Wir dokumentieren die Ansprache des Papstes an die Akademiker in der Prager Burg in
einer deutschen Übersetzung:
Herr Präsident, sehr geehrte Rektoren und Professoren, liebe
Studenten und Freunde!
Unsere Begegnung an diesem Abend bietet mir eine
willkommene Gelegenheit, meine Wertschätzung für die unersetzliche Rolle der Universitäten
und höheren Bildungseinrichtungen in der Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen. Ich
danke dem Studenten, der mich so freundlich in Ihrer aller Namen begrüßt hat, den
Mitgliedern des Universitätschores für ihre schöne Darbietung und dem geschätzten
Rektor der Karlsuniversität, Herrn Professor Václav Hampl, für seine gehaltvollen
Ausführungen. Der Dienst der akademischen Einrichtungen, die die kulturellen und geistigen
Werte der Gesellschaft pflegen und vermehren, bereichert das intellektuelle Erbe eines
Landes und festigt die Fundamente seiner künftigen Entwicklung. Die großen Veränderungen,
die die tschechische Gesellschaft vor zwanzig Jahren erlebt hat, wurden nicht zuletzt
durch Reformbewegungen ausgelöst, die ihren Ursprung an der Universität und in Studentenkreisen
hatten. Dieses Streben nach Freiheit hat auch weiter das Wirken von Gelehrten geleitet,
deren diakonia der Wahrheit für das Wohlbefinden jeder Nation unerlässlich
ist. Ich spreche zu Ihnen als jemand, der selber Professor war und sich als solcher
für das Recht auf akademische Freiheit und die Verantwortung für einen authentischen
Umgang mit der Vernunft eingesetzt hat – und der jetzt Papst ist, der in seinem Hirtenamt
als eine Stimme der ethischen Reflexion der Menschheit Anerkennung erfährt. Auch wenn
manche behaupten, dass die Fragestellungen der Religion, des Glaubens und der Ethik
keinen Platz im Bereich der Vernunft der Allgemeinheit haben, ist diese Ansicht keineswegs
eine Grundsatzaussage. Die Freiheit, die der Tätigkeit der Vernunft zugrunde liegt
– sei es in einer Universität oder in der Kirche –, hat ein Ziel: Sie ist auf das
Streben nach Wahrheit ausgerichtet und verkörpert als solches einen Grundsatz des
Christentums, das ja die Universität hervorgebracht hat. In der Tat regt der Wissensdurst
des Menschen jede Generation an, den Vernunftbegriff auszuweiten und aus den Quellen
des Glaubens zu trinken. Es war gerade das reiche Erbe der klassischen Weisheit, das
assimiliert und in den Dienst des Evangeliums gestellt worden war, welches die ersten
christlichen Missionare in diese Regionen gebracht haben. Damit wurde die Grundlage
für eine geistige und kulturelle Einheit gelegt, die bis heute fortbesteht. Derselbe
Geist bewegte meinen Vorgänger Papst Clemens VI. zur Gründung der berühmten Karlsuniversität
im Jahr 1347, die bis heute einen wichtigen Beitrag zu größeren akademischen, religiösen
und kulturellen Kreisen in Europa leistet. Die Autonomie einer Universität – genau
wie die einer jeden Bildungseinrichtung – hat einen Sinn, wenn sie der Autorität der
Wahrheit Rechenschaft gibt. Diese Autonomie kann jedoch auf vielerlei Weise durchkreuzt
werden. Die große, für das Transzendente offene Bildungstradition, auf der die Universitäten
in ganz Europa basieren, wurde in diesem und in anderen Ländern durch die reduktive
Ideologie des Materialismus, die Verfolgung der Religion und die Unterdrückung des
menschlichen Geistes systematisch untergraben. Im Jahr 1989 wurde die Welt jedoch
auf dramatische Weise Zeuge des Sturzes einer gescheiterten totalitären Ideologie
und des Sieges des menschlichen Geistes. Die Sehnsucht nach Freiheit und Wahrheit
ist unveräußerlich Teil unseres gemeinsamen Menschseins. Sie kann nie ausgelöscht
werden; und wenn sie geleugnet wird, dann gerät, wie es die Geschichte gezeigt hat,
das Menschsein selbst in Gefahr. Auf diese Sehnsucht versuchen der religiöse Glaube,
die verschiedenen Künste, die Philosophie, die Theologie und andere Wissenschaften
– jeweils mit ihrer eigenen Methode – zu antworten, sowohl auf der Ebene der systematischen
Reflexion als auch auf der Ebene des korrekten Handelns. Sehr geehrte Rektoren
und Professoren, neben Ihrer Forschung gibt es einen weiteren wesentlichen Aspekt
der Mission der Universität, an der Sie mitarbeiten, nämlich die Verantwortung, den
Verstand und das Herz der jungen Menschen von heute auszubilden. Diese ernste Pflicht
ist natürlich nicht neu. Seit der Zeit Platos ist die Erziehung nicht bloß die Ansammlung
von Wissen und Fähigkeiten, sondern paideia, menschliche Bildung in den Schätzen
der intellektuellen Tradition, die auf ein tugendhaftes Leben ausgerichtet ist. Wenn
die großen Universitäten, die im Mittelalter in ganz Europa entstanden sind, mit Zuversicht
auf das Ideal einer Synthese des gesamten Wissens abzielten, so taten sie dies stets
im Dienst einer authentischen humanitas, der Vollkommenheit des Einzelnen in
der Einheit einer wohlgeordneten Gesellschaft. Dasselbe gilt auch heute: Sobald in
den jungen Menschen das Verständnis für die Fülle und die Einheit der Wahrheit geweckt
ist, erfreuen sie sich der Entdeckung, dass die Frage nach dem, was sie wissen können,
das große Abenteuer dessen eröffnet, wie sie sein und was sie tun sollen. Das
Konzept einer integralen Bildung, die auf der Einheit des auf der Wahrheit gegründeten
Wissens basiert, muss wieder gewonnen werden. Es dient als Gegengewicht zu der in
der heutigen Gesellschaft so augenscheinlichen Tendenz zur Fragmentierung des Wissens.
