nationalen
Reflexe zunehmen - sie sind heute bisweilen größer, als sie es 1957 waren. Die klaren
Aussagen des Papstes zu Europa in Prag sind für die Menschen guten Willens auch Mahnung,
vor allem aber Ermutigung, das europäische Haus zu stärken.