Die massive Zunahme von Information und Technologie bringt die Versuchung mit sich,
die Vernunft vom Streben nach Wahrheit loszulösen. Abgetrennt von der grundlegenden
menschlichen Ausrichtung auf die Wahrheit, beginnt die Vernunft jedoch, die Richtung
zu verlieren: Sie verkümmert entweder unter dem Schein der Bescheidenheit, wenn sie
sich mit dem bloß Unvollständigen und Vorläufigen begnügt, oder unter dem Schein der
Gewissheit, wenn sie glaubt, vor den Anforderungen jener kapitulieren zu müssen, die
fast alles unterschiedslos als gleichwertig ansehen. Der daraus folgende Relativismus
stellt ein dichtes Gestrüpp dar, hinter dem neue Bedrohungen für die Autonomie der
akademischen Einrichtungen lauern können. Die Zeit der Eingriffe von Seiten des politischen
Totalitarismus mag vorbei sein, doch ist es nicht weiterhin so, dass auf der ganzen
Welt der Vernunftgebrauch und die akademische Forschung oft auf subtile und weniger
subtile Weise dazu gezwungen werden, sich dem Druck ideologischer Interessensgruppen
und der Verlockung kurzzeitiger utilitaristischer und pragmatischer Ziele zu beugen?
Was wird passieren, wenn unsere Kultur nur auf Modethemen mit geringem Bezug zu einer
echten historischen intellektuellen Tradition beziehungsweise auf den am lautesten
beworbenen oder am besten finanzierten Ansichten gründet? Was wird passieren, wenn
sie sich in ihrer Angst, einen radikalen Säkularismus zu bewahren, von ihren Leben
spendenden Wurzeln abschneidet? Unsere Gesellschaften werden nicht vernünftiger, toleranter
oder flexibler werden, sondern brüchiger und weniger aufnahmefähig, und es wird ihnen
immer schwerer fallen zu erkennen, was wahr, edel und gut ist. Liebe Freunde,
ich möchte Sie ermutigen, in allem, was Sie tun, dem Idealismus und der Großzügigkeit
der jungen Menschen heute nicht nur mit Studienprogrammen zu begegnen, die ihnen helfen,
erfolgreich zu sein, sondern auch mit der Erfahrung gemeinsamer Ideale und gegenseitiger
Unterstützung bei der großen Aufgabe des Lernens. Die Fähigkeiten zur Analyse und
jene, die zum Aufstellen einer Hypothese nötig sind, bieten gemeinsam mit einer klugen
Kunst der Unterscheidung ein wirksames Gegenmittel gegen die Haltungen der In-sich-Gekehrtheit,
der Teilnahmslosigkeit und sogar der Isolation, die in unseren wohlhabenden Gesellschaften
mitunter auftreten und von denen die jungen Menschen besonders betroffen sind. In
diesem Zusammenhang einer eminent humanistischen Sicht der Aufgabe der Universität
möchte ich kurz die Überwindung des Bruches zwischen Wissenschaft und Religion ansprechen,
die ein zentrales Anliegen meines Vorgängers Papst Johannes Pauls II. war. Er hat,
wie Sie wissen, ein tieferes Verständnis der Beziehung von Glaube und Vernunft angeregt.
Er deutete Glaube und Vernunft als die beiden Flügel, durch die sich der menschliche
Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt (vgl. Fides et ratio, Vorwort). Sie
unterstützen einander und haben ihr je eigenes Tätigkeitsfeld (vgl. ebd., 17),
doch wollen einige sie voneinander trennen. Die Vertreter dieses positivistischen
Ausschlusses des Göttlichen aus der Universalität der Vernunft widersprechen damit
nicht nur einer der tiefsten Überzeugungen gläubiger Menschen, sondern sie durchkreuzen
auch genau jenen Dialog der Kulturen, den sie selber vorschlagen. Eine Vorstellung
von Vernunft, die für das Göttliche taub ist und die Religionen in die Welt der Subkulturen
verweist, ist unfähig, in den Dialog der Kulturen einzutreten, den unsere Welt so
dringend braucht. Letztendlich „erfordert die Treue zum Menschen die Treue zur Wahrheit,
die allein Garant der Freiheit ist“(Caritas in veritate, 9). Dieses
Vertrauen in das menschliche Vermögen, Wahrheit zu suchen, Wahrheit zu finden und
nach der Wahrheit zu leben, führte zur Gründung der großen europäischen Universitäten.
Gewiss müssen wir dies heute neu betonen, damit wir den intellektuellen Kräften den
nötigen Mut für die Entwicklung einer Zukunft wahrer menschlicher Blüte geben, einer
Zukunft, die des Menschen wirklich würdig ist. Mit diesen Gedanken, liebe Freunde,
verbinde ich meine vom Gebet getragenen guten Wünsche für Ihre anspruchsvolle Arbeit.
Ich bete, dass sie immer von einer menschlichen Weisheit inspiriert und geleitet werden,
die wirklich die Wahrheit sucht, die uns frei macht (vgl. Joh 8,32). Ihnen
und Ihren Familien erbitte ich Freude, Frieden und den Segen Gottes.